Evelyne Binsack

Grenzgängerin


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mich schlecht konzentrieren, würde vermutlich die Höhe nicht mehr gut vertragen, was ich bereits bei kleineren Bergtouren in der umliegenden Region spürte, und meine Beziehung war ein Scherbenhaufen. Auch der laufende Strafprozess gegen die Unfallverursacher vor einem Jahr setzte mir nach wie vor zu. Ich kannte den Ausgang nicht, musste viel Geld investieren, es wurden Unwahrheiten verbreitet. Erst als mein ehemaliger Partner und ich uns kurz vor meiner Rückkehr nach Los Angeles dazu entschieden, uns noch einmal eine Chance zu geben, fasste ich neuen Mut. Weitere sieben Monate später beendete ich die Filmschule und kehrte hoffnungsvoll in die Schweiz zurück. Doch kaum war ich zwei Wochen daheim, hatte mein Freund erneut eine Überraschung für mich bereit: Er brauche eine Auszeit, sagte er. Das war endgültig zu viel für mich. Ich klappte wortwörtlich zusammen. Minuten fühlten sich an wie Stunden, Stunden wie Tage, und die Tage dehnten sich ins Endlose aus. Die Zeit stand still, während ich in einem Gefühl der Angst und Unsicherheit verharrte. Ich war am Tiefpunkt angelangt.

      In meiner Verzweiflung rief ich meine Schwester an. Ich brauchte sie, denn ich wusste nicht, auf was für Gedanken ich in meiner Not noch kommen würde. Sie kam sofort zu mir, und wenig später fand ich mich bei einem Psychologen wieder, der mich als Notfall aufnahm. Nach ein paar Tagen hatte ich mich wieder einigermaßen aufgerappelt. Auch meine Freundinnen waren mir in jener Zeit eine wertvolle Stütze. Bei einem der unzähligen Gespräche fragte ich eine von ihnen, was ihr damals über die Trennung von ihrem Lebenspartner hinweggeholfen habe.

      »Mein Entschluss, eine neue Herausforderung anzusteuern und die Bergführer-Ausbildung zu machen«, antwortete sie. Als sie für sich dieses hohe Ziel gesetzt habe, sei es mit ihr aufwärtsgegangen. In diesem Moment klopfte der Nordpol wieder an meine Tür, und zwar in einer Heftigkeit, die mir keine andere Wahl ließ, als ihn hereinzubitten. Lange hatte ich ihn ignoriert. Aber ich wollte dieses Ziel, meinen dritten Pol, trotz allem erreichen, das wurde mir schlagartig bewusst. Er war der gute Freund, den ich so lange vermisst hatte und der jetzt plötzlich wieder vor mir stand und mich herzlich umarmte.

      Sofort begann es in meinem Kopf zu rotieren. Mein erster Gedanke war, dass ich von daheim aus mit dem Fahrrad nach Russland fahren und von dort aus eine wilde Tour zum Nordpol machen könnte. Ich recherchierte, merkte aber schnell, dass sich dieses Unterfangen nicht finanzieren ließe. Zusammen mit der logistischen Unterstützung, hätte mich diese Ost-Variante mindestens eine halbe Million Franken gekostet. Dieses Geld hatte ich nicht, und ich wollte es auch nicht mit der Hilfe von Sponsoren auftreiben. Außerdem war mir klar, dass ich mich nicht noch einmal so nahe am Limit bewegen wollte wie damals bei meiner Expedition zum Südpol. Ich überlegte, suchte Lösungen. Eine Alternative wäre die West-Variante via Nordkap, Grönland und Spitzbergen bis zum Nordpol. Diese wäre kürzer und ließe sich in vier einzelne Etappen aufteilen, was mir zwischendurch immer wieder Verschnaufpausen daheim ermöglichen würde.

      Doch mein Ego und mein Stolz stellten sich quer. Sie wollten nicht die bequeme West-Variante – die ich innerlich als Angsthasen-Route zu bezeichnen begann, weil sie kürzer war und auf der ersten Etappe durch touristisch erschlossene Gebiete führte. Mein Ego wollte die wilde, die ursprüngliche, die coole Variante via Russland! Aber wie ich es auch drehte und wendete: Die West-Variante war die vernünftigere von beiden. Sie war meine reelle Chance, nach dem Everest und dem Südpol noch meinen dritten Pol zu erreichen. Die Entscheidung fiel mir trotzdem schwer – denn für mich bedeutete die Angsthasen-Route ein Eingestehen von Schwäche. Das Gute an der Sache aber war: Ich hatte meinen inneren Widerstand gegen den Nordpol bezwungen und einen riesigen Schritt vorwärts gemacht. Ich hatte wieder ein Ziel, endlich.

      DIE VORBEREITUNG

      2013 bis 2016

      Abenteuer wie die bevorstehende Expedition zum Nordpol oder auch die Expedition zwischen 2006 und 2007 zum Südpol benötigen nebst aufwendigen Vorbereitungen und großen physischen Grundvoraussetzungen vor allem eines: die Bereitwilligkeit im Kopf. Eine absolute mentale und geistige Zusage für das Ziel. Für das Ziel, von dem man weiß, dass es einen in seiner Härte an die Grenzen und zeitweise darüber hinaus fordern wird. Eine solche innere Bereitschaft entsteht nicht über Nacht. Sie ist das jahrelange, langsame Heranwachsen einer Energie, die nach außen unsichtbar ist, von der aber alles abhängt. Vor allem das Überleben. Deswegen wähle ich für meine Nordpolexpedition den Namen »90° North – 100 % Commitment«. Neunzig Grad nördliche Breite beschreibt den geografischen Nordpol. Um dieses Ziel aus eigener Muskelkraft zu erreichen, braucht es ein hundertprozentiges Commitment, eine hundertprozentige innere Verpflichtung gegenüber dem bevorstehenden Ziel. Es ist das Bejahen von Ängsten und Zweifeln, von Mängeln und Unsicherheiten. Es ist das Eintauchen in eine bedrohliche Welt, die alles von einem fordert, alles von einem nimmt, in der man nichts mehr verlieren kann und das Überleben das Einzige ist, das übrig bleibt.

      Reinhold Messner spricht in diesem Zusammenhang in einem Interview, das ich mit ihm für meinen Dokumentarfilm führte, von »Wiedergeburt«. Er sagte: »Diese Wiedergeburt, also dieses Gefühl, wiedergeboren zu sein, ist nur möglich, wenn ich aus einer lebensgefährlichen Welt komme. Die Kunst ist, nicht umzukommen. Aber ich gehe los und weiß, es könnte etwas passieren. Denn wenn ich allein unterwegs bin, muss nur eine Kleinigkeit passieren, dann bin ich tot. Aber ich will nicht umkommen. Und ich habe zum Glück einen Überlebensinstinkt, der mich wahrscheinlich rechtzeitig vor dem Risiko warnt. Nur so kommen die Ängste zum Tragen, die Zweifel und die Hoffnungslosigkeit. Ich werde zurückgeworfen auf meine Beschränktheit und auf meine Mängel. Und obwohl ich also umkommen könnte, gehe ich dorthin, um nicht umzukommen. Dann komme ich zurück, und mir ist nichts passiert. Ich schnaufe durch, vor allem wegen dieses Gefühls: Ich bin wiedergeboren.«

      Nebst der mentalen ist auch die praktische Vorbereitung für den Nordpol eine Expedition für sich. Selbst wenn ich mich dazu entschieden habe, den Gang zum Nordpol in vier Einzeletappen aufzuteilen, bleibt die Beschaffung des Materials anspruchsvoll. Alles ist sehr individuell, kaum etwas lässt sich delegieren. Es gibt in der Schweiz zwar unzählige Bergsportläden, aber keinen einzigen Shop für polare Expeditionen. Ich muss deshalb in verschiedene Länder reisen, um die erforderliche Spezialausrüstung zusammenzutragen, und mit Gleichgesinnten reden, die ebenfalls schon polare Erfahrungen gemacht haben. Nur, der eine macht es so, und die andere macht es anders. Ich muss also selbst herausfinden, was für mich das Beste ist.

      Ich brauche zum Beispiel Spezialnahrung, die täglich 6000 bis 7000 Kalorien abdecken muss, ein Kochbrennersystem, mit dem ich mein arktistaugliches Zelt während des Vorwärmprozesses des Benzinkochers nicht schon am ersten Tag abfackle, Ski mit passender Laufbindung, damit sich die Achillessehnen unter der Zuglast des Hundert-Kilogramm-Schlittens nicht bereits nach einer Woche entzünden oder – noch schlimmer – abreißen, eine Schusswaffe mit entsprechender Bewilligung, ohne die Grönland und Spitzbergen keine Expeditionsbewilligungen erteilen, alle notwendigen Dokumente für die Einreise, Versicherungen, ein Satellitentelefon samt Notsender, eine taugliche Foto- und Filmausrüstung, die bei minus 55 Grad nicht den Geist aufgibt, Solargeräte zum Füttern der Akkus und Batterien und vieles mehr. Ganz zu schweigen vom Backoffice daheim, das von Dritten betreut werden muss. Zum Vergleich: Eine Expedition auf einen Achttausender im Himalaja stelle ich innerhalb einer Woche auf die Beine. Ich muss im Grunde nur den Entschluss fassen, die Formalitäten erledigen, mich mit den richtigen Menschen in Nepal, Tibet oder Pakistan zusammentun, packen und aufbrechen. That’s it.

      Natürlich helfen mir meine Erfahrungen aus bisherigen Expeditionen bei den Vorbereitungen. Sowohl der Gang zum Südpol wie auch die Trainings zuvor in den Jahren 2003 und 2004 in den Nordwest-Territorien und auf der Baffin-Insel im arktischen Kanada haben mir viel Know-how verschafft. Und doch werden in der Arktis ganz andere Themen auf mich warten als in der Antarktis.

      Am Nordpol herrscht zum Beispiel eine andere Kälte als überall sonst auf der Welt. Man geht dort auf gefrorenem Wasser und nicht auf solidem Untergrund. Deshalb muss man auch das Gelände anders »lesen«. Sieht man etwa dunkle Wolken am Horizont, kann das ein Zeichen einer Schlechtwetterfront sein. Es kann aber auch bedeuten, dass sich eine offene Wasserspalte am Himmel spiegelt und die Wolken deswegen dunkler aussehen. Oder: Am Südpol ist die gefühlte Temperatur aufgrund des permanenten Windes oft kälter als am Nordpol. Aber die Antarktis ist der trockenste Kontinent der Welt, weshalb man den Schlafsack