starrte ihn an. Er kannte niemanden von uns außer Mel, war erst kurz vor knapp hinzugestoßen und jetzt wollte auf einmal schon die Entscheidungen für uns treffen?
Die Eingangstür des Bahnhofsgebäudes ging nun auf, und ein junges Paar, das sichtlich aus dem Mittelmeerraum stammte, kam heraus. Ihre Wanderstiefel und Rucksäcke ließen darauf schließen, dass sie ebenfalls hier waren, um den Berg zu besteigen, doch das hätte man sich auch denken können, wenn sie nur mit Tennissocken und Turnschuhen hier angekommen wären. Denn warum sonst trieben sich Ausländer hier in dieser Gegend herum? Die beiden steckten die Köpfe zusammen, als sie an uns vorbeigingen, und waren komplett in ihr Gespräch vertieft.
»Verzeihung«, rief ich, um sie anzuhalten.
Sie blieben stehen, sahen zuerst mich und dann die drei anderen an. Beide waren recht attraktiv, hatten welliges, dunkles Haar, braune Augen und glatte, olivfarbene Haut. Das Mädchen war zierlich, sein Freund durchschnittlich groß und drahtig wie ein Ausdauersportler. Sie konnten nicht älter sein, als ich, höchstens fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig.
»Ja?«, fragte der junge Mann. Er lächelte und kam mir recht umgänglich vor.
»Wollt ihr auch auf den Fuji?«, fragte ich.
»Darum sind wir gekommen, ja. Die Frau am Fahrkartenschalter meinte aber, das sei im Moment nicht möglich.« Er zog seine Schultern hoch. »Sie sagte, wir sollten lieber bis morgen warten.«
»Weil der Weg gesperrt ist? Oder war das nur ein guter Rat?«
»Ich weiß es nicht. Sie sprach noch schlechter Englisch als wir.«
Er fand das lustig und lachte. Aufgrund seines leichten Akzents und Tonfalls tippte ich darauf, dass er Israeli war. Während meines Weihnachtsurlaubs in Thailand im Vorjahr – Mel war nach Kalifornien zurückgekehrt, um ihre Mutter zu besuchen –, hatte ich auf der Fähre von Ko Samui nach Ko Pha-ngan jemanden aus Israel kennengelernt: Moshe, einen geschwätzigen, freundlichen Kerl. Um Geld zu sparen, waren wir irgendwann übereingekommen, uns ein Zimmer über einem Restaurant zu teilen, das in Anbetracht der Mopps und Eimer in einer Ecke ansonsten eigentlich auch gut und gerne als Hausmeisterkammer hätte herhalten können. Noch an unserem ersten gemeinsamen Nachmittag hatte er mich zu einer Feier mit seinen Freunden eingeladen, die schon auf der Insel waren, ausnahmslos Landsleute von ihm. Nicht lange, und ich hatte den Ruf eines komischen Vogels weg. Denn die meisten Israelis sind auf Reisen eine eingeschworene Gemeinde, und dass sich ein irischstämmiger Amerikaner in ihre Clique eingeschlichen hatte, war für sie anscheinend der absolute Knüller gewesen. Nach ein paar Stunden hatte ich mich betrunken und bekifft von ihnen verabschiedet – froh darum, wieder allein zu sein.
»Ich heiße Benjamin, aber nennt mich doch einfach Ben«, schob der Israeli nun hinterher. »Das hier ist Nina.«
Ich stellte nun mich und die anderen vor.
»Also, was tut ihr zwei jetzt?«, fragte John Scott, obwohl er bei der Frage vor allem Nina anschaute.
»Wir gehen zelten.« Ben zeigte nach Westen. »Eigentlich wollten wir heute den Fuji-san besteigen und morgen erst im Aokigahara übernachten. Aber jetzt tauschen wir einfach: Erst campen und dann wandern.«
»Honto?«, fragte Honda, indem er die letzte Silbe betonte. Dabei zog er die Augenbrauen bis über den Rahmen seiner Brille hoch und murmelte kopfschüttelnd auf Japanisch weiter vor sich hin.
»Du meinst den Selbstmordwald, oder wie auch immer man den nennt?«, schlussfolgerte John Scott.
Ich sah Neil nicken.
»Ja, das ist richtig«, bestätigte Ben. »Dorthin ziehen sich jedes Jahr viele Leute zurück, um sich umzubringen.«
»Im Ernst?« Das wunderte mich wirklich, denn bis heute hatte ich noch nie etwas von diesem Wald gehört. »Warum ausgerechnet dort? Was ist denn so besonders daran?«
»Um Aokigahara ranken sich viele Gerüchte«, sagte Honda. Er legte seine Stirn in Falten und man merkte, dass er eindeutig ungern über dieses Thema sprach. »Der Ubasute-Mythos geht unter anderem darauf zurück. Während der Hungersnöte setzten Familien ihre Kinder oder ihre alten Angehörigen dort aus, um so weniger Mäuler stopfen zu müssen. Deshalb glauben viele Japaner, dass der Wald von yūrei heimgesucht werde, also den Geistern Verstorbener.«
Ich versuchte, unter psychologischen Gesichtspunkten dahinterzukommen, weshalb man einen geliebten Menschen der Dehydrierung beziehungsweise dem langsamen und qualvollen Hunger- oder Kältetod aussetzen sollte. Mich erinnerte das irgendwie spontan an Hänsel und Gretel, bloß umgekehrt, wenn die Jungen die Alten im Stich lassen würden. »Aber was hat das damit zu tun, dass Lebensmüde dort Selbstmord begehen?«
»Der Wald ist seit jeher als Ort des Todes bekannt«, erklärte Honda lapidar, »also zieht er den Tod wohl magisch an.«
»Und da gibt es diese Bücher«, fügte Ben hinzu.
Davon wusste ich ebenfalls nichts. »Welche Bücher?«
»Vor Jahren wurde ein Roman über ein Pärchen zum Bestseller, das sich gemeinsam im Aokigahara umgebracht hat. Das verklärte die Idee, dies zu tun irgendwie, und machte den Wald noch bekannter. Außerdem gibt es da noch ein sogenanntes Vollständiges Handbuch zum Suizid. Darin ist der Wald als wunderschön und friedlich beschrieben; der perfekte Ort zum Sterben.«
Der letzte Teil des Satzes bereitete mir Unbehagen. Der perfekte Ort zum Sterben.
Daraufhin schwiegen wir alle. Ich schaute zuerst Neil und dann John Scott an. Der Neuseeländer sah finster aus, so als sei er nach dieser düsteren Gesprächswendung irgendwie verstört. Auch mein Landsmann schien nachdenklich geworden zu sein. Ben sagte nun etwas auf Hebräisch zu Nina, woraufhin sie antwortete. Als sie bemerkte, dass ich sie beobachtete, lächelte sie.
Ben meinte schließlich: »Wir nehmen jetzt einen Bus und fahren zum Aokigahara.« Er zeigte auf eine Haltestelle in der Nähe. Aber ein Bus war dort weit und breit nicht zu sehen. »Wenn du mich fragst, solltet ihr alle mit uns kommen. Das wäre doch ein tolles Abenteuer, findest du nicht auch? Und wir hätten nichts gegen Gesellschaft.«
Ich wollte schon ablehnen, als John Scott plötzlich meinte: »Ich bin dabei!« Er schüttelte sich eine Zigarette aus einer Packung Marlboro Red, die er auf einmal aus einer seiner Taschen hervorgezaubert hatte. »Auf jeden Fall besser als ein Vergnügungspark.« Nachdem er sie angezündet und daran gezogen hatte, stieß er den Qualm gelassen in einer langen Qualmwolke aus dem Mund wieder aus.
Ich hatte mir das Rauchen ein Jahr zuvor auf Mels Wunsch hin abgewöhnt. Sie war angeblich um meine Gesundheit besorgt gewesen, doch ich vermutete eher, dass ihr der Zigarettengestank in meinen Klamotten und Haaren nicht zugesagt hatte. Immer wenn jemand vor meinen Augen eine Kippe ansteckte, bekam ich nach wie vor Lust darauf und musste diesen Drang krampfhaft unterdrücken.
John Scott nahm noch einen kräftigen Zug und atmete aus, als er weitersprach: »Also, was ist jetzt? Wir wollten die Zeit doch irgendwie totschlagen, oder? In einem Geisterwald zu zelten hört sich doch ganz spannend an.«
Neil starrte in die Ferne, was ich dahin gehend deutete, dass er sich nicht festlegen wollte. Honda schüttelte allerdings schon wieder den Kopf. Ihm gefiel die Idee definitiv nicht.
»Neil?«, drängte John Scott jetzt. »Was meinst du, Dicker?«
Neil hatte überhaupt kein Übergewicht, und diese Anrede hielt ich vor dem Hintergrund, dass er doppelt so alt war wie der Soldat, außerdem für sehr respektlos.
Er zuckte mit den Achseln. »Ich mag es, zelten zu gehen, und habe auch schon von diesem Wald gehört. Könnte bestimmt interessant werden, aber es gibt bald Regen. Und ich will die Nacht auf keinen Fall im Freien verbringen, wenn es draußen kalt und nass ist.«
»Aokigahara ist etwas ganz Besonderes«, entgegnete Ben. »Er ist sehr dicht bewachsen, wisst ihr das? Deshalb hält das Blätterdach den Regen größtenteils ab.«
Das hörte sich für mich reichlich unglaubwürdig an, doch ich verkniff mir einen Kommentar, denn so langsam konnte ich mich für diese Zeltsache