Оскар Уайльд

Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe)


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sagte er, »kennst du mich nicht mehr?«

      »Kommen Sie nicht herein!« sagte sie und suchte ihm den Eintritt zu verwehren. »Gehen Sie fort. Fragen Sie nicht weshalb. Kommen Sie nicht herein!«

      »Was ist denn?« rief er aus.

      »Ich weiß es nicht. Es graut mir, daran zu denken. Eilen Sie von hinnen. Hören Sie?«

      Ein Lärm erhob sich im Hause. Sie hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Ein Verzweiflungsruf, so gellend, daß keine Hand das Ohr absperren konnte, erscholl; und Grace – Entsetzen in Gesicht und Haltung – stürzte aus dem Hause.

      »Grace!« Er fing sie mit den Armen auf. »Was ist los? Ist sie tot?«

      Sie machte sich frei, als wollte sie ihm ins Gesicht schauen, und sank bewußtlos vor ihm zu Boden.

      Eine Anzahl Menschen kam aus dem Hause gerannt. Darunter der Vater, der ein Papier in der Hand hielt.

      »Was gibt es?« stöhnte Alfred und wandte seinen Blick verzweifelt von Gesicht zu Gesicht, indessen er neben der Ohnmächtigen kniete. »Will mich niemand anblicken? Will niemand mit mir sprechen? Kennt mich denn niemand? Ist keine Lippe vorhanden, die mir verrät, was passiert ist?«

      Ein Geraune ward hörbar: »Sie ist fort!«

      »Fort!« wiederholte er.

      »Geflüchtet, lieber Alfred!« sagte der Doktor mit gebrochener Stimme und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Geflüchtet aus dem Vaterhaus. Heute nacht! Sie sagt, sie hätte selbständig und einwandfrei gewählt – bittet, wir möchten ihr verzeihen – und ist geflüchtet.«

      »Mit wem? Wohin?« fragte er hastig unterdrückt.

      Er sprang auf, als ob er ihr folgen wollte. Aber als sie ihm aus dem Weg wichen, sah er verstört um sich, wankte ein paar Schritte zurück und sank wieder nieder. Er blieb neben Grace knien und ergriff eine ihrer kalten Hände.

      Große Verwirrung und Aufregung hatten Platz gegriffen, aber ohne Sinn und Ziel. Einige eilten auf verschiedenen Straßen nach, andere holten Pferde oder Fackeln herbei, andere redeten laut miteinander und wandten ein, daß man nicht die geringste Spur hätte. Einige traten auf ihn zu und versuchten ihn zu trösten. Andere bedeuteten ihm, daß Grace in das Haus geschafft werden müsse, aber er duldete es nicht. Er hörte auf niemanden und rührte sich nicht.

      Der Schnee fiel immer dichter. Er sah einmal zum Himmel empor und dachte bei sich, daß diese weiße Asche, die über sein Hoffen und sein Leid gestreut ward, ihr gut stehe. Er schaute umher auf dem weißen Erdboden und dachte daran, daß die Spur von Marions Fuß, kaum eingedrückt, wieder verdeckt werde, und selbst dieses Gedenken an sie nicht von Dauer sein würde. Bei alledem spürte er nichts von dem Wetter und bewegte sich nicht von der Stelle.

      Dritter Teil

       Inhaltsverzeichnis

      Die Welt war seit dieser Nacht der Rückkehr sechs Jahre älter geworden. Es war ein warmer Herbstnachmittag und es hatte stark geregnet. Die Sonne schien plötzlich durch die Wolken, und das alte Schlachtfeld glänzte bei ihrem Anblick von einem grünen Fleck her aufleuchtend, strahlte ihr einen Willkommensgruß entgegen. Dieser Gruß dehnte sich über das ganze Land aus, als ob man ein Freudenfeuer angezündet hätte, das von tausend Höhen her seine Antwort fände.

      Wie schön und herrlich die Landschaft in dem Licht leuchtete! Der Wald, vorher eine dunkle, schwarze Materie, zeigte sein buntes Gewand aus Gelb, Grün, Braun, Rot und seine verschiedenen Gestalten der Bäume, an deren Blättern Regentropfen zitterten und funkelnd herniederfielen. Die sonnige Wiese sah aus, als sei sie noch vor einer Minute blind gewesen und hatte jetzt das Sehvermögen gefunden, mit dem sie zum strahlenden Himmel emporschaute. Getreidefelder, Hecken, Hütten, dichtgedrängte Dächer, der Kirchturm, der Bach, die Mühle, alles leuchtete lächelnd aus der nebligen Dämmerung hervor. Die Vögel sangen erfreulich, die Blumen richteten ihre gesenkten Häupter auf, frische Düfte stiegen aus dem neuerquickten Boden herauf. Die blauen Himmelstreifen aber wurden größer und breiter. Bald erreichten die schrägen Strahlen der Sonne mit unwiderstehlichem Pfeil die vorgelagerte Wolkenwand, die noch zu fliehen zauderte; und ein Regenbogen, ein Inbegriff aller Farben, die Erde und Himmel zierten, wölbte sich im Triumph über den ganzen Horizont.

      In solch einer abendlichen Stunde zeigte eine kleine Schenke an der Straße, hübsch verborgen unter einer großen Ulme mit einer herrlichen Sitzbank um den dicken Stamm, ihr freundliches Äußere dem Reisenden, wie es sich für eine Gastwirtschaft schickt, und lockte ihn mit mancher stummen, aber inhaltsvollen Zusage eines freundlichen Empfangs. Das rotbraune Schild nahm sich mit seinen goldenen, in der Sonne leuchtenden Buchstaben in dem dunkeln Laube des Baumes wie ein fideles Gesicht aus und verhieß gute Bewirtung. Die Tiertränke voll reinen Wassers und auf dem Erdboden davor einige Halme duftenden Heues ließen jedes Pferd, das vorbeikam, die Ohren spitzen. Die roten Vorhänge in den Zimmern des Erdgeschosses und die blütenweißen Gardinen in dem kleinen Schlafkabinett droben winkten mit jedem Lüftchen: Hereinspaziert! Auf den frischgestrichenen grünen Schildern stand mit goldenen Lettern zu lesen von Bier und Ale, guten Weinen und guten Betten, und daneben hing ein ergreifendes Bild von einer braunen überschäumenden Trinkkanne. Auf den Fensterbrettern prangten Blumen in ziegelroten Töpfen, die sich sehr fröhlich von der weißen Front des Hauses abhoben. In dem schattigen Torweg aber entdeckte man noch einzelne Streifen Licht, die um die blitzenden Flaschen und Zinnkrüge spielten.

      In der Tür tauchte jetzt ein Musterbild von einem Wirt auf. Wenn er nämlich auch klein war, so war er doch voll und umfangreich und stand da, mit den Händen in den Taschen und die Beine gerade so weit auseinandergestellt, daß er dadurch volle Zuversicht auf seinen Keller und unbekümmertes Vertrauen – zu sicher und anspruchslos, um als Prahler zu wirken – auf die sonstigen Freuden des Gasthofs auszudrücken vermochte. Das schwere Naß, das von jedem Dinge nach dem starken Regen herniedertropfte, stand ihm recht gut. Nichts rund um ihn war durstig. Einige Dahlien mit schwerem Kopf, die über den Zaun des gutgepflegten Gärtchens lugten, hatten so viel getrunken, wie sie nur vertragen konnten – vielleicht sogar etwas mehr – und waren vom erquickenden Tranke schwer; aber die Hagebutten, der Lack, die Blumen im Fenster und das Laub des alten Baumes waren in der behaglich heitern Stimmung von Leuten, die nur so viel getrunken, wie ihnen bekommt; nämlich gerade so viel, daß sie damit ihre besten Eigenschaften zur Entwicklung bringen konnten. Während sie klare Tropfen auf den Boden sprengten, schienen sie reichlich linde Luft zu spenden, die Gutes erwirkte, wohin sie vordrang, verkümmerte Winkel traf, in die der ernsthaftere Regen nur selten gelangte, und niemandem weh tat.

      Dieser ländliche Gasthof hatte bei seiner Gründung ein außergewöhnliches Wahrzeichen angenommen. Er hieß »Zum Muskatsieb«. Unter diesem Namen stand auf demselben roten Schild im dunkeln Laub und mit den gleichen goldenen Buchstaben: Benjamin Britain.

      Auf einen zweiten Blick und bei genauerer Betrachtung des Gesichts erkannte man, daß niemand anders als Benjamin Britain selbst in der Tür stand – ziemlich gewandelt, aber zu seinem Vorteil; ein recht ansehnlicher und netter Wirt.

      »Mrs. Britain«, bemerkte Mr. Britain und sah die Straße hinab, »bleibt etwas lange. Es ist Teestunde.«

      Weil noch keine Mrs. Britain zu sehen war, bummelte er langsam bis zur Mitte der Straße und sah sich sehr befriedigt das Haus an. »Es schaut ganz wie das Haus aus«, sagte Benjamin, »in dem ich einkehren würde, wenn es nicht mir gehörte.«

      Dann ging er nach dem Gartenzaun und musterte die Dahlien. Sie blickten ihn an, müde und schläfrig mit hängenden Köpfen, die stets nickten, wenn die schweren Regentropfen von ihnen zur Erde fielen.

      »Für euch muß gesorgt werden«, sagte Benjamin. »Ich darf nicht vergessen, sie darauf aufmerksam zu machen. Sie verweilt lange.«

      Mr. Britains bessere Hälfte schien in so hohem Maß seine bessere Hälfte zu sein, daß er ohne sie hilflos und aufgegeben war.

      »Sie hat nicht viel zu erledigen,