ich »aber« gesagt, so sauste Bleyer wie ein Geschoß auf mich ein. »So? Aber! Allerliebst! Du willst noch ›aber‹ sagen, Bürschchen? Herr Dirigent, er hat sich einer Lüge schuldig gemacht. Denn aus Liebe und Hochachtung unterläßt niemand den Gruß. Eine riesige Rüdigkeit! Eine riesige Rüpelhaftigkeit!« Er gurrte das häufige »r« aus dem Bauche, der Gegend des untersten Westenknopfes und schnappte kriegerisch mit dem Finger.
Malchow sah unter den Tisch. Als der Wütende fertig war, hob er seine Augen und sagte: »Nun, was wolltest du sagen, Faber?«
Der Scharfmacher stand einen Augenblick sprachlos da. Dann verließ er mit langen Schritten das Zimmer.
Als Malchow sich allein sah, ward ihm wohler. Er stand auf und fuhr sich übers Gesicht. Darauf trat er liebreich zu mir, und ich bekannte, daß ich beim Auftauchen des Pfarrers an eine Demütigung erinnert worden sei, die mir einst Herr Zimbal angetan habe. Aus einem Zorn, der mich überrumpelt, habe ich dem Herrn den Gruß nicht geboten. Im übrigen gestand ich, der Meinung zu sein, Pfarrer Nitsche habe Hirzel in den Tod getrieben.
Herr Malchow verharrte schwermütig und wortlos eine Weile am Tisch, dann verwies er mir den freventlichen Argwohn, fragte mich, ob mir etwas von einem Geheimbund bekannt sei, und weil ich dazu die größten, erstauntesten Augen der Welt machte, wurde er sehr vergnügt. – Daß ich an der Fensterwerferei nicht beteiligt sei, stehe für ihn ohne weiteres fest.
»Nja, du liebe Jugend,« sagte er dann mit gütigem Verweisen, »husch, husch! Nja! Siehst du, ein Mann, du willst doch ein Mann werden, der muß sehen, sinnen und dann erst sagen. Und will das Pferdl wieder mal mit dir durchgehen, denk' an die drei ›S‹ und an deinen Dirigenten, der dich eigentlich entgegen höherer Weisung aufgenommen hat.«
Das verletzte meinen Stolz. »Habe ich die Prüfung nicht bestanden, Herr Dirigent?« fragte ich erregt.
»Nja, alles,« antwortete er, »sehr gut sogar! Auch jetzt bin ich mit dir zufrieden, wenn auch manchmal zu viel hartes Holz an dir ist. Allein ich weiß, du wirst mal ein tüchtiger Lehrer werden, und damit du siehst, wie gut ich es mit dir meine, sollst du wissen, daß der hochwürdige Herr Pfarrer Zimbal mich gewarnt hat, dich aufzunehmen, denn deine Führung hat wohl früher viel zu wünschen übrig gelassen.«
In seiner Freude, mich nicht strafen zu müssen, schwatzte er heraus, was er gewiß nie sagen wollte und sah nicht, welchen Eindruck es auf mich machte. Die tiefgeheimen Wunden rissen in mir auf, eisiger Schmerz, ein Lächeln qualvoller Genugtuung erfüllte mich. Wie betäubt schlich ich davon.
Draußen umringten mich die Mitschüler mit besorgten Mienen. Nur der blonde, fromme Denunziant kauerte blaß auf seinem Platz. Sie hatten den wilden Bleyer herauskommen sehen und glaubten, ich sei entlassen.
Als ich in derselben Nacht lag und über mich in das Finstere sah, während die anderen schliefen, fiel mir der Gedanke ein, der mir beim Anblick des Ochsengefährtes gekommen war, und ohne Skrupel setzte ich daran, daß es mit den Geistlichen wohl ähnlich sein müßte. Sie dienen der Kirche – ich verstand damals darunter das einsame Gottesgebäude und den stets verschlossenen Pfarrhof – so kommt's eben, daß sie anders werden wie die übrigen. Aber was mir der Pfarrer Zimbal angetan hatte, war doch Sünde! Nun, dann sündigen sie eben. Da lebte ja vor Jahren in meiner Vaterstadt ein Kaplan, der mit der Tochter aus dem »Gasthaus zu den elftausend Jungfrauen« eine Liebschaft und dann ein Kind hatte. Als alles herauskam, floh er, ging aber mit dem Schiff, auf dem er nach Amerika fahren wollte, unter. Nun mußte er alle Nacht als Maus über die Saiten des alten Klaviers laufen, das man in eine gemiedene Stube getragen hatte. Außerdem schlief doch der Pfarrer Mücke aus Siebeneiche oft mitten während des Meßopfers ein, und stieß der Meßner ihn an, sagte er: »Ich paß!«, denn er träumte dann vom Mauscheln, dem er bei tapferem Kannenschwung bis hart an das Geisterstündlein zu huldigen pflegte.
Also, basta, sann ich, die Pfarrer sündigen eben. Damit drehte ich mich gegen die Wand, um einzuschlafen. Aber dem Blick des Auges, der auch hinter dem geschlossenen Lide sich nicht beruhigen konnte, schien die Mauer erst leicht schwefelgelb, dann leuchtend orange zu glühen. Aus dem tief goldigen Licht wurde ein durchsonntes Kirchenschiff. Der Pfarrer Zimbal stand auf der Kanzel und schrie: »Tut euch auf, ihr Pforten des ewigen Heils!«, und mein Vater und ich schlichen beschimpft davon.
Das regte mich so auf, daß ich bald wieder auf dem Rücken lag und weiter bohrte: Im Katechismus steht doch, der heilige Geist sucht sich die Priester aus, und sie wohnen gleichsam in dem Alkoven, neben des Herrgotts guter Stube und verwalten seinen Gnadenschatz. Wie ist's da möglich, daß sie sündigen? Entweder ist Gott nicht klug genug, ihre Arglist schon im voraus zu erkennen, oder es fehlt ihm die Gewalt, die Unwürdigen aus den Kirchen zu schmeißen. Denn auch die bösen Pfarrer hören Beichte, kommunizieren, segnen Ehen ein und taufen, bleiben also immer noch das Rohr, durch das uns Gottes Gnadenschätze zuströmen. Ist da Gottes Gnade noch dieselbe, wenn sie durch solche Seelen gegangen ist? Schadet das Wasser meiner Gesundheit nicht, und wird es nicht ekelhaft verderbt, wenn es durch ein Jauchenrohr mir zufließt? Kommen da nicht Unheiligkeiten auch unter die Lehre und das Gesetz? Am Ende ist alles anders, als es im Katechismus steht, und Luther, Calwin, Zwingli und unser heimischer Schwenkfeld, die gegen arge Mißbräuche zu Felde zogen, behaupteten ein gutes Recht.
Ich lag in einem seelischen Wundfieber. Eine Hitze, die mir ins Gesicht schlug, sog mich in immer tiefere Zweifel hinein. Es waren Stunden wollüstiger Angst, wie zuletzt alles, losgenietet und abgebrochen, in buntem Wirbel um mich flog. Gegen das Ende, als sich meine Phantasie müde getobt hatte, fielen eine solche Öde und das Gefühl einer solch völligen Ratlosigkeit über mich her, daß ich zu beten versuchte, um mich aus der Not zu retten. Ich hauchte wohl lange, heiße Worte in meine Kissen hinein, aber sie hatten keine Kraft, sondern vermehrten nur die Betäubung, in die, bis zur schmerzvollen Pein, immer wieder Rinkes Stimme freche und gemeine Witzeleien krähte. Wie ein Trunkener, verwüstet und dumpf, kroch ich in den Schlaf, der mich mit verwildertem Träumen durch die ganze Nacht hetzte und am Morgen in den Tag, wie in ekelhaftes, gemeines Beginnen entließ.
Darum entschloß ich mich, der Anstalt und somit dem Lehramte den Rücken zu kehren und fühlte mich erlöst und geborgen, als mein Brief in der Wäschekiste unterwegs war. Ich zog es vor, das Schreiben mit dem Fuhrmann Feige nach Hause gelangen zu lassen, weil es nur so sicher in die Hände meiner Mutter kam, der ich, ohne Angabe von Gründen, meine Absicht als Wunsch kundgab und sie bat, den Vater unauffällig über seine Meinung auszukundschaften. Der Jugend bedeutet jeder feste Entschluß schon seine Erfüllung, und während die Antwort noch ausstand, verfügte ich über mein Leben, als sei es schon nicht mehr gebunden. Das Erlebnis mit dem Kapitän Gläsner hatte meine kindliche Begeisterung für den Schiffsdienst abgekühlt, und so fand ich, im Bestreben, mich dem Einfluß der Kirche möglichst zu entziehen, die Laufbahn eines Försters als schön und erstrebenswert. Ich sah mich schon, die Flinte auf dem Rücken, den Hund an der Seite, durch den hohen Wald gehen, und ob ich auch keinem Menschen etwas von dem Plane verriet, es ruckte mir doch den Kopf höher und ließ mich zu einer Art überheblicher Gleichgültigkeit kommen.
Dieser Episode der inneren Befreitheit bereitete der Brief meiner Mutter ein jähes Ende. Mit ihrer schweren Arbeitshand hatte sie in großen, hilflosen Buchstaben die letzten Vorgänge in unserem Hause und an meinem Vater niedergeschrieben. Wie ein freudiger Schreck durchfuhr es mich, als ich unter der Wäsche den großen Bogen hervorzog, der kraus mit den lieben Schriftzügen bedeckt war. Stube und Garten wurden mir zu eng. Auf einer Anhöhe, unweit der Stadt, las ich die Worte meiner Mutter immer und immer wieder, und was mir von dem bunten Rauch der Abenteuerlust in den Ferien fast verdeckt worden war, das trübe Schicksal, das sich immer fester in den Wänden unseres Hauses einnistete, stand Plötzlich scharf und drohend vor mir: Mein Vater litt zwar nicht mehr unter den Anfeindungen und Verunglimpfungen seiner Mitbürger, aber alles mied ihn wie einen Verfemten und sein Geschäft wie eine Spelunke. Das Hufeisen auf der Ladentürschwelle rostete, weil die Füße der Kunden seine beuligen Nägel nicht mehr blank kratzten. Die Werktafeln donnerten nicht mehr unter Hammerschlägen. Vor Wochen war der letzte Gesell davongegangen, denn er hatte es nicht ausgehalten, den ganzen Tag auf dem Rössel zu sitzen und die Daumen umeinanderzudrehen. Die Freude an meinen Fortschritten hielt meinen Vater allein noch aufrecht und brachte von Zeit zu Zeit den alten Mut in seine Augen.