verbunden. Schließlich verlasse ich jemanden, der mir lieb ist. Ich werde sehr empfindsam und empfänglich. Aber nicht nur in Zusammenhang mit Negativem, sondern vor allem in Bezug auf die Pracht dieser Welt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich die meiste Zeit im Zelt auf dem Boden schlafe? Das ergibt eine starke Verbindung zwischen mir und Mutter Erde.
Dann bin ich diese neue Person, mehr Tier als Mensch, nehme mich nicht mehr als Individuum wahr, sondern als Teil des Ganzen. Mein Verstand ist wach, meine Sinne sind geschärft, in einer Notsituation gibt es nur noch drei Möglichkeiten: Angriff, Flucht oder mich tot stellen. Das ist der pure Instinkt. Auch die Tiere reagieren anders auf mich. Sie verstecken sich nicht mehr vor mir, sind vielmehr neugierig. So wie damals: Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zum Nordkap – der ersten meiner vier Etappen auf dem Weg zum Nordpol –, als plötzlich eine Elchkuh und ein Elch aus dem Nichts auftauchten. Es war sehr früh am Morgen, es regnete leicht, und ich war spät dran, denn ich wollte unbedingt die nächste Fähre erwischen, weshalb ich heftig in die Pedale trat. Vermutlich hatte ich die Tiere aufgeschreckt, doch sie flüchteten nicht vor mir, sondern galoppierten eine ganze Weile neben mir her. Ihr geschmeidiger Gang, ihre reine Gegenwart ließen mich meine Eile vergessen. Es existierte nur noch das Hier und Jetzt. Die absolute Präsenz. Glück. Daran denke ich manchmal, wenn mich Menschen nach dem schönsten, dem härtesten, dem besten Moment meiner Expeditionen fragen. Nein, es war nicht nur die Ankunft auf dem Gipfel des Mount Everest und auch nicht, als ich den Südpol oder den Nordpol erreichte. Es waren die kleinen, feinen, vermeintlich gewöhnlichen Momente, die einerseits kaum der Rede wert, andererseits aber so unglaublich wertvoll sind.
Irgendwann komme ich wieder heim und durchlaufe dieselbe Phase, in umgekehrter Reihenfolge. Ich bin dann Evelyne Binsack, die Abenteurerin. Hart im Nehmen, gleichzeitig verletzlich. Ich erinnere mich an einen Abend – ich war noch nicht lange zurück von meiner 484-tägigen Expedition zum Südpol –, an dem ich nach einem meiner Referate aus dem Saal kam und den Vollmond erblickte. Er strahlte mich an, und wie ich so dastand und mich in seinem bleichen Rund verlor, fühlte ich mich, als würde man mir mein Herz aus der Brust reißen. Einfach, weil mich der Mond in jenem Moment so sehr an die prägende Zeit erinnerte, als ich allein in der endlosen Weite unterwegs war. Weil ich realisierte, wie sehr ich mich nach dieser Verbundenheit mit dem Himmel, der Erde und den Tieren zurücksehnte. Und weil ich die Stille vermisste. Die Stille in meinem Kopf. Denn hier finde ich sie nicht. Diese Welt ist laut. Und rau. Rauer als jeder Sturm in der unendlichen Weite der Arktis oder der Antarktis. Der Sturm dort ist auch rau und unerbittlich. Er zeigt mir meine Verletzlichkeit auf. Aber auf meinen Expeditionen lebe ich mit dieser Verletzlichkeit. Sie ist ein Teil von mir. Ich nehme sie an, wie sie ist. Sie ist keine Schwäche. Und wenn sich der Himmel mitten im Sturm wieder auftut und das Wetter Erbarmen mit mir zeigt, dann erzeugt das in mir eine unendliche Dankbarkeit und Demut.
Ist das Unterwegssein nicht ein Ur-Antrieb, der in jedem von uns schlummert? Sind wir nicht alle Nomaden? Und Pilger? Kommt nicht daher diese diffuse Sehnsucht, die so viele von uns umtreibt? Weil wir vom Ur-Instinkt her Reisende sind? Wir wissen um unsere Verletzbarkeit, wenn wir unterwegs sind. Das sind die Momente, in denen wir uns nahe sind, offen und empfindsam. Nur: Wenn wir aufbrechen, um dieses Gefühl zu finden, dann kommen wir nicht in diese Empfindung hinein. Wir können nur in etwas Neues aufbrechen, wenn wir das Alte hinter uns lassen. Zu Pilgern werden und zu Nomaden. Zu dem, was wir seit Jahrtausenden sind.
INTRO
Der Schuss fällt am 11. April 2017 um 10.55 Uhr. Er hallt noch immer in mir nach. Der Eisbär zuckt zusammen, wendet sich ab, flieht in die entgegengesetzte Richtung, bleibt abrupt stehen, schüttelt seinen mächtigen Kopf und verschwindet in langen Schritten, taumelnd, hinter den Eisblöcken und damit aus unserem Blickfeld. Ich schalte die Kamera aus. Entsetzen in meinen Augen, Adrenalin in meinem Blut. Ich kann nicht glauben, dass Dixie gegen alle Regeln verstoßen und Pavel, nach nur einem einzigen Warnschuss, befohlen hat, auf den Eisbären zu schießen. Ich gehe zu den Fußspuren des Bären, sehe vereinzelte Blutstropfen im Schnee. Marin fragt Dixie, ob der Bär überleben wird, und Dixie, als könnte er dies wissen, sagt Ja. Mir ist schlecht.
NACH MOUNT EVEREST UND SÜDPOL
Seit ich 2001 den Gipfel des Mount Everest bestiegen und 2007 den südlichsten Punkt der Erde erreicht hatte, träumte ich davon, auch den dritten Pol, den Nordpol, zu begehen. Lange glaubte ich allerdings nicht mehr daran, noch einmal die mentale Kraft und die geistige Stärke aufbringen zu können, um erneut die Bereitschaft für ein Abenteuer von diesem Format zu generieren.
Bevor ich mich damals, am 10. November 2007, zu meiner letzten Etappe von Patriot Hills über Hercules Inlet bis zum Südpol aufmachte, hatte ich mich innerhalb von kurzer Zeit bewusst von 61 auf 72 Kilogramm hochgefuttert. Ich war bereits 430 Tage lang unterwegs und hatte ursprünglich geplant, für den Endspurt zum Südpol noch schwerer zu werden. Ich wusste, ich würde die zusätzlichen Pfunde benötigen, würde ich doch auf dem beschwerlichen Weg von 1200 Kilometern durch die Antarktis viel Gewicht verlieren. Mein Körper reagierte prompt auf die drastische Gewichtszunahme. Der Stoffwechsel rebellierte, meine Ausdünstung veränderte sich, ich begann zu stinken. Nein, ich mochte dieses neue Körpergefühl überhaupt nicht, wusste aber, dass mir die zusätzlichen Kilos auf meinen Hüften unter Umständen das Leben retten würden. Tatsächlich verlor ich während jener Etappe innerhalb von fünfzig Tagen rund vierzehn Kilos, sodass ich bei meiner Ankunft am Südpol, bei einer Körpergröße von 1 Meter 78, nur noch 58 Kilogramm wog. Für meinen Körper war dies ein erneuter Schock, den es zu verdauen galt. Es dauerte ungefähr ein halbes Jahr, bis er sich erholt und wieder bei seinem Wohlfühlgewicht eingependelt hatte.
Doch nicht nur der Körper rebellierte. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz stellte ich an mir weitere Veränderungen fest. Ich war auf dem Weg zum Südpol täglich zehn, manchmal zwölf Stunden unterwegs gewesen, dies unter enormen körperlichen Anstrengungen und bei unerbittlicher Kälte. Oft war ich erschöpft und hungrig, ich fror, und irgendetwas schmerzte immer. Mal war es die Achillessehne, ein anderes Mal waren es die Druckstellen an Schultern oder Hüften vom Ziehen des hundert Kilogramm schweren Schlittens. Auch die Psyche liebte es, mir unterwegs Streiche zu spielen. Sie zauberte verführerische Bilder in meinen Kopf von Erdbeertörtchen oder mit Puderzucker bestäubten Waffeln und redete mir ein, ich sei die bemitleidenswerteste Frau der Welt, weil ich dem Wind, der Kälte und der endlosen Weite der Antarktis ausgesetzt war. Hörte ich auf sie, wurde jeder Schritt noch mühsamer, der Schlitten noch schwerer und die eisige Kälte kroch noch tiefer in mich hinein.
Aus Erfahrung wusste ich: Negative Gedanken ziehen mir Energie ab, positive Gedanken wirken sich positiv auf meine mentale Verfassung und somit auch auf meine Schmerzen aus. Denn wie sehr ich mich auch selbst bemitleidete, es änderte nichts an der Tatsache, dass ich war, wo ich war: in der eisig kalten Antarktis. An dem Ort, den ich mir selber ausgesucht hatte. Der mich magisch anzog. Mich in seiner Schönheit und Anmut faszinierte. Beseelte. Paradox, ich weiß.
Ich gewöhnte mir das Beten an. Das Rezitieren einzelner Sätze half mir, in einen Geh-Rhythmus zu kommen und meine Gedanken in eine positive Richtung zu lenken. Den Rhythmus des Gebetes verband ich mit dem Rhythmus meiner Schritte. Je schneller ich ging, desto schneller rezitierte ich in Gedanken die Sätze, je langsamer ich ging, desto langsamer wiederholte ich sie.
Atme in mir, Heiliger Geist,
dass ich Heiliges denke.
Dränge mich, Heiliger Geist,
dass ich Heiliges tue.
Locke mich, Heiliger Geist,
dass ich Heiliges liebe.
Stärke mich, Heiliger Geist,
dass ich Heiliges hüte.
Behüte mich, Heiliger Geist,
dass ich das Heilige nie mehr verliere.
Gebete wie dieses habe ich als Kind von meiner Mutter gelernt. Sie haben mich geprägt. Und obwohl ich nicht im katholisch anerzogenen Sinn religiös bin, taten sie mir gut. Sie halfen mir auf meinem Weg ans Ziel. Denn manchmal, wenn ich lange unterwegs und in negativen Gedanken