Иван Гончаров

Die Schlucht


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sagte er plötzlich, während er nach dem Grunde der Schlucht zeigte und ihren Arm nahm.

      »Ach nein, nein, ich fürchte mich!« sagte sie und wich zitternd zurück.

      »Du fürchtest dich – auch wenn ich mitgehe?«

      »Ja, ich fürchte mich!«

      »Ich werde dich halten, daß du nicht fällst. Glaubst du dich nicht sicher genug an meiner Seite?«

      »O doch, doch, aber ich fürchte mich. Wjerotschka, sehen Sie, die fürchtet sich nicht! Die geht allein dahin, auch wenn es dunkel ist. Dort liegt ein Mörder begraben – aber das macht ihr nichts aus!«

      »Und wenn ich dir sagte: Schließ die Augen, gib mir die Hand und komm mit dahin, wohin ich dich führe – würdest du es tun? Würdest du mir die Hand geben und die Augen schließen?«

      »Ja . . . ich würde es tun, aber . . . das eine Auge würde ich doch ein ganz klein wenig aufmachen . . .«

      »Nun, so versuch’s einmal – schließ die Augen und reich’ mir die Hand! Du wirst sehen, wie sicher und wie vorsichtig ich dich hinunterführen werde – gar keine Furcht wirst du spüren. Nun – vertrau’ dich mir an, schließ ruhig die Augen!«

      Sie schloß die Augen, doch so, daß sie ihn sehen konnte, und kaum hatte er ihre Hand ergriffen und einen Schritt vorwärts getan, kaum sah sie, daß er im Abstieg begriffen war und sie selbst am Rande des Abhangs stand, als sie plötzlich sich losmachte und ihm ihre Hand entriß.

      »Um nichts in der Welt geh’ ich mit, um nichts in der Welt!« rief sie laut lachend und quiekend. »Kommen Sie, es ist Zeit, daß wir nach Hause gehen! Tantchen wird schon warten. Was soll’s also zu Mittag geben?« fragte sie – »essen Sie gern Makkaroni mit frischen Pilzen?«

      Er antwortete nicht und sah sie nur immer voll Entzücken an.

      »Was für ein prächtiges Mädchen bist du doch! Eine ganze, reine Natur! Und diese Treue, diese Anhänglichkeit an die Tante – wirklich ein Fund für einen Künstler! Die Natürlichkeit selbst!«

      Er küßte ihre Hand.

      »Was Sie nicht alles an mir zu rühmen wissen! Aber wohin wollen Sie denn?«

      Sie erhielt keine Antwort. Sie trat zwei Schritte näher an den Rand des Abhangs hin, blickte ängstlich hinunter und sah, wie sich dort unten geräuschvoll das Buschwerk teilte, und wie Raiski auf den Vorsprüngen und Vertiefungen der steil abfallenden Wand wie auf großen Treppenstufen hinabsprang.

      »Wie ihm daß nur Vergnügen machen kann!« sagte sie innerlich erbebend und machte kehrt, um heimzugehen.

      Viertes Kapitel

      Raiski ging um die ganze Stadt herum und kletterte am entgegengesetzten Ende der Schlucht, ganz weit entfernt von seinem Gute, wieder den Abhang hinauf. Von der Höhe aus schritt er dann wieder abwärts, nach der Vorstadt zu. Die ganze Stadt lag wie auf der flachen Hand vor ihm ausgebreitet.

      Ein seltsames Gefühl ergriff ihn, als er so, von alten, fast bis in die Kindheit zurückreichenden Erinnerungen bestürmt, auf diesen kunterbunten Haufen von Häusern, Häuschen und Hütten niederschaute, die bald in dichten Gruppen zusammengedrängt waren, bald auf den Höhen oder in den Niederungen zerstreut lagen, hier am Rande des Abhangs hinliefen, dort sich nach der Tiefe der Schlucht hinzogen, die einen mit Balkons, Markisen, Belvederen, die anderen mit Anbauten und Überbauten, mit venetianischen Fensterchen oder kaum bemerkbaren Spalten an Stelle der Fenster, mit Taubenschlägen, Starhäuschen und öden, grasbewachsenen Höfen. Er sah hinab auf die endlos langen, zwischen Zäunen hinlaufenden krummen Gassen, auf die menschenleeren, noch unausgebauten Straßen, die mit hochtönenden Aufschriften, wie »Moskauer Straße«, »Astrachaner Straße«, »Saratower Straße« paradierten und über Basare hinliefen, auf denen Haufen von Bast, von gesalzenen und gedörrten Fischen, Fässer mit Birkenteer und Tische mit großen Kuchen umherstanden; er sah auf die weitgeöffneten Torwege der Einkehrhäuser, aus denen ein penetranter Düngergeruch hervorströmte, und auf die durch die Straßen holpernden Droschken.

      Die Mittagstunde war längst vorüber. Über der Stadt lag eine starre Ruhe, ähnlich der Windstille auf dem Ozean – die Stille des trägen, breiten, vegetierenden Lebens dieser russischen Steppennester, die einem Friedhof weit mehr gleichen als einer von lebendigen Menschen bewohnten Stadt.

      Sie schien gestorben zu sein, oder zu schlafen, oder in dumpfen Träumen befangen. Die offenen Fenster erinnerten an ein starres Gähnen, an einen Mund, der geöffnet ist, aber nicht spricht; kein Atem, kein Pulsschlag war zu spüren. Wohin ist das Leben geflohen? Wo sind die Augen, wo der Mund dieses regungslos daliegenden Körpers? Alles ringsum ist grün, mit bunten Sprenkeln dazwischen, und alles schweigt.

      Raiski schritt durch die Straßen und Gäßchen dahin – nicht ein Windhauch regte sich darin. Der Staub liegt auf den Straßen, schon seit vielen Tagen unberührt; man sieht deutlich die Radspuren der Wagen, die darüber hingefahren sind. Im Schatten des Zaunes ruht da und dort eine Ziege aus, und die Hühner haben sich Höhlen in den Staub gescharrt und sitzen darin ganz still beieinander; nur der Hahn sucht, bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fuße kratzend, in der hohen, dicken Staubschicht nach Nahrung. In den Höfen liegen die Hunde in buntscheckigen Gruppen zu drei und vier nebeneinander, und nur aus Gewohnheit bellen sie von Zeit zu Zeit den einen oder andern der wenigen Passanten an, der sie im übrigen gar nichts angeht.

      Alles erscheint so weit, so öde – wie in der Wüste. Hier und da zeigt sich ein Kopf mit grauem Barte an einem der Fenster, ein rotes Hemd wird sichtbar, träg schauen die Augen nach links und rechts, ein Gähnen folgt, ein Ausspucken, und der Kopf verschwindet wieder.

      Wirft man einen Blick durchs Fenster gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, so erblickt man einen schnarchenden Mann im Schlafrock, auf dem Ledersofa ausgestreckt, und neben ihm auf einem Tischchen den »Stadtanzeiger«, die Brille und eine Karaffe mit Kwas.

      Dort hockt einer stundenlang im Torweg, die Mütze auf dem Kopfe, und schaut träg und gleichgültig nach dem mit Brennesseln bewachsenen Graben und dem Zaun auf der anderen Straßenseite. Eine ganze Weile schon hält er das Taschentuch in den Händen und kann vor lauter Trägheit sich nicht dazu entschließen, seine Nase zu putzen.

      Hier sitzt jemand untätig am Fenster, mit der Pfeife im Munde, und wer auch immer vorübergeht, jeder sieht ihn da sitzen, mit zufriedenem, wunschlosem Gesichte, ohne Spur von Langerweile. An einem anderen Fenster sah Raiski eine ältliche Frau, das Pendant zu dem Manne mit der Pfeife: jahraus, jahrein saß sie da seit langer Zeit in ihrem verlorenen Gäßchen, ohne sich zu rühren, ohne sich aufzuregen, ohne irgendeinen Verkehr mit ihresgleichen zu suchen, ohne etwas zu ahnen von der Unruhe und dem regen Treiben der Großstadt, die die Menschen nur so durcheinanderwirbelt.

      Da und dort sah Raiski, wie er so von Gasse zu Gasse ging, die Leute noch bei Tische, doch stand stellenweise auch schon der Samowar bereit.

      In der menschenleeren Gasse hört man es auf eine Werst hin ganz deutlich, wenn zwei oder drei zusammen sprechen, und was sie sprechen. Hell tönen die Stimmen durch die Gasse, und die Schritte hallen auf dem hölzernen Bürgersteig wider.

      Irgendwo in einem Schuppen wird Holz zerkleinert, ein Ferkel quiekt auf dem Misthaufen; an einem kleinen Fensterchen, fast zu ebener Erde, weht ein Kattunvorhang im Zugwind hin und her und streift die Balsaminen, Maßliebchen und Reseden in den Töpfen auf dem Fensterbrett.

      Hier sitzt, das hübsche, frische Gesicht über eine Näharbeit gebeugt, ein junges Mädchen und ist trotz der einschläfernden Schwüle fleißig am Werke. Sie ist die einzige, die im Hause zu wachen scheint – vielleicht wartet sie, bis draußen auf der Straße ein bekannter Schritt sich vernehmen läßt . . .

      Aus den offenen Fenstern eines Hauses tönt wohl ein ganzes Hundert jugendlich heller, buchstabierender Stimmen: es bedurfte nicht erst der Aufschrift über der Tür des Hauses, um dem Wanderer anzuzeigen, daß er eine Schule vor sich habe.

      Weiter kam Raiski an einen Neubau: Balken, Sparren und Späne lagen in Haufen umher, und um eine riesige hölzerne Schüssel waren die Zimmerleute gelagert. Ein großer Brotlaib, kleingeschnittener Lauch in der mit Kwas gefüllten Schüssel und ein Stück Salzfisch