Jeremy Bates

SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt)


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als im ländlichen Japan erwartet hätte. Der Parkplatz war genauso leer wie die Stadt. Honda hielt vor dem Haupteingang an. Wir blieben direkt hinter ihm stehen.

      »Was glaubst du, will er hier?«, fragte ich.

      Tomo schüttelte seinen Kopf. »Keine Ahnung«, erwiderte er. Er sprach relativ fließend Englisch, auch wenn er ständig Artikel, Präpositionen und Pluralsuffixe unterschlug.

      Ich drehte mich im Sitz um. Mel schlief immer noch tief und fest.

      »Bleib bei ihr«, bat ich Tomo. »Ich schau mal nach, was da los ist.«

      Als ich ausstieg, war die Luft frisch, kalt und roch nach Herbst, meiner Lieblingsjahreszeit. Dabei fühlte ich mich stets in meine Kindheit zurückversetzt, als ich an Halloween Klingeln geputzt und Süßigkeiten gesammelt hatte und Gespenster aus Krepppapier und Baumwollfetzen oder Spinnen aus flauschigen Pfeifenreinigern gebastelt hatte.

      Ich blieb am Van stehen, dessen Insassen bereits ausgestiegen waren und sich streckten. Honda trug eine rote Jacke und eine Kakihose mit Bügelfalten. Er hatte fülliges, schwarzes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute, und trug weit vorne auf seinem flachen Nasenrücken eine Drahtrahmenbrille. Im Rahmen seiner Tätigkeit bei einem japanischen Baukonzern hatte er auf einer Geschäftsreise nach New York City angeblich mal Donald Trump persönlich in dessen Trump Tower getroffen. Dessen Tochter soll angeblich Hondas Verkaufsteam zum Büro ihres Vaters geführt haben. Er behauptet, der pummelige Mann aus Queens mit der schlechten Frisur, sei daraufhin hinter seinem Schreibtisch aufgestanden und habe gefragt: »Ihr Kerle wollt bestimmt ein Foto mit mir machen, oder? Kommt doch rüber zu mir.« Das Klischee vom immerzu knipsenden Asiaten? Oder reiner Größenwahn?

      Neil hatte hellbraune Haare und einen Igelhaarschnitt. Außerdem rasierte er sich nicht gerne, weshalb seine Mundpartie üblicherweise stoppelig war, so wie jetzt. Er trug genauso wie Honda eine Brille, allerdings mit einem modischen schwarzen Rahmen. Rund zwanzig Jahre lebte er nun schon in Japan und die ganze Zeit über, hatte er als Lehrer für Englisch als Zweitsprache gearbeitet. Da er nur selten aus sich herausging, hatten wir uns noch nie zusammengesetzt und tiefsinnige Gespräche geführt, doch seinen Kollegen zufolge war er mit seiner Frau – ebenfalls eine Neuseeländerin – hergezogen, um den Kauf eines Hauses in Wellington zu finanzieren. Dies war zur Zeit des japanischen Wirtschaftshochs gewesen, als der Yen sagenhaft stark und der neuseeländische Dollar entsprechend tief im Kurs gestanden hatte. Irgendwann soll Neil dann aber eine Affäre mit einer zwölf Jahre jüngeren Schülerin angefangen haben, die währenddessen ungefähr zweiundzwanzig gewesen sein dürfte. Jedenfalls hatte seine Frau irgendwann Wind davon bekommen, sich auf die Socken zurück in ihre Heimat gemacht und sich danach scheiden lassen, wobei die gemeinsamen Ersparnisse komplett an sie übergegangen waren. Er hatte Japan deshalb nicht verlassen, sondern sich mit seinem Monatsgehalt über Wasser gehalten, so wie die meisten ausländischen Lehrer ungeachtet ihres Alters und fortan einfach das Leben genossen.

      Aus John Scott, dem Typen von der Army, wurde ich einfach nicht schlau. Er war ein ganzes Stück kleiner als ich, nur knapp 1,55 m groß und stämmiger. Er hatte kurz rasierte Haare mit einem wie am Lineal ausgerichteten Ansatz und ein Allerweltsgesicht. Dazu kornblumenblaue Augen sowie ein kantiges Kinn und eine ebensolche Nase. Vielleicht störte mich auch einfach nur seine Lederjacke. Sie war dünn, dreiviertellang und eher stylish als zweckmäßig. Wer trug denn so ein Ding zum Wandern und Bergsteigen? Möglicherweise lag es auch an seiner widerlichen Überheblichkeit. Als wir ihn vor einer Filiale von Tully's Coffee aufgelesen und uns einander vorgestellt hatten, meinte er plötzlich, allen auf die Schultern klopfen und so tun zu müssen, als würde er uns schon seit Monaten anstatt seit Minuten kennen.

      »Ethos!«, sagte er nun zum Gruß. Ich konnte nur mutmaßen, dass er vergessen hatte, wie ich heiße – Ethan –, oder sollte ich dies als kumpelhaften Spitznamen auffassen?

      »Warum bist du hierher gefahren?«, fragte ich Honda.

      »Es gibt ein Gewitter«, entgegnete er mit einem Blick zum Himmel. Dabei schaute auch ich hoch – der Instinkt des Nachahmens. Die Wolken hingen immer noch tief und waren wie zu erwarten genauso dunkel wie zwei Minuten zuvor, als ich zuletzt hingesehen hatte.

      »Es kann doch sein, dass es wieder wegzieht«, sagte ich zu Neil. »Was meinst du?«

      Er schüttelte den Kopf. »Wetten würde ich nicht darauf.«

      »Dann warten wir eben ab, bis es vorbei ist.«

      »Und wie lange? Ich dachte, wir wollten gleich mit dem Aufstieg anfangen.«

      Die Wege hinauf waren in zehn Streckenpunkte unterteilt, der Erste befand sich jeweils am Fuß und der Letzte auf dem Gipfel des Fujis. Die befestigten Straßen reichten auf allen Routen bis zum Fünften. Ursprünglich wollten wir zu jener am Kawaguchi-See fahren und gegen sechzehn Uhr aufbrechen. Nach einem dreistündigen Marsch hätten wir dann zum Essen und Ausruhen an einer der Berghütten haltgemacht, die überall an den Wegen standen, wären um Mitternacht weitergezogen und idealerweise um etwa vier Uhr morgens kurz vor Sonnenaufgang durch das Shintō-Tor am Gipfel gegangen.

      »Wir könnten doch vielleicht bis ungefähr zehn Uhr in der Stadt bleiben«, fuhr ich fort, »und uns dann auf den Weg nach oben machen.«

      »Ohne Pause die ganze Nacht durchlaufen?«, fragte Neil.

      Ich nickte.

      »Und was sollen wir dann den ganzen Tag über machen?«, wollte Scott wissen. »Herumhocken und labern?« Er hörte sich an, als würde er dies als Bestrafung auffassen.

      »Was haltet ihr von Fuji-Q Highland?«, schlug Honda vor.

      »Dem Vergnügungspark?«, erwiderte ich.

      »Nein danke, ich will den Tag bestimmt nicht in einem Vergnügungspark verbringen«, stellte John Scott klar.

      »Sondern?«, fragte ich.

      »Ich weiß noch nicht, lasst uns weiter überlegen.«

      »In der Gegend hier gibt es auch viele Thermalquellen«, meinte Honda. »Setzen wir uns doch in eine und essen danach Mittag.«

      Ich berichtigte ihn automatisch: »Essen zu Mittag.« Normalerweise tat ich das nur in Klassenzimmern, aber bestimmte Ausdrücke, die die Japaner anscheinend besonders gerne benutzten, fielen mir einfach extrem auf die Nerven, weil sie so unglaublich falsch klangen. Wenn man lange genug unterrichtet, bekommt man im Laufe der Zeit so einige seltsame Dinge zu hören. Einmal habe ich eine hübsche Schülerin gefragt, was sie in der Pause getrunken habe, und sie antwortete »Cock«, also eine vulgäre englische Bezeichnung für Penis. Da ich nicht wusste, was sie eigentlich meinte, hakte ich weiter nach, woraufhin sie mir einen Getränkeautomaten vor dem Gebäude zeigte. Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass sie eigentlich »Coke« für Cola gemeint hatte.

      »Ach ja, zu Mittag«, sagte Honda. »Tut mir leid, das vergesse ich immer wieder.«

      »Ich glaube nicht, dass es mein Ding ist, den ganzen Nachmittag nackt mit ein paar Typen herumzuhängen«, nörgelte John Scott.

      Das war zwar äußerst plump ausgedrückt, aber im Grunde auch das Gleiche, was ich gedacht hatte.

      »Wir könnten doch schon mal zur fünften Station hochfahren«, warf Neil ein. »Schauen wir uns doch dort einfach ein bisschen um.«

      »Und tun dann bitteschön was?«, fragte John Scott. »Dort oben gibt es einen Laden für Touristen, wo man Wanderstöcke kaufen kann, aber das war's dann auch schon.«

      Dies zu hören überraschte mich. »Du bist den Fuji schon einmal hinaufgestiegen?«

      Er nickte. »Mit ein paar Freunden letztes Jahr.«

      »Und warum jetzt wieder?«

      »Warum denn nicht?«

      Das fand ich merkwürdig. Den Fuji zu besteigen war mühsam und anstrengend. Ich kannte niemanden, der es häufiger als einmal getan hatte, schon gar nicht in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Ein altes japanisches Sprichwort traf es auf den Punkt: Den Fuji einmal zu besteigen, ist klug, doch nur ein Narr tut es ein zweites Mal.

      »Noch