Jeremy Bates

SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt)


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38

       Kapitel 39

       Kapitel 40

       Kapitel 41

       Kapitel 42

       Kapitel 43

       Kapitel 44

       Kapitel 45

       Epilog

       Über den Autor

       Leseempfehlungen

       LUZIFER Verlag

      Prolog

      Den Selbstmordwald gibt es tatsächlich. Auf Japanisch lautet sein Name Aokigahara Jukai, was übersetzt »Baummeer« bedeutet. Alljährlich bergen die Behörden an diesem Ort mehr als hundert Tote, überwiegend Erhängte an Bäumen, in mehr oder weniger fortgeschrittenem Zustand der Verwesung. Der Waldboden ist übersät mit verlassenen Zelten, schimmligen Schlafsäcken, Rucksäcken und farbigen Bändern, die man aneinandergebunden mehrere Meilen lang aufspannen könnte. Angeblich gehen die Geister der Selbstmordopfer dort um, und Menschen, die in der Nähe leben, bilden sich nachts nicht selten ein, Schreie zu hören, die sie sich nicht erklären können. Schilder warnen die Besucher davor, die Wanderwege nicht zu verlassen, doch Abenteuerlustige missachten diese Warnung regelmäßig, in der Hoffnung, einen Eindruck des Makabren erhaschen zu können. Die Meisten von ihnen finden wieder heraus, doch einige kehren nie wieder.

      Kapitel 1

      Wir mieteten uns zwei Autos in der Präfektur Yamanashi, wo der Fuji-san beziehungsweise der Fuji steht, wie der Westen den Berg nennt. Wir fuhren dicht hinter den anderen her, die einen Toyota-Minivan hatten, kleiner und klotziger als diejenigen, die man in den Vereinigten Staaten sieht. Er gehörte Honda, einem Büroangestellten. Ich schätze, man hätte Witze darüber reißen können, dass jemand mit diesem Namen einen Toyota fuhr, aber so hieß er eben: Katsuichi Honda. Bei ihm waren Neil Rodgers, ein fünfundfünfzigjähriger Englischlehrer aus Neuseeland und ein Typ namens John Scott. Über ihn wusste ich gar nichts, nur dass er als amerikanischer Soldat in Okinawa stationiert war und meine Freundin Melinda Clement kannte, weil die beiden zusammen zur Highschool gegangen waren.

      Unser Fahrer hieß Tomo Ishiwara. Er war vierundzwanzig Jahre alt, und studierte Psychiatrie, ein seltenes Fach an japanischen Universitäten. Denn im Allgemeinen sprachen die Menschen dort nicht über ihre Probleme; sie ertränkten sie einfach im Alkohol. Einer der ersten Begriffe, die ich nach meiner Ankunft viereinhalb Jahre zuvor in diesem Land lernte, war nomihodai, was im Grunde genommen »trink, soviel du kannst« bedeutet; sei es Shōchū, Sake oder Bier. Manche Tokioter, allesamt gestresste Menschen, ergingen sich allnächtlich darin, und in manchen Fällen war es tatsächlich eine bessere Therapie, als jede Woche zu einem Seelenklempner zu gehen.

      Ich saß vorne, Mel lag mit angezogenen Beinen auf der Rückbank. Am Abend zuvor waren wir zur Geburtstagsparty eines Freundes gegangen, wo sie sich wirklich übel abgeschossen hatte – nicht unbedingt das Klügste, wenn man am nächsten Tag einen Berg besteigen will, und ich hoffte sehr, dass sie auf dem Weg nach oben zurechtkam. Das Wetter bereitete mir allerdings noch größere Sorgen als ihr Kater. Denn als wir an jenem Morgen um zehn Uhr in Tokio aufgebrochen waren, hatte der Himmel bereits trist ausgesehen, wie grauer Filz. Das war andererseits aber typisch und ließ kaum darauf schließen, dass es tatsächlich regnen werde. Als wir die riesige Metropole verlassen hatten, hätte es aber langsam aufklaren müssen. Stattdessen war es aber noch dunkler geworden – Gewitterwolken anstelle hellgrauer. Ich hatte den Eindruck, sie würden sich aufblähen, immer dicker werden und tiefer über die Landschaft herabsinken, die von Reisfeldern und Wald geprägt war. Während der letzten zwei Stunden hatte ich vergeblich darauf gewartet, dass sie sich verziehen würden oder die Decke irgendwo durchbrach, um ein Stück Blau zu zeigen und die Sonne durchzulassen, denn ich glaubte nicht, dass man den Fuji bei Regen besteigen könnte. Dessen Ausläufer waren nämlich mit Vulkanstein übersät, der bestimmt glitschig und gefährlich sein würde. Wenn unsere Jacken und Kleider Nässe abbekamen, könnte diese gegen Abend gefrieren, wenn die Temperaturen abfielen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass wir irgendwann regelrecht durch die Wolken gehen würden. Und was, falls uns dann der Blitz traf? Ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es sein würde, mittendrin zu stehen, während sie sich elektrisch aufluden, aber erbaulich fand ich diesen Gedanken ganz bestimmt nicht.

      Als ich nun durch die Windschutzscheibe auf den legendären Fuji schaute, der in der Ferne aufragte, schüttelte ich ganz leicht den Kopf. Ich hatte mich wirklich fast für alle Eventualitäten vorbereitet – nur nicht auf dieses elende Wetter.

      Wir fuhren noch zehn Minuten auf der Chūō-Autobahn in Richtung Westen, bis wir Kawaguchiko erreichten, einen Touristenort an dem gleichnamigen See am Fuß des Berges. Dort kam es uns wie ausgestorben vor, denn niemand trieb sich auf den Straßen herum, vermutlich wegen des bescheidenen Wetters. Als ich glaubte, Musik zu hören, ließ ich kurzerhand mein Türfenster hinunter. Ich hatte recht. Durch Lautsprecher, die an den Fahrbahnrändern standen, erklangen nostalgisch stimmende Klänge wie in einem Videospiel auf einer 8-Bit-Konsole von Nintendo. Ich fühlte mich sofort an die kitschigen Melodien aus Pokémon oder Final Fantasy erinnert, mit denen man empfangen wurde, wenn man hier ein neues Dorf erreichte.

      So was gibt es auch nur in Japan, dachte ich und es stimmte. Dieses Land war eine komplett andere Welt für mich, völlig fremd und dennoch seltsam reizvoll, weshalb kaum ein Tag verging, an dem ich nicht über irgendeinen Aspekt seiner Kultur oder über die technischen Entwicklungen staunte.

      Mel und ich – Neil im Übrigen auch – arbeiteten alle bei HTE, respektive Happy Time English, einem Privatdienstleister für Englischunterricht. Es handelte sich um das mit weitem Abstand größte Unternehmen seiner Art in Japan und unterhielt landesweit ungefähr viertausend Schulen. Obwohl ihm der zweifelhafte Ruf nachhing, praktisch jeden anzustellen, war es trotzdem ein gutes Sprungbrett, wenn man zum ersten Mal nach Japan reiste, weil man dort wirklich alles abgenommen bekam, angefangen bei einem Visum bis hin zur Suche nach einer komplett möblierten Wohnung. HTE gab sogar einen Lohnvorschuss, falls man ihn benötigte. Und dies traf tatsächlich auf die meisten Bewerber zu, denn dies waren mehrheitlich abgebrannte Referendare, die gerade das College abgeschlossen und nichts beiseitegelegt hatten, und dass, wo das Leben in Japan doch sehr kostspielig werden konnte.

      Mel und ich arbeiteten nun schon knapp vier Jahre dort, aber nach diesem war wahrscheinlich Schluss, denn Mel hatte sich in den Kopf gesetzt, in die USA zurückzukehren, sobald unsere Verträge in drei Monaten ausliefen. Aus diesem Grund hatten wir auch diesen Abstecher zum Fuji organisiert. In Japan zu leben und diesen Berg nicht zu besteigen, wäre das Gleiche gewesen, wie ein langer Aufenthalt in Frankreich ohne Besichtigung des Eiffelturms oder sich in Ägypten nicht durch die Pyramiden führen zu lassen.

      Honda blinkte und nahm die nächste Ausfahrt.

      »Wo will er denn hin?«, fragte ich. Katsuichi Honda ließ sich vorzugsweise am Liebsten mit seinem Nachnamen ansprechen, was unter älteren Japaner so üblich war.

      »Ich weiß nicht«, antwortete Tomo. »Ich folge ihm einfach mal.«

      Wir fuhren nun durch mehrere Seitenstraßen hinter