man sich nicht so gut fühlt – Abstieg zurück ins Basislager.
Gipfelanstieg
1. Tag: Aufsteigen zum Lager 1, dort übernachten.
2. Tag: Aufsteigen zum Lager 2, dort übernachten (oder bei sehr guter physischer und mentaler Verfassung direkt Aufstieg von Lager 1 zu Lager 3).
3. Tag: Aufsteigen zum Lager 3, dort übernachten.
4. Tag: Aufsteigen auf den Gipfel und danach, wenn möglich, direkter Abstieg ins Basislager.
Bevor wir also drei Tage später für den zweiten Akklimatisationszyklus erneut zum Lager 1 aufstiegen, überkamen mich nachts wie aus dem Nichts wieder dieselben Symptome. Nun machte es absolut keinen Sinn mehr. Ich kannte ja alle möglichen Gefahren und wusste, dass ich fähig war, diesen Berg zu besteigen, sofern ich gesund blieb, das Wetter mitspielte und die Lawinensituation nicht zu gefährlich wurde. Ich versuchte zu schlafen, doch mein Herz raste. Mir war heiß, dann wieder kalt, und ich verspürte absolut keine Freude. Im Gegenteil. Ich konnte mir einfach nicht erklären, warum mein Körper derart mit Stress und Panik reagierte. Doch unterkriegen ließ ich mich nicht. Um zwei Uhr morgens machten wir uns in der Dunkelheit auf den bereits bekannten Weg über den Gletscher Richtung Lager 1, wo wir eine Nacht bleiben wollten, um am folgenden Tag weiter zum Lager 2 hochzusteigen. Der Aufstieg verlief problemlos. Als wir unser Tagesziel erreicht und unser Camp bezogen hatten, kochte ich Schnee zu heißem Wasser auf und aß eine Kleinigkeit. Kurz darauf musste ich mich heftig übergeben. Später kam Durchfall dazu, und alles fing von vorn an: Herzrasen, Schweißausbrüche, Panik.
Unabhängig von dieser Expedition geriet mir vor meiner Reise nach Pakistan das Buch »Intelligente Zellen« in die Finger. Ein Buch darüber, wie Erfahrungen unsere Gene steuern. Darin beschreibt der Zellbiologe Dr. Bruce Lipton, wie unser Denken und Fühlen bis in jede einzelne unserer Zellen hineinwirkt und wie dies auf molekularer Ebene vor sich geht. Mich faszinierte dieses Buch, weil es in einer – für Laien wie mich – verständlichen Sprache erklärt, wie unser physisches Dasein auch unsere DNS bestimmt und sich alle sieben Jahre sämtliche Zellen in unserem Körper völlig neu zusammensetzen. Ich realisierte, dass das Südpol-Erlebnis vor zwei Jahren in der Antarktis nicht spurlos an mir vorbeigegangen war, und verstand, dass jede Zelle meines Körpers aufgrund der enormen Verausgabung am Südpol traumatisiert sein musste. Ja, ich war damals dem Erschöpfungstod nahe gewesen, nahm ihn als reale Präsenz wahr. Aber ich überlebte, kam zurück in die Schweiz, in meinen Alltag, erholte mich. Das am Südpol Erlebte wurde in den Hintergrund verdrängt. Dank dem Buch, das mir jetzt wieder in den Sinn kam, sah ich plötzlich die Zusammenhänge und verknüpfte, was ich gelesen hatte, mit meiner eigenen Geschichte: Mein Körper spürte, dass aufgrund meines Plans, einen Achttausender zu besteigen, wieder eine Grenzbelastung auf ihn zukommen würde. Davor wollte er sich schützen. Deswegen reagierte das vegetative Nervensystem in dieser Intensität!
Als Little Hussain morgens um sechs Uhr wie vereinbart an mein Zelt kam, um mich abzuholen, erklärte ich ihm, wir würden erst um acht losgehen. »Geh zurück in dein Zelt und schlaf noch ein bisschen«, sagte ich.
Er war irritiert, wir wussten beide, dass es keinen Sinn machen würde, abzuwarten. Das Wetter passte perfekt. Würden wir später starten, würde die Sonneneinstrahlung im Steilhang unterhalb vom Lager 2 stärker und damit die Gefahr eines Lawinenabgangs höher. Ich brauchte aber diese zwei Stunden, um mich definitiv zu entscheiden. Als Hussain pünktlich um acht Uhr zurückkam, sagte ich: »Etwas ist nur schwierig, solange man sich nicht entschieden hat. Ich habe mich entschieden: Ich kehre um!« Ich sagte ihm auch, dass ich ihm trotzdem das volle Honorar bezahlen würde. Er verstand die Welt nicht mehr, begann, mir Optionen aufzuzeigen. Meine Antwort fiel kurz aus: »Nein, ich breche ab.«
Wortlos stiegen wir ab ins Basislager, wo ich ihm sein Honorar für zwei Monate auszahlte, und gingen dann den langen Weg zurück nach Skardu. Dort hatte er das Glück, einen neuen Kunden zu finden, mit dem er den Gipfel doch noch besteigen konnte. So kam Little Hussain in jenem Jahr zu seinem doppelten Lohn, was ich ihm sehr gönnte. Ich hingegen flog zurück in die Schweiz. Ich konnte mir und meinem Körper eine derartige Belastung und Herausforderung nicht mehr zumuten. Und mit dieser Erkenntnis wurde mir schlagartig klar: Mein ursprüngliches Ziel, mein lang gehegter Traum, nach dem Everest und dem Südpol auch den Nordpol zu begehen, konnte ich vergessen. Mein dritter Pol war für mich Geschichte. Definitiv.
Gehirnerschütterung
April 2011
Monate später zog ich mir bei einem unverschuldeten Unfall eine Gehirnerschütterung zu. Der Sachverhalt war klar, aber die Versicherung sah es anders. Ich besorgte mir einen Anwalt, um für mein Recht zu kämpfen. Obwohl Kämpfen in meinem Fall eher »Ertragen« bedeutete. Ertragen, dass Tatsachen verdreht wurden. Ertragen, dass ich mich gegen Unwahrheiten wehren musste. Der ganze Prozess belastete mich sehr. Ich wurde in eine Welt katapultiert, in der es nicht mehr um Recht und gesunden Menschenverstand ging, sondern nur noch darum, von anderen ausgetrickst zu werden. Als ich mich so weit erholt hatte und mir meine Gesundheit erlaubte, wieder mit leichtem Joggen anzufangen, kam ich beim Training an einem alten Bauernhaus vorbei, auf dessen Fassade ein Satz aufgemalt war: »Allen, die mich kennen, geb’ Gott, was sie mir gönnen.« Dieser Schutzspruch ließ mich nicht mehr los. Ich wiederholte ihn in Gedanken fortan jedes Mal, wenn ich wieder in ein Loch zu fallen drohte. »Allen, die mich kennen, geb’ Gott, was sie mir gönnen.« So konnte ich mich jeweils ein bisschen beruhigen.
Die Erfahrung, dass mein Unfall von Anwälten anders ausgelegt wurde, als ich ihn erlebt hatte, und die Tatsache, dass mein Körper am Gasherbrum II die Bereitschaft für Extremleistungen verweigert hatte, war für mich eine völlig neue Erfahrung, die mir zu schaffen machte. Immer konnte ich mich bisher auf meinen starken Willen verlassen. Er war meine wichtigste Kraft, meine unerschöpfliche Energiequelle. Nun schwand er dahin. Die Frage »Was ist Willenskraft und woher kommt sie?« ließ mich nicht mehr los, und so reifte in mir die Idee, dem Thema einen Dokumentarfilm zu widmen. Ein Jahr lang wollte ich das Handwerk des Filmemachens erlernen und fand nach einigem Recherchieren eine Schule, die meinen Vorstellungen entsprach – in Hollywood. Ausgerechnet!
Ich leitete alles Notwendige in die Wege, musste mit meiner Reise nach Los Angeles aber noch einige Monate zuwarten, weil mein Gehirn nach meinem Unfall noch nicht genügend leistungsfähig war. Noch immer plagten mich Kopfschmerzen, sobald ich mich für längere Zeit konzentrieren musste, und jeder Druckwechsel in der Atmosphäre kündigte sich mit einem stumpfen Stechen unter der Hirnrinde an, das sich rasch von den Augen bis zum Hinterkopf ausdehnte. Der Lebenspartner einer lieben Freundin war damals überraschend verstorben. Ich kümmerte mich um sie und sie sich um mich. Sie fuhr mich zu meinen Referaten und Veranstaltungen und hielt mir den Rücken frei. So konnte ich immerhin Teilen meiner Arbeit nachgehen.
Es war Januar 2012, als ich mich von meinen Lieben verabschiedete und nach Los Angeles reiste. Die Millionenmetropole, direkt an der US-amerikanischen Pazifikküste, mag für viele eine Traum-Destination sein, für mich war sie der reine Albtraum. Nicht nur, dass ich schon wieder weit weg war von meinem Lebenspartner, meinen Freunden und meinen geliebten Bergen, nein, es war erst noch Winter, und während ich in Hollywood die Schulbank drückte und erfolglos versuchte, mein Heimweh zu verdrängen, unternahmen sie daheim die tollsten Skitouren. Aber was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, zog ich durch. Umso mehr freute ich mich, im Mai für ein paar Tage heimzukommen, um meinen 45. Geburtstag zu feiern.
Wir richteten uns gemütlich in meiner Waldhütte ein, die ich vor ein paar Jahren gekauft hatte und in die ich mich seither gern hin und wieder zurückziehe, wir grillierten, lachten – das Leben war gut. Kaum hatten sich dann die letzten Gäste verabschiedet, überraschte mich mein Partner mit einem speziellen Geburtstagsgeschenk: »Evelyne, ich liebe eine andere Frau«, sagte er, einfach so. Sein Geständnis traf mich wie ein Faustschlag. Wir hatten in unserer zweijährigen Beziehung weder Krisen noch Streitereien gehabt. Nie zuvor war ich mir so sicher gewesen, meinen Seelenpartner gefunden zu haben. Bis dass der Tod uns scheidet, das war für mich klar. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, was ich damals fühlte. In Momenten wie diesen ist meine Sprache am Ende.
Die