Händen. Ich wiederholte die Sätze so lange, bis ich daran glaubte: Alles wird gut.
Vielleicht war ich nach meiner Expedition zum Südpol in einem Stadium, in das auch Mönche mit der Zeit gelangen. Denn wieder daheim, fühlte ich mich wie gehäutet, durchgeputzt, sowohl im Geist wie auch im Körper. Die Folge war, dass ich nach dieser langen Zeit in der Einsamkeit und Stille der Antarktis schlicht überfordert war von den vielen äußeren Einflüssen, die hier auf mich einprasselten. So richtig realisierte ich diese Empfindsamkeit, als ich mit meiner Schwester Jacqueline in einem Restaurant zum Nachtessen war. Es war vielleicht drei Wochen nach meiner Rückkehr vom Südpol, wir hatten uns viel zu erzählen, doch anstatt mich auf das Gespräch zu konzentrieren, nahm ich alles andere wahr: das Rattern der Kasse, das Scheppern der Hintergrundmusik aus dem Radio, das Rauschen des Kühlschranks in der Ecke, das Gelächter der anderen Gäste. Bald wurde mir alles zu viel. Ich schloss mitten in der Unterhaltung die Augen. Wie aus der Ferne hörte ich die Stimme meiner Schwester. Sie fragte: »Evelyne, wo bist du?«, und ich antwortete ihr, dass ich einen Moment für mich brauche. Ich versuchte, mich nur auf meinen Atem zu konzentrieren, dann beruhigte ich mich wieder.
Erfahrungen dieser Art häuften sich, und es wurde mir fast unmöglich, in ein Restaurant oder überhaupt unter Menschen zu gehen. Die Blicke, Bewegungen und Emotionen der anderen schienen mich ungefiltert zu treffen. Es war, als würde ich die Absichten der Menschen erkennen, bevor sie etwas sagten oder taten. Diese Welt überforderte mich. Sie war laut. Sie war rau. Sie war hektisch. Und immer mehr beschäftigte mich die Frage: Bin ich in diesem Zustand überhaupt noch gesellschaftsfähig? Die ehrliche Antwort lautete wohl: Nein, das bin ich nicht. Trotzdem hatte ich zu funktionieren. Mein Bankkonto war leer, ich musste ein neues Referat vorbereiten, eine Vortragstour organisieren, bei Medienveranstaltungen auftreten, mein Backoffice in Ordnung bringen, zurück in den Alltag finden. Um meine diffusen Empfindungen wollte ich mich später kümmern. Doch je mehr Zeit verging, desto mehr legten sich die äußeren Einflüsse darüber wie ein schwerer Teppich. Ich passte mich langsam wieder an, machte weiter. Es wurde besser. Ich funktionierte.
Gasherbrum II
Juni 2010
Der dritte Sommer nach meiner Expedition zum Südpol hielt eben erst Einzug, als ich beschloss, wieder einmal einen Achttausender zu erklimmen. Ich entschied mich für den Gasherbrum II in Pakistan, der mit seinen 8034 Metern zwar der dreizehnthöchste Berg der Welt, aber doch einer der kleineren Achttausender ist. Mit ihm wollte ich meine Höhen-Bergsteiger-Ära gebührend abschließen. Ich hatte damals den Eindruck, in meinem Leben genug Zeit in Basislagern vertan und auf gutes Wetter gehofft zu haben.
Ich flog also von der Schweiz nach Islamabad und von dort aus weiter mit einem kleineren Flugzeug nach Skardu, dem Hauptort der Region Baltistan, gelegen auf einem rund 2500 Meter hohen Plateau. Weiter ging es über den berühmt-berüchtigten Karakorum-Highway nach Askole. Ich mietete einen Jeep samt Fahrer, der mich innerhalb von zwei Tagen sicher über die ewig lange Fernstraße ruckelte, die Pakistan mit China verbindet und an den exponiertesten Stellen mit ihren senkrechten Abgründen eher der Vorhölle als einer Straße gleicht. Von Askole aus, einem kleinen Dorf im Braldu-Tal, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Basislager. Die Gegend war nicht etwa bunt und lieblich wie in Nepal, sondern vielmehr rau, grau, staubig, karg. Eigenwillig und ungezähmt wand sich der Fluss Shigar talabwärts. Entlang des Weges ragten schroffe Klippen imposant und mächtig in den Himmel, fast so, als würden sie für mich Spalier stehen. Vier Tage lang dauerte der eindrückliche Fußmarsch durch dieses Gebirgstal, das den Ruf genießt, das spektakulärste der Welt zu sein. Dann kam der Einstieg auf den Baltoro-Gletscher und weitere zehn Tage später, endlich, die Ankunft im Basislager.
Obwohl ich aus logistischen und finanziellen Gründen mit einer internationalen Expedition zusammenarbeitete, war ich allein mit meinem pakistanischen Begleiter »Little Hussain« unterwegs, einem kleinen, knorrigen, aber sehr starken und zuverlässigen Hochträger aus dem Volk der Baltis. Mit ihm zusammen wollte ich den Gipfel erreichen. Noch hatte jeder von uns sein eigenes Zelt; ein Luxus, den ich uns in den ersten Tagen der Akklimatisationsphase gönnte. Grundsätzlich geht es für einen Muslim nicht, mit einer Frau, mit der er nicht verheiratet ist, im selben Zelt zu schlafen. Aber erstens gelten am Berg andere Regeln, und zweitens sind die Baltis in dieser Hinsicht ein unkompliziertes Volk. Sicher war auch Little Hussain froh über die Privatsphäre, schließlich würden wir noch genug Zeit zusammen verbringen. Der Plan war, nach ein paar Tagen im Basislager zur ersten Akklimatisierung ins Lager 1 aufzusteigen.
Ich hatte mich enorm auf diesen Berg gefreut, bemerkte aber schon im Basislager, dass meine innere Motivation fehlte. Ich kenne mich und weiß, dass ich zu Beginn einer Bergbesteigung am liebsten explodieren möchte vor Freude. Doch dieses Mal fehlte diese gewaltige Kraft, die mich normalerweise auf den Gipfel zieht. Stattdessen fühlte ich eine innere Unruhe, die zunehmend stärker wurde. Sie begleitete mich auch nachts im Zelt und hinderte mich am Einschlafen. Aus der inneren Unruhe wurde ein Herzrasen, meine Hände schwitzten, mir wurde heiß, dann wieder kalt. Die Situation war neu für mich und traf mich völlig unerwartet. In meiner Verzweiflung fing ich an, mir Erklärungen für diese eigenartigen Symptome auszudenken. Reagierte ich deshalb so intensiv, weil ich den Berg und die zum Gipfel führende Route noch nicht kannte? Weil ich nicht wusste, was auf mich zukommen würde? Wie viele Gletscherspalten es gäbe und wo diese waren? Ob wir von den mächtigen Staub- und Schneebrettlawinen verschont bleiben würden?
Trotz einer weiteren schlaflosen Nacht stand ich wie geplant morgens um vier Uhr auf und zwang mich dazu, eine Kleinigkeit zu essen. Meinen Rucksack hatte ich schon am Vorabend gepackt. Bei Finsternis machten wir uns auf zum Lager 1. Bald erreichten wir in einem Talkessel das Hochplateau, auf dem sich die mächtigen Sieben- und Achttausender im Halbkreis aneinanderreihten wie in einem Amphitheater. Es schien, als wollten sie uns sagen: »Seht her, wie schön, stolz und mächtig wir sind!« Das war auch der Moment, als ich zum ersten Mal den Gasherbrum II sah, diesen wunderschönen Berg, ein ästhetisches Meisterwerk der Schöpfung. Einladend sah er aus, wohlgesinnt, eine ebenmäßige Pyramide, von der ich meine Augen nicht mehr abwenden wollte. Je höher wir stiegen, desto mehr entspannte ich mich. Jetzt sah ich es mit eigenen Augen: Die Verhältnisse am Berg waren größtenteils gut. Einzig in der Passage zwischen Lager 1 und Lager 3 herrschte noch Lawinengefahr. Den Rest konnte ich von den Risiken her als relativ harmlos einstufen. Nach insgesamt fünf Stunden Aufstieg erreichten wir Lager 1. Gemeinsam stellten wir unsere Zelte auf, sicherten sie gegen Sturm und machten uns nach einer kurzen Rast auf den Weg zurück ins Basislager. Die erste von drei Akklimatisationstouren war geschafft. Ich war beruhigt.
Die Akklimatisationsphase ist sehr wichtig, um den Körper langsam an einen Achttausender anzupassen. Steigt man nämlich ohne oder mit ungenügender Akklimatisation zu schnell in hohe Höhen auf, erkrankt der Körper an einem Lungen- oder Hirnödem. Diese Krankheit endet meist tödlich, wenn der Bergsteiger es nicht rechtzeitig schafft, in tiefere Lagen abzusteigen. Die Akklimatisationsphase beinhaltet in der Regel drei Zyklen, in denen man am Berg gleichzeitig das vorgeschobene Basislager und die Hochlager aufbaut.
Akklimatisationszyklus 1 von 3
– Drei oder vier Tage Aufenthalt im Basislager auf rund 5000 Meter Höhe.
– Aufsteigen zum Lager 1 (identisch mit vorgeschobenem Basislager, auch »Advanced Base Camp« oder kurz ABC genannt), Lager 1 einrichten und ohne übernachten zurück ins Basislager.
– Zwei, drei Tage zum Ausruhen im Basislager verweilen.
Akklimatisationszyklus 2 von 3
– Aufsteigen zum Lager 1, einmal übernachten, aufsteigen zum Lager 2, Lager 2 einrichten, ohne übernachten zurück zum Lager 1, zweimal im Lager 1 übernachten, absteigen ins Basislager.
– Drei, vier Tage im Basislager verweilen.
Akklimatisationszyklus 3 von 3
– Aufsteigen zum Lager 1, einmal schlafen im Lager 1, aufsteigen zum Lager 2, einmal im Lager 2 übernachten, aufsteigen zum Lager 3, Lager 3 einrichten und in der Regel einmal im Lager 3