gebe, mein Begnadigungsrecht zu benützen, während ich, wenn ich es hätte, und zum Glück habe ich es nicht, von meinem Rechte über Leben und Tod Gebrauch machen müßte? . . . Wahrhaftig, Herr Abbé, Sie, der Sie Großjusticiar beim Tribunal der Buße sind, fragen Sie sich selbst und sagen Sie, ob Sie einem so großen Verbrecher, wie es Ihr Vater, ist, andere Worte zu sagen hätten, als die, die einzigen, welche mir mein Herz eingibt: »»Ich rufe aus den Todten die ganze göttliche Barmherzigkeit herab, doch ich muß den Lebenden bestrafend Gerechtigkeit üben.««
»Sire,« rief der Abbé die ehrerbietigen Formeln, die officielle Etiquette vergessend, die der Abkömmling von Ludwig XIV. so streng beobachten ließ, »Sire, enttäuschen Sie sich: es ist nicht der Sohn, der zu Ihnen spricht, es ist nicht der Sohn, der Sie bittet, es ist nicht der Sohn, der Sie anfleht; es ist ein ehrlicher Mensch, der, die Unschuld eines andern Menschen kennend, Ihnen zuruft: Nicht zum ersten Male irrt sich die menschliche Gerechtigkeit, Sire! Sire, erinnern Sie sich an Calas; Sire, erinnern Sie sich an Labarre; Sire, erinnern Sie sich an Lesurques! Ludwig XV., Ihr erhabener Ahn, hat gesagt, er gäbe eine von seinen Provinzen, wenn Calas nicht unter seiner Regierung hingerichtet worden wäre; Sire, ohne es zu wissen, sind Sie im Begriffe, das Beil aus den Hals eines Gerechten fallen zu lassen; Sire, im Namen des lebendigen Gottes sage ich Ihnen, der Schuldige wird gerettet sein, und der Unschuldige wird sterben!«
»Ei! mein Herr,« erwidert der König bewegt, »dann sprechen Sie! so sprechen Sie doch! Kennen Sie den Schuldigen, so nennen Sie ihn mir, oder, ein entarteter Sohn, sind Sie der Henker; ein Vatermörder, sind Sie es, der Ihren Vater tödtet! . . . Auf, sprechen Sie, mein Herr, sprechen Sie! das ist nicht nur Ihr Recht, sondern Ihre Pflicht!«
»Sire, es ist meine Pflicht, zu schweigen,« antwortete der Abbé, dem die Thränen, – die ersten, die er vergossen hatte, – die Augen überflutheten.
»Ist es so, Herr Abbé,« fügte der König, der die Wirkung sah, ohne die Ursache zu begreifen, und sich durch das, was er als eine Halsstarrigkeit des Mönches betrachtete, verletzt zu fühlen anfing; »ist es so, dann erlauben Sie’ mir, mich dem Spruche der Herren Geschworenen zu unterwerfen.«
Und er machte ein Zeichen, das dem Mönche bedeutete, die Audienz sei beendigt.
Doch so gebietend auch die Geberde des Königs war, Dominique gehorchte nicht; er stand nur auf und sprach mit einer ehrerbietigen, aber festen Stimme
»Sire, Eure Majestät hat sich getäuscht: ich verlange nicht oder verlange nicht mehr die Begnadigung meines Vaters.«
»Was verlangen Sie denn?«
»Sire, ich bitte Eure Majestät um einen Aufschub.«
»Um einen Ausschub?«
»Ja, Sire.«
»Von wie viel Tagen?«
Dominique berechnete in seinem Geiste und sprach dann laut:
»Von fünfzig Tagen.«
»Ei!« sagte der König, »das Gesetz bewilligt drei Tage dem Angeklagten, um ein Cassationsgesuch einzureichen, und die Cassation ist immer eine Sache von vierzig Tagen.«
»Je nachdem, Sire; der Cassationshos kann, wenn man ihn drängt, sein Urtheil in zwei Tagen, in einem sogar eben so gut sprechen, als in vierzig, und überdies . . . «
Dominique zögerte.
»Und überdies?« wiederholte der König. »Vollenden Sie Ihren Gedanken.«
»Überdies, Sire, wird mein Vater kein Cassationsgesuch einreichen.« ,
»Wie, das wird Ihr Vater nicht thun?«
Dominique schüttelte den Kopf.
»So will also Ihr Vater sterben?« rief der König.
»Er wird wenigstens nichts thun, um dem Tode zu entkommen.«
»Dann, mein Herr, wird die Gerechtigkeit ihren Lauf haben.«
»Sire,« sprach Dominique, »im Namen Gottes bewilligen Sie einem seiner Diener die Gnade, um die er Sie bittet!«
»Nun wohl, ja, mein Herr, ich werde sie ihm vielleicht bewilligen, doch vor Allem unter einer Bedingung: daß der Verurtheilte nicht der Justiz trotzt. Er reiche sein Cassationsgesuch ein, und ich werde sehen, ob er außer den drei Tagen Frist, die ihm das Gesetz bewilligt, die vierzig Tage Ausschub bekommen soll, die ihm meine Gnade gewähren wird.«
»Es ist mit dreiundvierzig Tagen nicht genug, Sire,« erwiderte Dominique entschlossen; »ich brauche fünfzig.«
»Fünfzig, mein Herr, und wozu?«
»Um eine lange, mühsame Reise zu machen, Sire; um eine Audienz zu erhalten, die ich vielleicht nur schwer erlangen werde; um endlich einen Mann zu überzeugen, der, wie Sie, Sire, vielleicht nicht wird überzeugt sein wollen.«
»Sie machen eine lange Reise?«
»Eine Reise von dreihundert fünfzig Meilen, Sire!«
»Und Sie machen sie zu Fuße?«
»Ich mache sie zu Fuße, ja, Sire.«
»Warum zu Fuße? Sprechen Sie!«
»Weil so die Pilger reisen, welche eine höchste Gnade von Gott zu erbitten haben.«
»Wenn ich aber die Reisekosten tragen würde, wenn ich Ihnen das nöthige Geld gäbe . . . ?«
»Sire, Eure Majestät bewahre das Geld, das sie mir geben würde, für ein frommes Almosen. Ich habe ein Gelübde gethan, zu Fuße und zwar barfuß zu gehen, ich werde zu Fuße und barfuß gehen.«
»Und Sie machen sich anheischig, in fünfzig Tagen die Unschuld Ihres Vaters zu beweisen?«
»Nein, Sire, ich mache mich nicht anheischig, und ich schwöre, daß kein Anderer an meiner Stelle sich hierzu anheischig machen könnte; doch ich versichere, daß ich nach der Reise, die ich unternehme, wenn ich nicht die Mittel habe, die Unschuld meines Vaters zu proclamiren, ich versichere, daß ich den Spruch der menschlichen Gerechtigkeit annehme, und mich darauf beschränke, dem Verurtheilten die Worte des Königs: »»Ich rufe auf Dich die göttliche Barmherzigkeit herab!«« zu wiederholen.«
Eine neue Gemüthsbewegung erfaßte Karl X. Er schaute den Abbé Dominique an, und als er sein offenes, redliches Gesicht sah, drang eine Halbüberzeugung in sein Herz ein.
Unwillkürlich indessen, trotz dieser unwiderstehlichen Sympathie, welche das Gesicht des edlen Mönches einflößte, ein Gesicht, das nur der Reflex seines Herzens war, nahm König Karl X., als wollte er Kräfte gegen das gute Gefühl schöpfen, das sich seiner zu bemächtigen drohte, zum zweiten Male das auf seinem Tische liegende Blatt Papier, auf das er seine Augen geworfen, als ihm der Huissier den Abbé Dominique gemeldet hatte; er richtete rasch wieder einen Blick darauf, und dieser Blick, so rasch er war, genügte, um in ihm den guten Willen zurückzudrängen, der so nur einen ephemeren Ausdruck hatte: von gerührt, wie er war, während er den Abbé Dominique anhörte, wurde er kalt, sorgenvoll, verdrießlich.
Es war wohl Grund vorhanden, verdrießlich. kalt und sorgenvoll zu sein: die Note, welche der König vor Augen hatte, war die kurze Geschichte von Herrn Sarranti und dem Abbé Dominique, zwei Portraits skizziert von Meisterhand, wie sie die Congregation zu skizzieren wußte; – die Biographie von zwei wüthenden Revolutionären.
Die erste war die von Herrn Sarranti. Sie nahm ihn bei seinem Abgange von Paris; sie folgte ihm nach Indien an den Hof von Rundschit Sing, bei seinen Verbindungen mit dem General Lebastard de Prémont, der selbst als entsetzlich gefährlicher Mensch bezeichnet war; sodann von Indien ging sie mit ihm nach Schönbrunn, sie detaillierte die durch die guten Bemühungen von Herrn Jackal gescheiterte Verschwörung, und während sie den General Lebastard jenseits der Wien-Brücke verlor, nahm sie Herrn Sarranti allein wieder auf, um ihn nach Paris zurückzuführen und erst am Tage seiner Verhaftung zu verlassen. Am Rande standen die Worte: »Überdies angeklagt und überwiesen der Verbrechen der Entführung, des Diebstahls und des Mordes, wegen welcher Verbrechen er verurtheilt worden ist.«
Was den Abbé Dominique betrifft, – seine Biographie war nicht minder detailliert. Man nahm ihn beim Austritte aus