sehen konnte. Nun hatte er in der Nacht unter Anwendung von geweihter Kreide, geschwärzten Lichtern und mit Hilfe des Totenkopfes durch Anrufung und Beschwörung unterirdischer Geister die Abgeschiedene zitieren wollen, um noch einmal mit der über alles Geliebten zu sprechen. Aber der Geist der Verklärten war ausgeblieben. Da hatte Hirzel Totenkopf und Hexenbuch irgendwo im Walde verscharrt und war schmerzerfüllt, im Taumel des Hungers, weitergeirrt, nur von dem Drange beseelt, hinzusinken und zu sterben. Aber der Flor des Todes, der sich immer mehr vor seinen Augen verdichtete, führte ihn wieder an den Ort zurück, von dem er ausgegangen war, und als er die Glocken der Stadt in der Tiefe unter sich vernommen hatte, war die Sucht zu leben wieder in ihm erwacht.
Tiefgebeugt und Tränen in den Äugen schlich Malchow davon. Hirzel aber lag auf seinem Bett, das Gesicht in die Kissen vergraben und hob den Kopf nicht, den ganzen Abend und die ganze Nacht nicht.
Schon am anderen Morgen war die ganze Stadt voll von der seltsamen Begebenheit, und der Stadtpfarrer machte sich auf die Beine, um im Interesse des Ansehens der Kirche und ihrer Heiligtümer die Relegation Hirzels von der Anstalt zu verlangen. Vergebens wandte Herr Malchow alles an, um den wohlgenährten, strengen Herrn dieser Verirrung kindlicher Liebe gegenüber freundlicher zu stimmen. Er erreichte nichts, als daß der Pfarrer Nitsche erklärte, die Angelegenheit mit seinen Confratres noch einmal zu besprechen und ihm innerhalb achtundvierzig Stunden Mitteilung von dem Ausfall der Konferenz zu machen. Kaum hatte Hirzel von diesem Stande der Dinge gehört, da setzte er sich im Bett auf. In seinem Gesicht lag Todesschrecken. Am Ende kam eine schmerzvolle Freude in seine Züge. Er zog sich an, sagte allen Adieu und erklärte, zum Anstaltsleiter zu gehen und alles aus der Welt zu schaffen. Nachmittags fand man ihn erschossen im Walde.
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Wir litten alle unter schwerem Druck und undurchdringlichen Heimsuchungen, da der sanfte, liebe Hirzel plötzlich neben unseren Füßen in den Abgrund, in die Nacht versunken war, die alles umgibt. Unser aller Leben war durch seinen Tod unsicher und gefahrvoll geworden. Am unheilvollsten wirkte sein Sterben auf uns »ewige Brüder«. Wir getrauten uns nicht, einander mit dem geheimen Handdruck zu begrüßen, gingen uns aus dem Wege und litten doch gleicherweise unter der Furcht, es könne eines Tags wieder das Lichtstümpfchen auf dem Flurfenster der Anstalt stehen, durch das Hirzel die Versammlung im Walde anzeigte. Mit scheuem Blick streiften wir jeden Morgen die gefahrvolle Stelle und atmeten erleichtert auf, wenn sie leer war. Die Hand des Toten blieb in seinem Grabe, und so verliefen sich die Aufregungen unserer Seele gemach, und das Wässerlein unserer Tage schlüpfte wieder wie immer über die gewohnten kleinen Sorgensteine hin. Ja, wir wurden emsiger als vorher in der Erfüllung unserer Pflichten, einesteils, um dadurch die Entdeckung des Geheimbundes zu verhüten, andernteils, um wieder sicher zu werden in unserm Leben.
Allein, es war seltsam, wenigstens erging es mir so; je höher die Mauer wuchs, mit der ich mich von jenen abenteuerlichen Abschweifungen trennte, um so unbehaglicher und leerer wurde es um mich und in mir. Wie schutz- und hilflos stand ich in meinem Leben, als ich nicht mehr von Zeit zu Zeit in der Grenzenlosigkeit mich verlieren, in der Buntheit mich vertauschen und in dem gruseligen Schatten rätselvoller Kräfte untertauchen konnte. Immer mißmutiger griff ich mich an dem engen Gestänge der Alltäglichkeit hin, mit einer noch nicht gerichteten Vergälltheit, von blinder Auflehnungssucht erfüllt. Wäre ich mir dazumal so rücksichtslos zu Leibe gegangen, wie ich es später oft fertigbrachte, so wäre es mir klar geworden, daß das Führen in mir zu einem energischen Schritt ausholte. Aber ich verstand mich nicht und ließ es immer bedrohlicher anwachsen. Eines Nachmittags sprang es mir fix und fertig ins Gesicht. Ich ging in einem Schwarme von Mitschülern die Schönauer Allee entlang, und wir käscherten zum Vergnügen in unserem Wissen umher, jonglierten mit Spitzfindigkeiten, stellten durch vieldeutige Fragen einander Fallgruben und belachten die Genasführten unbändig laut. An einer schroffen Kurve stand der Stadtpfarrer Nitsche, wie aus dem Boden gewachsen, vor uns. Mochte er nun glauben, unser lautes Gelächter habe ihm gegolten, oder war ihm alle Fröhlichkeit als sündige Ausgelassenheit unangenehm, kurz, er stutzte vor unserer langen Reihe, die über die ganze Straße reichte und ließ mit einem indignierten Lächeln sein Auge das bunte Glied hinuntergleiten. Dann setzte er, das Gesicht streng und heilig, den Stock weiter. Vor mir aber stand blitzartig scharf das Bild des Pfarrers Zimbal, da er uns Entlassenen im Flur des Pfarrhauses gegenübertrat und mich nachher schändete, und heißer Zorn warf mir das Blut in den Kopf. Unsere Reihe zerriß, alle zogen tief die Mütze und verneigten sich; ich allein ging aufgereckt und das Gesicht angewandt vorüber. Kaum waren wir außer Hörweite, so fielen alle mit Fragen über mich her, warum ich dem Geistlichen den Gruß verweigert habe. »Weil er den Hirzel in den Tod getrieben hat«, antwortete ich und war plötzlich, durch das Bild verlockt, in einem Gedankengefüge, in einer Kette von Notwendigkeiten, die sich unter meinem Bewußtsein zusammengeschoben und mit dem Erschrecken, dem Grimm und Schmerz beladen hatte, mit allem Demütigenden und Bösen, das ich seit je von dem Geweihten meiner Heimatsstadt erfahren mußte. In heißer Leidenschaft redete ich ein Langes und Breites davon, daß die Lieblosigkeit Nitsches allein Schuld sei an dem grausen Ende Hirzels. Die meisten saßen – wir hatten uns an einen Hang hingelagert – betroffen da. Dann brach der Lärm los, fast jeder wollte das Gleiche wie ich gedacht haben, stimmte mir bei und vervollständigte durch Erzählungen das Charakterbild des Pfarrers Nitsche zum Ausdruck niedrigster Bosheit, Infamie und Hinterlist. Man erging sich in Verwünschungen und Drohungen. Am schlimmsten von allen trieb es einer, mit Namen Rotter, ein plumper Gesell, voll roher Bauernspäße, mit einem stoßenden Gange und großen Nasenlöchern, die von Knorpeln halb geschlossen waren. Er hatte sich eine Gerte von einem Strauch geschnitten, hoppste toll umher, hieb wütend durch die Luft und floß von Schimpfwörtern über, die um so unflätiger klangen, weil er im Dialekt sprach. Fortwährend schwor er, den Pfaffen, wo es immer sei, »mitten in die Larve« zu schlagen. Nur ein blonder, zaghafter Knabe warnte und bat uns, sich nicht an Gott zu versündigen, der doch alles sehe und höre. Niemand achtete auf ihn, und in größter Aufregung gingen wir auseinander.
Schon in den Abendstudien explodierte die ganze Anstalt wie ein Pulverfaß; in allen dunklen Ecken ballten sich Rotten von Verschwörern zusammen. In der zweiten Nacht wurden dem Pfarrer die Fenster eingeworfen. Dann duckte sich die allgemeine Rachsucht so unvermittelt und kläglich, wie blind und bramarbasierend sie aufgejächt war, und hatte mich der gespreizte Lärm der Revolte unangenehm berührt, so schämte ich mich nun für all die Feigen, die beim Heraufziehen der Vergeltung sich so klein und schleimfromm wie nur irgend möglich machten. Niemand wollte die Steine geworfen haben, und ich ärgerte mich fast, nicht an dem Glase des Pfarrhauses gesündigt zu haben, denn dann hätte ich ihnen doch zeigen können, wie ein Mann handeln muß. Aber schon bald bot sich mir Gelegenheit, meine Festigkeit auf die Probe zu stellen. Auf irgendeine Weise fraß sich der Verdacht bis zu den Ohren unseres guten Herrn Malchow, der nächtliche Kanonier der Pfarrwohnung stecke unter seinen Schülern, und war der sanfte Mann seit Hirzels Tode mit umwölkter Stirn umhergegangen, so verlor er bei dieser Nachricht etwas die Haltung eines liebreichen Menschen und leitete, von dem Ordnungsathleten Bleyer, dem zweiten Lehrer, angestachelt, eine gewaltsame Inquisition ein.
Eine bleiche Furcht kroch durch alle Bankreihen, als eines Vormittags plötzlich das Schnurren des unterrichtlichen Kreisels abbrach und einer um den anderen zu scharfem Verhör in das Konferenzzimmer geschmettert wurde. Freilich beschränkte sich die Untersuchung nur auf Räudel, ganz Fromme und solche, die sich markant von der Masse abhoben. Doch schon, nachdem die ersten drei, unter ihnen Kapitän Gläsner, aus dem Feuer zurückgekehrt waren, erkannte man, daß die »Schuster« auch Witterung von der ewigen Brüderschaft bekommen hatten, und der geheimnisvolle Handdruck wanderte als Versprechen unzerbrechlichen Schweigens unter den Bänken durch die Klasse. Da schnarrte Bleyer auch mich vor den grünen Tisch. Herr Malchow saß vor einem großen Bogen Papiers und sah mit kummervoller Liebe auf mich. Bleyer trat eine Wanderung durch die Stube an und schlug mit den Hacken vor Zorn laut auf, weil seinem Chef schon so bald der scharfe Schneid abhanden gekommen war.
»Du hast einen Haß auf den Hochwürdigen Herrn Pfarrer?« fragte Malchow.
»Nein«, antwortete ich.
»Was, du unterstehst dich, zu lügen?« fuhr mich Bleyer an.
»Ich sage die Wahrheit«, antwortete ich ruhig. Herr Malchow nickte mir zu und fuhr weiter