krankmelden musste. »Zum Campen wären wir auf jeden Fall ziemlich gut vorbereitet«, deutete ich verhalten an. »Wir haben Lebensmittel, Zelte, warme Kleider …«
»Dann packen wir's an, Alter«, beharrte John Scott.
Honda verschränkte seine Arme vor der Brust und verbeugte sich entschuldigend. »Sorry, aber ich kann nicht mitkommen, nicht dorthin. Macht ihr ruhig. Ich halte euch zwar für verrückt, aber nur zu. Kein Problem.«
Ben verlagerte daraufhin sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als warte er ungeduldig darauf, dass wir uns entschieden.
»Einen kurzen Moment, ich erklär das mal schnell meiner Freundin«, sagte ich.
Ich stieg wieder auf der Beifahrerseite von Tomos aufgemotztem Subaru WRX ein. Wie ich feststellte, schlief Mel immer noch, also fragte ich ihn: »Was weißt du über diesen Selbstmordwald?«
»Ach! Darüber habt ihr euch so verflucht lange unterhalten? Ohne mich?«
»Du hättest ja zu uns kommen können.«
»Du hast gesagt, ich soll bei Mel bleiben.«
»Was weißt du denn nun?«
»Der Wald ist in ganz Japan berühmt. Leute gehen rein und begehen Selbstmord.«
»Demnach stimmt es, ja?«
»Verrückt, nicht wahr?«
»Was würdest du davon halten, heute Nacht dort zu zelten?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen, fuck?« Tomo wollte cool wirken, das tat man unter jungen Japanern, indem man englische Flüche verwendete. So wollten sie damit angeben, wie bewandert sie in der Sprache waren, doch einige benutzten solche Ausdrücke einfach zu häufig. Sie waren nämlich nicht damit aufgewachsen und hatten als Kinder auch keinen Ärger dafür bekommen, sie in den Mund zu nehmen. Es handelte sich also für sie um nichts weiter als um Vokabeln. Tomo gehörte zu dieser Generation. »Ihr wollt dort übernachten? Im Ernst?«
»Unsere Bergwanderung fällt flach, weil ein Unwetter vorhergesagt wurde, also fahren wir stattdessen entweder wieder zurück nach Tokio oder wir unternehmen hier etwas. Honda will nicht zelten, aber Neil und John Scott haben nichts dagegen. Die beiden dort …« Ich zeigte auf die Israelis. »… hatten die Idee.«
»Die ist ja heiß!«
Wenn mich nicht alles täuschte, wurde Tomo immer von zwei oder drei verschiedenen Frauen gleichzeitig umschwärmt. Mit seiner strubbeligen Frisur, die unter japanischen Männern sehr beliebt war, den Mandelaugen, einer spitzen Nase und den hervorstehenden Wangenknochen sah er sehr gut aus. Allerdings hätte er mal zum Zahnarzt gehen müssen, denn in seinem Mund stand wirklich nichts gerade. Das war andererseits nur meine Einschätzung, denn yaeba, schiefe Zähne sah man in Japan allerorts und hielt sie sogar für anziehend. Ich hatte von Personen gehört, die sich sogar extra am Gebiss operieren ließen, um diesem Ideal zu entsprechen.
Tomo trug eine Mütze mit steifem Schirm, die an einen Zeitungsjungen erinnerte, und um den Hals einen Kaschmirschal, dessen Enden über eine altmodische Motorradjacke hingen. Sie bestand wie die von John Scott aus Leder, wirkte aber irgendwie weitaus weniger prahlerisch.
»Wer ist heiß?«, fragte plötzlich Mel. Als ich mich zu ihr umdrehte, regte sie sich. Sie richtete sich auf, blinzelte und rieb sich gähnend die Augen. Sie waren leuchtend blau. Ihre blonden Haare waren im Moment zerzaust und standen in alle Richtungen ab. Nach der Party am Abend zuvor hatte sie sich nicht abgeschminkt. Ihre rechte Gesichtshälfte war rot, nachdem sie damit so viele Stunden auf ihren Armen gelegen hatte.
»Hey«, begrüßte ich sie, indem ich mich zwischen den Sitzen nach hinten lehnte und sie auf die Wange küsste.
»Danke«, sagte sie und strahlte. Mel bedankte sich jedes Mal, wenn ich ihr einen Kuss gab. Man könnte ihr unterstellen, dies sei spöttisch gemeint oder gar zickig, aber diese beiden Eigenschaften waren ihr vollkommen fremd. Ich denke, ihr gefiel ganz einfach, dass ich ihr meine Zuneigung so oft zeigte. Ich fühlte mich geschmeichelt, weil sie so empfand. Mir sind schon Paare untergekommen, die sich nicht mehr ausstehen konnten, nachdem sie sich ein halbes Jahr regelmäßig gesehen hatten. Die Tatsache, dass Mel und ich dauerhaft so gut miteinander auskamen, erachtete ich als Beleg dafür, dass wir perfekt zusammenpassten.
»Sind wir schon da?«, fragte sie.
»Fast«, antwortete ich. »Wir sind momentan in einer Kleinstadt am Fuß des Fujis. Es gibt da aber leider ein kleines Problem.«
»Klar, wie sollte es auch anders sein.«
»Es soll Regen geben. Sieht also so aus, als könnten wir heute nicht wandern.«
»Gut, dann hab ich wenigstens Zeit, mich auszuschlafen.« Sie ließ sich wieder auf die Sitzfläche fallen und schloss die Augen. »Weckt mich, wenn wir wieder in Tokio sind.«
»Eigentlich haben wir vorhin zwei Ausländer kennengelernt, die heute ebenfalls hinaufsteigen wollten und jetzt stattdessen in einem Wald in der Nähe zelten. Wir haben beschlossen, dass wir mitmachen!«
Mel öffnete ein Auge und schaute mich an wie eine Piratin. »Wie weit ist es denn bis dorthin?«
»Das weiß ich nicht, aber der Wald muss irgendwo ganz in der Nähe sein.«
Sie überlegte einen Moment lang. »Okay.«
»Echt?«
»Warum denn nicht? Wenn wir doch ohnehin so gut wie dort sind …«
»Da wäre nur noch ein winziger Haken.«
»Und welcher?«
»Der Wald heißt Aoki… « Ich suchte Tomos Blick.
»Aokigahara.«
»Na und?«, fragte Mel.
»Das bedeutet übersetzt, Selbstmordwald«, erklärte ich ihr, »denn dorthin verschwinden anscheinend jedes Jahr viele Japaner, um sich das Leben zu nehmen.«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich bin mir allerdings sicher, dass dahinter nur viel heiße Luft steckt«, schob ich schnell hinterher. »Wahrscheinlich haben sich mit der Zeit ein paar Leute dort umgebracht, woraus sich dann eben ein schlechter Ruf …«
»Nein, ich habe auch schon mal etwas davon gehört«, unterbrach sie ihn und setzte sich wieder auf. Sie strich sich die Haare hinter die Ohren, sodass ich ihren schlanken Hals sah, dann nahm sie ein Gummiband von einem ihrer Handgelenke und band sie zu einem Pferdeschwanz. Die Smaragde der Ohrstecker, die ich ihr im Juni zu Geburtstag geschenkt hatte, funkelten jetzt.
»Wir brauchen ja nicht weit hinein… «
»Du brauchst mich nicht zu behüten wie ein Kleinkind, Ethan. Ich habe gar keine Angst. Außerdem würde ich ihn gerne selbst sehen.«
Ich nickte und war froh, dass ich sie ohne Probleme hatte überzeugen können.
Nun wandte ich mich wieder Tomo zu. »Was ist jetzt, T-Man? Bist du auch dabei?« Ich wartete gespannt auf seine Antwort. Da Honda ausschied, blieb uns nur noch sein Wagen.
»Ja, gut«, sagte er schließlich und ließ seine fiese Kauleiste aufblitzen. »Mal sehen, ob wir ein paar verdammte Geister finden, was?«
Kapitel 2
Bevor wir zum Aokigahara aufbrachen, suchten wir erst einmal die Toiletten des Bahnhofs auf und kauften uns in einem Minimarkt mehr Snacks, nun da wir uns keine Gedanken mehr um schweres Gepäck machen mussten. Ich ging noch kurz zum Kartenschalter, weil ich mir eine Karte der Gegend besorgen wollte. Dort begrüßte mich freundlich eine uniformierte Frau. Kaum dass ich den Wald erwähnte, kniff sie jedoch die Augen zusammen und hörte auf zu lächeln. Sie betrachtete mich misstrauisch, vielleicht um hinter meine Absichten zu kommen. Sie dachte ja, dass ich alleine hier sei, und musste sich nun anhören, dass ich einen Ort aufsuchen wollte, wo sich angehende Selbstmörder ihren innigsten Wunsch erfüllten. Ich wusste allerdings