Jeremy Bates

SUICIDE FOREST (Die beängstigendsten Orte der Welt)


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sich in den Wipfeln zu einem engmaschigen Geflecht, das viel Sonnenlicht schluckte, weshalb es hier deutlich dunkler war, als wenige Minuten zuvor auf dem Parkplatz – und alles in dieser schattenhaften Welt aus Sepiatönen wirkte verzerrt, urtümlich und einfach … falsch. Besser kann ich es nicht beschreiben: aus dem Ruder gelaufener Wildwuchs. Die Wurzeln der Fichten, Tannen und Kiefern konnten nicht tief reichen, weil der Waldboden unter der dünnen Asche- und Humusschicht aus uneben ausgehärteter Magma bestand, das nach der letzten Eruption des Fujis Anfang des achtzehnten Jahrhunderts hier erkaltet war. Darum wuchsen viele Wurzeln kurzerhand über der Erde, ein Gewirr aus knorrigen Holztentakeln, die vergeblich Halt suchten, um zu überleben, und über das Blauschwarz hervorstechende Vulkangestein krochen. Deshalb waren einzelne Bäume anscheinend Opfer ihres Wachstums geworden und umgestürzt, weil sie es nicht mehr geschafft hatten, ihr hohes Gewicht zu verankern, falls sie nicht noch schief an ihre gleichmütig wirkenden Nachbarn gelehnt dastanden, und lagen nun flach zwischen krummen Ästen und anderem verrottendem Sturmholz am Boden. Genau genommen hätte man annehmen können, der Wald sei krank und liege im Sterben, hätte er nicht so viele grüne Blätter getragen und Moose, Flechten und Kräuter wachsen lassen, die ihm einen dringend nötigen Farbanstrich gaben.

      »Ein bisschen wie Mittelerde würde ich sagen«, meinte Neil, womit er als Erster das Schweigen brach, das über uns gekommen war. »Die Ents, Baumbart und so weiter.«

      Bei seinen Worten fiel mir plötzlich ein Knäuel Wurzeln in der Nähe ins Auge, die fast nahelegten, diese Bäume könnten in Kürze zum Leben erwachen und einfach so davonlaufen.

      »Ein Zauberwald«, sagte Mel. »So seh ich das. Dieses kräftige Grün … wie in einem Märchen.«

      Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile weiter. Es war banales Geplänkel um seiner selbst willen, Geräusche zum Aufheben der Stille, und es versandete auch rasch wieder. Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten gingen wir an mehreren verrosteten und schmutzigen Hinweisschildern vorbei. Einige ermahnten potenziell Selbstmordgefährdete zum Überdenken ihres Vorhabens in Hinblick auf liebende Nahestehende, wohingegen andere Wanderer darum gebeten wurden, den lokalen Behörden jede Person zu melden, die alleine war oder depressiv beziehungsweise aufgebracht wirkte. Auf einem Schild stand auch, das Camping hier nicht erlaubt sei. Das schüchterte uns zwar ein, doch Tomo bekräftigte, dass es nur eine weitere Abschreckungsmaßnahme gegen Suizid war, denn viele Einheimische kamen offenbar unter dem Vorwand hierher, zu zelten, wobei sie aber lediglich nur Mut schöpfen wollten, sich anschließend selbst zu töten.

      Je tiefer wir in den Wald hineingingen, desto beklommener, wurde mir zumute. Es war einfach zu ruhig, zu still. Ich hatte bisher noch kein einziges Tier gehört, weder Vogelgezwitscher noch Insekten – gar nichts. Wie konnte ein dermaßen üppig begrünter Ort so bar jeglicher Fauna sein? Und wieso überhaupt? Tiere kümmerte es doch gewiss nicht, dass der Wald eine Anlaufstelle für Selbstmörder war.

      Mel, die neben mir herging, nahm jetzt meine Hand und drückte sie sanft. Ich drückte zurück. Mir war allerdings nicht ganz klar, ob dies nur eine Geste der Zuneigung oder eine Aufforderung zum Reden sein sollte.

      Da sie nichts sagte, vermutete ich Ersteres.

      »Du bist ja gut drauf«, bemerkte ich.

      »So fühle ich mich auch.«

      »Bist du gar nicht verkatert?«

      »Nicht mehr. Hab wahrscheinlich lange genug gepennt.«

      »In diesem Wald zu sein macht dir nicht zufällig Angst oder?«

      »Ich finde ihn faszinierend, wenn auch nicht im positiven Sinn. Es ist einfach eine sehr spezielle Umgebung, ganz anders als Tokio, verstehst du?«

      Ich dachte kurz darüber nach, konnte mich aber nicht festlegen, ob ich ihr vollkommen zustimmte. Tokio war ein Wald aus Glas und Stahl, während Aokigahara aus Bäumen und Steinen bestand, doch bei beiden handelte es sich gewissermaßen um Friedhöfe. Kannte man sich nämlich nur ein wenig in der gnadenlos kommerziell ausgerichteten Kultur Japans aus, sah man schnell in den glänzenden Wolkenkratzern, welche die Skyline der Metropole prägten, nichts weiter als unpersönliche Grabsteine, und erachtete die Menschen, die darin arbeiteten, nur als Sklaven, die sich unentwegt von einem Tag zum nächsten hangelten, um bis zu den »goldenen Jahren« des Ruhestands durchzuhalten. Ironischerweise stumpften viele von ihnen schon lange vorher in spiritueller Hinsicht ab. Diesbezüglich hätte man wohl auch den armen Tropf fragen können, der seinen Anzug mit Schuhen und Koffer in seinem Auto liegen gelassen hatte.

      Ich wollte Mel darauf ansprechen, wusste aber nicht, wie ich es auf verständliche Weise in Worte fassen sollte. Stattdessen sagte ich nur: »Stimmt, das ist ein wirklich verrückter Ort.«

      »Genau solche Trips werde ich vermissen, wenn wir aus Japan wegziehen. Wir hätten so etwas viel öfter machen sollen. Warum haben wir das denn nicht?«

      Ich antwortete trocken: »Weil wir so viel arbeiten.«

      »Weil wir uns dieses Ei selbst ins Nest gelegt haben. Wir hätten viel häufiger auswärts Urlaub machen sollen.«

      Mit dem »Ei« meinte sie HTE. Es war halb scherzhaft gemeint: Etwas, dass wir uns selber eingebrockt hatten und nun nicht mehr loswurden.

      »Weißt du«, fuhr sie fort, »meine Freundin Francine hat an einer Uni angefangen. Sie bekommt dort sechs Monate Urlaub – sage und schreibe ein halbes Jahr – und verdient trotzdem noch mehr als wir.«

      »Wenn du willst, können wir uns ja demnächst auch an einer Uni bewerben.«

      »Dazu ist es zu spät, Ethan. Wir sind zu lange hier.«

      Darauf erwiderte ich nichts.

      Sie schaute mich von der Seite an, weil sie offensichtlich dachte, ich sei ihr böse, doch das war ich eigentlich gar nicht. Deshalb ging sie kurz auf Zehenspitzen, um mir einen Kuss auf die Wange zu drücken.

      »Danke«, sagte ich.

      »Verarsch mich nicht!«

      »Tue ich nicht. Ich finde das schön.«

      Lächelnd entgegnete sie: »Ich unterhalte mich mal mit John.«

      Ich schaute jetzt nach vorne zu ihm, er war gerade dabei Tomo irgendeine Geschichte zu erzählen.

      »In Ordnung.«

      Sie lief los und holte die beiden rasch ein. Ich schaute dabei zu, wie sie sich zwischen sie drängte, John Scott legte einen Arm um ihre Schultern und sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Dann nahm er den Arm wieder herunter … was meines Erachtens nach, allerdings viel zu lange dauerte.

      Neil ließ sich zurückfallen, bis er mich erreicht hatte. Er pfiff die Melodie jenes berühmten Lieds aus dem Sezessionskrieg, das man heute vor allem unter dem Titel »The Ants Go Marching« kennt, der ursprüngliche wollte mir beim besten Willen nicht mehr einfallen.

      Ich warf ihm einen seltsamen Blick zu. Neil Rodgers – gerne auch »Neilbo«, »Mr. Rodgers« oder manchmal auch »unser Kiwi«, wenn man sich im Kollegenkreis über ihn ausließ. Derek Miller, einer unserer Mitarbeiter und Kanadier, stichelte besonders oft über ihn, indem er ihn als schrulligen Serienvergewaltiger bezeichnete. Damit schoss er natürlich weit über das Ziel hinaus, doch leicht schrullig war Neil offengestanden tatsächlich. Ich schätze, wenn man ihn darauf ansprechen würde, hätte er sogar zugestimmt. Nicht dass er irgendwie knausrig gewesen wäre, aber ein paar seltsame Angewohnheiten hatte er schon. Zum Beispiel besaß er nur einen einzigen Anzug, und den trug er jeden Tag. Das wussten wir sicher, weil er direkt neben der linken Gesäßtasche ein kleines Loch hatte. Sein Handy führte er immer in einem Gürtelhalter mit sich herum, so wie Captain Kirk seinerzeit seinen Phaser. Und zu jeder Mahlzeit aß er das Gleiche: Reis, fermentierte Sojabohnen, ein paar Nüsse und einen Salat, wenn er Frühschicht hatte. Reis mit Hähnchenbrust und drei oder vier Dim Sum mit Schweinefleisch, wenn er bis zum Abend arbeiten musste. Seine Frau kochte immer für ihn und verpackte das Essen dann in Tupperware-Dosen, auf deren Deckel Neil mit wasserfestem Stift seinen Namen geschrieben hatte.

      Dessen ungeachtet war er meinem Dafürhalten nach unter den rund zwanzig Vollzeitlehrern an