Оскар Уайльд

Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe)


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Haus! Wie bin ich froh, daß ich damals kein böses Wort gesagt habe und ihm nichts Böses nachtrug; denn er hat es später herzlich bereut. Wie oft hat er hier gegessen und mir immer wieder gesagt, daß es ihm leid tue! – Zum letztenmal gestern noch, als du nicht da warst. Wie oft hat er hier gesessen und stundenlang von dem und jenem geredet, als ob es ihm wohl tue! – aber eigentlich nur aus Liebe zur einstigen Zeit und weil er wußte, daß sie mich gern gehabt hat, Ben!«

      »Mein Gott, wie hast du das herausbekommen, Clemency?« fragte ihr Mann, ganz erstaunt, daß sie eine Wahrheit klar erkannte, die in seiner philosophischen Vernunft nur gedämmert hatte.

      »Ich weiß es nicht«, sagte Clemency, und pustete über ihren Tee, um ihn abzukühlen. »Himmel! ich könnte es nicht sagen, und wenn man mir eine Belohnung von hundert Pfund verspräche.«

      Er hätte feine philosophischen Gedankengänge wohl noch weiter fortgesetzt, hätte er nicht hinter ihm an der Tür der Gaststube eine substantielle Erscheinung in Gestalt eines Herrn in Trauer, der einen Reitanzug trug, wahrgenommen. Er schien auf ihr Gespräch zu achten und gar nicht die Absicht zu haben, sie zu unterbrechen.

      Clemency erhob sich. Auch Mr. Britain stand auf und begrüßte den Gast. »Wünschen Sie gefälligst hinaufzugehen, Sir? Es ist ein sehr hübsches Quartier oben, Sir.«

      »Ich danke Ihnen«, sagte der Fremde und sah Mrs. Britain aufmerksam an. »Ist es gestattet, hier einzutreten?«

      »O, wenn Sie wünschen«, gab Clemency zur Antwort und öffnete das Schankzimmer. »Was wünschen Sie, Herr?«

      Er hatte den Zettel bemerkt und las ihn jetzt.

      »Ein sehr schönes Grundstück, Herr«, erklärte Mr. Britain.

      Er antwortete nicht, sondern drehte sich um, als er die Lektüre beendet, und schaute Clemency mit der gleichen forschenden Aufmerksamkeit wie zuvor an. »Sie fragten«, sagte er, ohne den Blick von ihr abzuwenden –

      »Was der Herr wünschen«, entgegnete Clemency und sah ihn gleichfalls verstohlen an.

      »Wenn Sie mir einen Schluck Ale geben wollen«, sagte er und trat an einen Tisch am Fenster, »und zwar hierher bringen wollen, ohne daß Sie sich bei Ihrem Tee stören lassen, würde es mir sehr lieb sein.«

      Er nahm ohne weiteres Platz und schaute auf die Landschaft hinaus. Er war ein Mann in der Blüte seines Lebens, gut und kräftig gebaut. Sein sonnengebräuntes Gesicht überschattete dunkles Haar, und er trug einen Schnurrbart. Als man ihm sein Bier gebracht hatte, schenkte er sich ein Glas ein und trank freundlich auf das Wohl des Hauses; als er das Glas wieder niedersetzte, bemerkte er: »Ein neues Haus, nicht wahr?«

      »Nicht gerade neu, Sir«, erwiderte Mr. Britain.

      »Etwa fünf bis sechs Jahre alt«, sagte Clemency, mit ausgesprochener Betonung.

      »Ich glaubte vorhin, als ich eintrat, den Namen Dr. Jeddlers zu hören«, bemerkte der Fremde. »Dieser Zettel erinnert mich an ihn; denn ich weiß durch Zufall von der Angelegenheit durch Hörensagen und gewisse Beziehungen. – Lebt der alte Herr noch?«

      »Gewiß, Herr«, sagte Clemency.

      »Hat er sich sehr verändert?«

      »Seit wann, Herr?« fragte Clemency mit besonderem Ton in der Stimme.

      »Seit seine Tochter – ihn verließ.«

      »Ja! Seitdem hat er sich verändert«, sagte Clemency. »Er ist alt und grau geworden und ist durchaus nicht mehr derselbe Mann; aber ich meine, er hat jetzt einen Trost gefunden. Er hat sich seitdem mit seiner Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich wohl getan. Anfangs war er sehr niedergedrückt, und das Herz konnte sich einem im Leibe umwenden, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schelten hörte. Aber nach einem oder zwei Jahren wurde er ein ganz Anderer und Besserer, und dann begann er, gern von seiner verlornen Tochter zu reden, und sie zu loben und auch die Welt! Und er ward nie müde, zu erklären, unter Tränen zu erklären, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hatte ihr verziehen. Das war um die Zeit von Miß Graces Hochzeit. Du weißt noch, Britain?«

      Mr. Britain erinnerte sich der Geschichte noch sehr gut.

      »Die Schwester ist also verheiratet«, meinte der Fremde. Er schwieg einen Augenblick, bevor er fragte: »Mit wem?«

      Clemency hätte vor Überraschung über diese Frage beinahe das Teebrett umgeworfen.

      »Vernahmen Sie nie davon?« fragte sie.

      »Nie, ich möchte es aber wissen«, antwortete er und goß sich ein neues Glas ein, das er an die Lippen führte.

      »O, es wäre eine lange Geschichte, wenn man sie regelrecht erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf ihre linke Hand, indes sie den linken Ellbogen auf die andere Hand legte und kopfschüttelnd auf die inzwischen verflossenen Jahre zurückschaute, wie man in ein Feuer hineinschaut. »Es wäre eine lange Geschichte.«

      »Aber rasch erzählt?« forschte der Fremde.

      »Rasch erzählt«, wiederholte Clemency in dem gleichen nachdenklichen Ton und anscheinend ohne sich um ihn zu kümmern oder sich bewußt zu sein, daß sie Zuhörer habe, »was wäre da zu sagen? Daß sie gemeinsam bekümmert waren, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen; daß sie sie in guter Erinnerung behielten, ihr keine Vorwürfe machten und sie zu entschuldigen wußten? Das weiß jeder. Ich zum mindesten weiß es, und niemand besser!« setzte Clemency hinzu und wischte sich die Augen mit der Hand.

      »Und dann«, half der Fremde ein – –

      »Und dann«, wiederholte Clemency mechanisch seine Worte, ohne ihre Haltung oder ihre Art zu ändern, »dann fanden sie sich schließlich als Mann und Weib. Sie wurden getraut an ihrem Geburtstag – er jährt sich morgen – in aller Stille, aber zufrieden und glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierten: ›Grace, soll unser Hochzeitstag auf Marions Geburtstag fallen?‹ Und so geschah es.«

      »Und sie leben glücklich zusammen?« fragte der Fremde.

      »Ja«, sagte Clemency. »Nie lebten Eheleute glücklicher. Sie haben keinen Kummer; nur diesen.«

      Sie hob das Haupt, als werde sie plötzlich gewahr, unter welchen Umständen sie an diese Geschehnisse zurückdenke, und warf einen schnellen Blick auf den Fremden. Da sie sah, daß er sein Gesicht dem Fenster zugekehrt hatte, als ob er in der Betrachtung der Aussicht versunken wäre, machte sie ihrem Mann ein paar rasche Zeichen, deutete auf den Anschlag und bewegte die Lippen, als habe sie sehr angelegentlich ein Wort oder einen Satz zu wiederholen. Da sie dabei keinen Laut hören ließ und ihre stummen Gesten wie gewöhnlich sehr verwundersam waren, so brachte dies rätselhafte Betragen Mr. Britain bis zum Rand der Verzweiflung. Er staunte den Tisch an, den Fremden, die silbernen Löffel, seine Frau – folgte ihren Mienen mit Blicken tiefen Erstaunens und größter Ratlosigkeit – fragte sie in der gleichen Sprache, ob sein Besitz oder er in Gefahr sei – beantwortete ihre Zeichen mit andern, die seine tiefste Betroffenheit zum Ausdruck brachten – verfolgte die Bewegung ihrer Lippen – riet halblaut »Milch und Wasser«, »Scheck«, »Maus und Walnuß« und konnte doch über nichts klar werden.

      Clemency gab zuletzt ihre aussichtslose Bemühung auf, rückte etwas näher an den Fremden heran und musterte ihn mit scheinbar gesenkten Augen scharf, während sie eine neue Frage erwartete. Sie brauchte nicht lange zu harren; denn er hob gleich wieder von neuem an.

      »Und was wurde später aus der Tochter, die ihn verließ? Sie kennen sie, meine ich?«

      Clemency schüttelte den Kopf. »Ich hörte«, sagte sie, »Doktor Jeddler solle mehr wissen als er zu wissen vorgebe. Miß Grace hat Briefe von ihr erhalten, in denen sie schreibt, daß es ihr gut gehe und daß sie durch ihre Heirat glücklich geworden sei. Sie hat ihr darauf geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über ihrem Leben und ihrem Geschick, das bis jetzt nicht aufgeklärt ist, und das –«

      Ihre Stimme wurde schwankend und sie stockte.

      »Und das –« fuhr der Fremde fort.

      »Das