oder in kleinen Gruppen. Mehrheitlich kamen auch Büroarbeiter zu uns, die von ihren Unternehmen dazu gezwungen wurden, Englisch zu lernen, oder auch gelangweilte Hausfrauen, die einfach jemanden zum Reden brauchten. Nachdem ich jahrelang immer wieder die gleichen Lektionen erteilt hatte, graute es mir bisweilen vor Stunden mit bestimmten Schülern, in deren Verlauf ich zum tausendsten Mal das Partizip Perfekt erklären musste.
Neil war da ganz anders.
Er versprühte irgendwie eine irrsinnige, geradezu manische Energie. Weil er deshalb an den Moderator Fred »Mister« Rogers erinnerte, der jahrzehntelang eine bekannte amerikanische Kindersendung moderiert hatte, hatte er eben den Spitznamen »Mr. Rodgers« bekommen. Aus diesem Grund mochten ihn die Schüler wahrscheinlich auch so gerne. Sie wussten, dass er immerzu hundert Prozent gab.
»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, fragte ich Neil jetzt, in erster Linie, damit er mit dem Pfeifen aufhörte. Das an alte Zeiten erinnernde Lied war in diesem Wald vollkommen unangebracht, ja geradezu schauerlich.
Er sah mich begriffsstutzig an. »Hier zu übernachten?«
»Ja.«
»Es war doch eure Idee.«
»Nein, eigentlich die, der Israelis.«
»Aber John Scott und du, ihr wolltet doch auch unbedingt.«
»Ich dachte, es könnte interessant werden.«
»Und jetzt?«
Ich ließ meinen Blick über die Baumlandschaft schweifen. »Ich find's immer noch interessant.«
»Willst du etwa kneifen?«
»Es ist ja nicht so, dass wir die Ersten sind, die diesen Wald betreten. Immerhin gibt es sogar Pfade.«
»Aber wie viele schlagen wohl hier über Nacht ihr Lager auf?«
»Wer weiß das schon?«
»Denkst du, dass wir eine Leiche finden werden?«
»Ich weiß nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«
»Willst du das denn?«
»Da bin ich mir nicht sicher. Na ja, eventuell schon. Falls es sich ergibt, dann ist es eben so.«
Während ich noch darüber nachsann, wie ehrlich ich zu mir selbst war, sah ich ein, dass wir noch eine andere Möglichkeit zum Zeitvertreib hätten nutzen können, bis sich das Wetter wieder besserte: in einem der typischen Gasthäuser mit Fliegengittertüren und Tatami-Matten auf dem Boden einkehren. Mel und Tomo wären bestimmt dafür gewesen, aber was Neil anging, wusste ich nicht so recht. Er war bekannt dafür, seine Finanzen zusammenzuhalten, und hatte sich wahrscheinlich nur zum Zelten breitschlagen lassen, weil es nichts kostete.
Ich schaute wieder nach vorne. Mel ging immer noch neben John Scott her. Sie trug eine violette K2-Jacke und eine Jeans. Ich besaß genau die gleiche Jacke in Schwarz. Wir hatten sie allerdings nicht gekauft, um uns als Pärchen hervorzutun. Sie waren in einem Geschäft im Tokioter Bezirk Shinjuku für die Hälfte ihres ursprünglichen Preises angeboten worden, und weder Mel noch ich hatten damals dicke Jacken mit nach Japan genommen. Das war das Problem, wenn man als Lehrer im Ausland arbeitete. Der weltliche Besitz beschränkte sich darauf, was man in einen oder zwei Koffer stopfen konnte.
Mel wandte John Scott wiederholt den Kopf zu, weshalb ich mich fragte, worüber die beiden wohl sprachen. Ich schnappte leider nur einzelne Worte auf, mehr nicht.
Neil pfiff nun wieder. Ich fragte ihn: »Wie geht es Kaori?«
»Sie fährt dieses Wochenende mit der Kleinen nach Disneyland.«
»Wie alt ist Ai jetzt?«
»Vier.«
»Geht sie schon zur Schule?«
»In den Kindergarten.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf die beiden vor uns. »Woher kennen sich die Zwei eigentlich?«
John Scott sagte gerade wieder etwas zu Mel, woraufhin diese ihm zum Spaß gegen die Schulter boxte.
»Sie waren zusammen auf der Highschool.«
»Du magst ihn nicht, hab ich recht?«
Das war eine sehr gute Frage. Mochte ich John Scott? Ich machte mich genauso der Unsitte schuldig, meine Mitmenschen schnell abzuurteilen und dann an meiner Einschätzung festzuhalten, selbst wenn sie sich letzten Endes als vollkommen falsch herausstellte. In seinem Fall jedoch glaubte ich nicht, dass mein erster Eindruck abwegig gewesen war. Er war einfach ein anmaßendes Großmaul.
»Spielt das denn 'ne Rolle?« Ich tat gleichgültig. »Dazu kenne ich ihn nicht gut genug.«
Neil nickte, als würde er die Erklärung plausibel finden, und fing dann wieder zu pfeifen an. Ich sparte mir die Mühe, ihn zu bitten, es zu unterlassen.
Auf dem Weg kamen uns nun drei einheimische Wanderer entgegen, zwei Männer und eine Frau, alle in entsprechender Kleidung und mit Regenschirmen aus durchsichtigem Plastik.
»Konnichiwa!«, rief Ben freundschaftlich. »Konnichiwa!«
Seine Aussprache war tatsächlich noch schlimmer, als meine. Das Trio grüßte aber freundlich zurück, lächelte und verbeugte sich anschließend.
»Wie wandert es sich so?«, fragte er.
Das verwirrte sie anscheinend.
Ich half ihm: »Wandern?«, fragte ich. »Gut?«
Ein zögerliches, mehrmaliges Nicken folgte.
»Hey – sumimasen?«, fuhr Ben fort. Sich auf Japanisch mitzuteilen fiel ihm offenbar schwer, weshalb er es schnell aufgab und es auf Englisch versuchte: »Wir suchen nach anderen Wegen, also nicht den einschlägigen. Ihr versteht?«
Sie verstanden es anscheinend nicht. Vielmehr schienen sie es plötzlich unheimlich eilig zu haben.
John Scott hielt sie mit einem »Yo, hey, jetzt macht mal halblang« zurück. Dann wandte er sich Tomo zu. »Mach mal den Dolmetscher.«
»Was soll ich ihnen denn sagen?«
»Das, was Ben gerade gesagt hat, dass wir Alternativen zu dieser Route suchen.«
Tomo zierte sich offensichtlich.
»Du meine Güte«, meinte John Scott stöhnend. »Tu's einfach.«
Also fragte Tomo nach.
Der ältere der beiden Männer – er hatte ganz weiße Haare, was auch für seinen Schnurrbart galt, und eine Brille mit goldfarbenem Rahmen – wirkte sofort ungehalten. Er blaffte etwas im Gegenzug, Tomo antwortete, indem er entschuldigend die Hände hochhob, bekam aber prompt das Wort abgeschnitten. Der Mann brauste auf und spuckte beim Sprechen regelrecht. Sobald Tomo versuchte, ihn zu besänftigen, schüttelte er sowohl seinen Kopf als auch die Arme und erhob seine Stimme noch mehr. Ich schaute dem Geschehen ratlos zu. Dass Japaner die Fassung verloren, hatte ich bisher nur sehr selten erlebt. In diesem Zusammenhang fiel mir auf einmal ein weiteres Sprichwort ein: Ein Nagel, der herausragt, wird eingeschlagen, und zwar fest.
Im Alltag ließ sich dies auf alles Mögliche beziehen. Mach nicht früher Feierabend als deine Mitarbeiter. Fälle geschäftliche Entscheidungen nicht eigenmächtig. Verspäte dich niemals. Verberge deine wahren Gefühle.
Was war hier also los? Der Weißhaarige rastete mittlerweile komplett aus. Tomo, dem bewusst geworden war, dass diese Diskussion zu nichts führte, streckte die Waffen. Ich legte eine Hand auf seinen Rücken und führte ihn sanft weiter. Die beiden anderen folgten uns.
John Scott fragte neugierig: »Was hatte der denn für ein Problem, Mensch?«
Tomo schüttelte nur den Kopf.
»Er sagt, wir nicht hier sein dürfen.«
»Und was hat er dann hier zu suchen?«
»Er geht Lavahöhlen, Eishöhlen.«
»Warum dann die