Damals standen ganze Straßenzüge nahezu leer – die Pjatnizkaja, die Ostoshenka, der Zwetnoi- Boulevard mit seinen Nebenstraßen. Die Stadt konnte einfach kein Geld für die Sanierung auftreiben. Die ehemaligen Bewohner hatten Möbel und Hausrat großenteils zurückgelassen. Manchmal war auch das Türschloss noch intakt[29], und darin steckte der Schlüssel zu einer Zukunft, die gerade zusammenbrach.
XI
Nadja und Wadja hatten zunächst im ehemaligen Wohnheim des Innenministeriums in der Nähe vom Zwetnoi-Boulevard ein Plätzchen gefunden. Es war ein langgezogenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das über die ganze Länge hier und da in Wellen durchhing, fast wie im Hohlkreuz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es das Madrid gewesen, ein billiges Hotel, und verfügte deshalb über ein tristes Korridorsystem. Ein elend langer fensterloser Tunnel wand sich in kleineren und größeren Kurven über mehr als hundert Meter, beleuchtet lediglich von drei trüben Glühbirnen, von denen eine so gut wie kein Licht gab, da sie hinter einer Biegung lag. Nadja fürchtete sich vor dieser Ecke und zerrte Wadja jedes Mal mit, wenn sie auf die Toilette musste. An einigen Stellen lugten im Licht eines Streichholzes Wandmalereien zwischen den abblätternden Farbschichten hervor, wie Fetzen blauen Himmels durch Wolken. Eine im Lubok-Stil* gemalte Spanierin mit großen Augen und einem Fächer war da zu sehen. Ganz in der Nähe war das Vorderteil eines Stiers freigelegt, man sah seinen zur Seite geneigten Kopf mit dem rasenden bordeauxroten Auge. Beim Inspizieren der Korridorwände brannte Nadja eine ganze Schachtel Streichhölzer ab. Mit einem kleinen Holzkeil holte sie die Spanierin unter dem Putz hervor und entdeckte runde rote Schuhe mit dicken Absätzen und blütenweiße Rüschen, die unter einem düsteren lilafarbenen Rock hervorschauten.
In vielen Zimmern lagen Berge von Bauschutt, über die man nur schwer ans Fenster gelangte (man musste sich in geduckter Haltung dicht unter der Decke entlangdrücken); die beiden brachten es tatsächlich fertig, auf der breiten Fensterbank Kopf an Fuß und Fuß an Kopf zu schlafen.
Ein buntes Völkchen hauste in dieser Ruine. Jeder lebte sein eigenes Leben, und im öligen Schummerlicht des Korridors, in dem sie misstrauisch aneinander vorbeischlichen, wirkten sie wie Gespenster. Manchmal erschrak Nadja vor einer Gestalt, die sich von der Wand löste, oder vor einer starren, die sich nicht bewegte – oder als plötzlich die nächste Tür gewaltsam aufflog, ein Schrei ertönte und von dort, die Arme unkontrolliert hochreißend und die Tür, die Gerümpel und einen nackten Körper offenbarte, zuschlagend, ein akkurat gekleideter junger Kerl mit weißen Pupillen und verstörtem Gesicht herausschoss …
Dann zogen sie an den Petrowski-Boulevard.
Von den Kommunenkünstlern mit den vor Glück wild funkelnden Augen, auf deren Etage Nadja und Wadja hausten, bekamen sie den Spitznamen »Elefantis«. Sie hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Offenbar hingen sie in den Augen der mit reger Fantasie gesegneten Künstler träge herum wie niedliche Dickhäuter.
Die Decke war an den Stellen, wo der Putz herunterkam, mit Tarnnetzen abgehängt. Nadja ging allen bescheiden aus dem Weg und setzte sich stets in die dunkelste Ecke. Saß da tagelang, unbemerkt wie ein stilles Mäuschen, verdeckte mit der Hand die glänzenden Augen. Und lächelte mal verlegen oder errötete glühend in plötzlicher Scham.
Putzbrocken fielen in das durchhängende Netz. Das dünne junge Mädchen im langen schwarzen Kleid, das mit einem Bildband in der Hand auf der Fensterbank saß, zuckte zusammen. Nadja betrachtete hingerissen ihre fließende Figur, die auf die Schenkel gelegten Arme, und träumte davon, was die Seiten dieses für sie unsichtbaren Buches wohl bargen – stürzte dann plötzlich zum Sofa, fegte mit der Hand die Putzbröckchen herunter und setzte sich wieder in die Ecke. Dann knarzten wieder die Seiten des dicken Glanzpapiers.
Ein anderes Mal kam plötzlich ein Mädchen ins Zimmer gerauscht, packte mit der einen Hand den Maler Benja am Arm, mit der anderen wühlte sie nervös in der Handtasche, die ihr von den Knien gerutscht war, suchte nach Zigaretten und sah Nadja scheel von der Seite an.
Doch Benja beruhigte sie:
»Schon gut, die gehören zu uns, die sind okay.« Worauf das Mädchen vielsagend schnaubte, ein Streichholz anriss und hervorstieß: »Kuibyschew ist auf Meth!« und sich sofort schnaufend in dichte Rauchschwaden hüllte.
Benja, ein rothaariger Bursche mit Killergesicht, schüttelte den Kopf und ging ins Nebenzimmer, um weiter seine Collagen zu kleben: Wie rasend marschierte er auf und ab, hastete an der Wand entlang und hielt hier und da einen Schnipsel an, um den Kontrast zu prüfen. Er schnitt sie aus farbigem Papier und aus Zeitschriftenabbildungen zurecht, aus Etiketten, Stoffstücken, Federn von Pinguinen und Eiderenten, aus Birkenrinde, Pappe und Wespennestern. Auf seinen großflächigen, schillernden Collagen tummelten sich Raketen und Kosmonauten, Häuser und Kirchen, Traktoren und Türme, Felder und Himmel, Fische und Menschen, Blumen und Dämonen.
Nadja liebte es, Benja zu beobachten, dessen Beschäftigung sie so gut nachvollziehen konnte. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Banknachbarin früher mit der Schere geklappert und Samtpapier zerschnitten hatte …
XII
Wadja hing nicht gerne bei den Künstlern herum. Er kam gegen Abend und traf Nadja beim Tee an, mit dem Benja sie stets bewirtete. Auch für Wadja fiel von Zeit zu Zeit[30] Tee und Zwieback ab. Der wunderliche Benja stellte ihm eine Tasse hin, beugte sich gewaltig zu dem gedrungenen, großköpfigen Wadja hinab, schaute ihm in die undurchdringlichen Augen und fragte drohend:
»Was ist? Bist du auch gut zu deinem Mädchen? Ich warne dich! Mach hier keinen Ärger.«
Nadja wand sich, er hatte so eine laute Stimme, doch Wadja tat, als hätte er ihn nicht bemerkt, als würde dieser Benja für ihn nicht existieren. Wie ein kleiner Bronze- Buddha saß er da mit seinem hohen, welligen Haarschopf, machte einen Buckel und schlürfte mit seinen dicken Lippen pfeifend den Tee.
Eine der wichtigsten Figuren in dieser halblegalen Kreativgemeinschaft war ein Musiker, ein Gitarrist. Die Seiten zupfend, patrouillierte er mit der Gitarre durch die riesige Wohnung, schleifte dabei das Kabel hinter sich her, das ihn mit den weiter entfernt stehenden Boxen verband, die im Takt mit dem Tonabnehmer klirrten und schepperten.
Außerdem lebte dort noch ein unglaublicher Typ, der Nadja zu Tode ängstigte. Wadja hingegen empfand ihm gegenüber eine schwer erklärliche Vertrautheit. Er war ein kleiner, schüchterner Mann mit fahlem, spärlichem Haar und harten Gesichtszügen. Mit einem Auge schielte er schrecklich, und wenn er ging, schwankte er unsicher auf seinen krummen Beinen. Um die Stirn hatte er einen Stoffstreifen gebunden, auf dem, sorgfältig mit Kugelschreiber gemalt, ein verzweigtes Schriftzeichen prangte.
Das eben interessierte Wadja. Zwei Wochen hielt er an sich, dann konnte er nicht mehr. Als Adlerauge (so nannten sie den Mann) an der Stelle vorbeiging, wo Wadja hockte, zog er respektvoll die Brauen hoch und sagte:
»Hör mal, mein Freund, ich frag mich schon die ganze Zeit: Was leuchtet denn da auf deiner Stirn?«
Adlerauge hockte sich folgsam zu Wadja, verschränkte die Beine im Lotussitz, tippte sich mit dem Finger an die Stirn und sagte heiser:
»Das ist der Buchstabe der Elemente. Es steht für Yin und Yang.«
Wadja riss die Augen auf. Adlerauge rührte sich nicht und fügte dann vielsagend hinzu:
»Sehr kompliziert.«
»Erzähl schon, rück raus mit der Sprache.« Wadja nickte ihm zu und legte die Hand ans Ohr.
»Also Folgendes. In jedem Punkt des Universums gibt es Yin und Yang. Weiß und Schwarz. Und die kopulieren. Schau her.« Adlerauge machte mit den Ellbogen ein paar Wellenbewegungen und nickte. »Und so machen sie es an jedem Punkt der Sphäre unseres Daseins. Da. Und dort. Und hier auch. Im Weltall. Überall. Das Weiße – das Yin – befruchtet das Schwarze – das Yang. Und umgekehrt. Das Glück hängt davon ab, wie oft sie es tun.«
Wadja schob Adlerauges Finger beiseite, der die Sicht auf die Hieroglyphe nahm.
»Das heißt, die kopulieren da so richtig?«, fragte Wadja misstrauisch und versuchte zu erfassen, welches bei seinem Gesprächspartner