ist seit Tagen schon hartnäckig«, sagte sie. »Eigentlich von der Stunde an, da du bei uns eintrafst. Sonst, wenn ich singe, und steht sie noch so schwarz und bösartig in der Ecke, kann sie sich nicht halten. Aber vorhin, hast du's gesehen?, floß sie dunkel bis nahe an den Tisch herüber und schluckte mein Lied ein, das wie ein Schleier um sie sank.«
Ich begriff immer noch nicht, was sie meinte, und sah, wenn auch nicht mehr so sicher, ihr erwartungsvoll aufs Gesicht, das forschend nach der Tür gekehrt war. Und weil ich ihr doch so zusetzte, fuhr sie zu reden fort, immer das Auge auf die Tür geheftet, als könne sie jeden Augenblick von Geisterhand geöffnet werden, »da nahm und führte sie ihn hinaus. Aber draußen wußte er, wer neben ihm stehe und jagte mit Worten an ihr und trat auf, als sie nicht wich. – Töten wird sie ihn zwar nicht, wie sie Anna mit Hitze erstickt hat, aber sterben kann er an ihr, wenn das so fortgeht.«
Jetzt ging mir der Sinn auf. »Du meinst die Großmutter?« fragte ich.
»Um Gottes willen, nicht den Namen!« Mutter sprang auf und versiegelte meine Lippen mit drei Kreuzen.
»Und wenn du dich vor ihr hüten willst, sprich und denke nie ihren Namen. Das vermag sie herbeizuziehen.«
»Mutter!« rief ich.
Aber die Gütige lächelte nur überlegen-bitter, schüttelte den Kopf und strich mit einer raschen Handbewegung meinen Zweifel aus der Luft.
»Franz,« sprach sie dann, »ich weiß es! Sie hat ihn ja vor ihrem Tode gebunden und verschnürt, und dann ist sie nicht gestorben, sondern als Leiche, mit Schuhen an den Füßen, dem Tuch über der Stirn aus dem Leben hinausgegangen. Weißt du, dein Vater war vor ihrem Verschwinden ein lachender Hüpfer, froh und frisch wie nur einer, dem die Haare kraus um die Ohren stehen. Und nun – wann hast du ihn je einmal lachen sehen, solange du lebst? Und alles, was er anrührt, und was in seine Nähe kommt, verwandelt sich ins Schwere und Freudlose.«
Das trieb mich auf und jagte mich durch die Stube. Eine heiße Empörung gegen die Ansicht der Mutter und ein leidenschaftliches Einsaugen ihrer mystischen Furcht stritten in mir. Nachdem ich zweimal neben ihrem Stuhle hin und her durch die Stube geflogen war, blieb ich vor ihr stehen und fragte: »Und hat sie auch den Tischler Rinke gemacht? Was? Und des Pfarrer Zimbals Haß gegen ihn und mich?«
Sie nickte schmucklos und bestimmt, nahm meine zuckende Hand und zog mich auf einen Stuhl neben sich: »Komm', setz' dich, Franz! Siehst du, alles! Sogar den guten Dorn hat sie solange umhergewirbelt, bis er den Verstand verloren hat.«
»Und wer hat den Dorn-Robert zum Diebstahl getrieben und die Frau an der Wäscheschnur aufgehängt, etwa auch sie?« fragte ich mit spöttischem Lächeln. »Verzeihe, Mutter, aber das ist Torheit.«
Doch sie antwortete mit vollkommener Ruhe und Sicherheit: »Warum er das so gefügt und geschlungen hat, weiß ich nicht. Seine wirkenden Hände sind in ewigem Dunkel.«
»Wie denn ›Er‹, warum denn nun plötzlich ›Er‹?« »Nun ja, Gott, der Herr!« »Ich dachte, das ist mehr der Teufel! –«
»Vielleicht auch, kannst recht haben. Denn er lenkt ja alle Geister. Siehst du. Franz, du erinnerst dich doch noch, ehe du fortgingst vor drei Jahren, im Frühling, in der Nacht hat es dich aus dem Bett gefühlt, und du hast den Rinke-Tischler heruntergestoßen. Ich habe damals anders sprechen müssen, weil dein Vater es wollte. Siehst du, da hatte er ihn in der Gewalt, den Elenden, und hat ihn nicht gepackt, vor das Gericht geschleppt und sich und uns alle gereinigt. Mein lieber Junge. Ich habe vor ihm gelegen auf den Knien und um Rache gebeten. Er hat mich angesehen, finster und verzweifelt gelächelt und leise gesagt: Weib, das verstehe ich kaum, viel weniger du. Aber, ich darf nicht! Dazu hat er seine Fäuste in die Luft geschüttelt.« –
»Wie? Und willst du da auch behaupten, er hat damals freiwillig darauf verzichtet, seine Ehre wiederzuholen und Vergeltung zu üben?« »Lange habe ich auch nicht daran geglaubt. Aber in jenem Frühjahr, da er gar so unbegreiflich sich in seiner Schande duckte, er, der mehr Macht hat als zehn Männer, wurde auch mir das Geflüster und Getuschel der Leute sinnvoll, und ich hab' mich, erst noch zweifelnd, aufs Lauern und Horchen gelegt. Im Frühjahr tauen alle Geister, die der Winter gebunden hat, aus. Die Quellen speien sie auf die Erde, die Höhlen atmen sie aus. und mit den Blättern der Bäume wachsen sie aus den Wurzeltiefen in die Luft hinauf, und sind sie gereckt und gerichtet, so schwingen sie sich auf den Wind und reiten und quälen ihn fast zuschanden. Damals fuhr ihr Heulen und Bellen nur immer über unser Haus. Mit meinen Augen sah ich sie als schwarzen, verzerrten Fladen solange über unserem Dache stehen, bis es ihr gelang, das Rauchseil aus der Esse zu erfassen und daran in unser Haus zu fahren. Denke nicht klein von Vater; er hat sich gewehrt, wie ein Mensch es nur vermag. Wie viele Male rang er sie hinaus; aber sie ließ nicht nach. In tiefer Nacht taumelte sie mit Flügeln gegen die Scheiben oder flüsterte geformtes Reden durch den Fensterspalt. Ich kämpfte mit Beten gegen sie. Vater richtete sich mitten im Schlafe auf und murmelte schwer in die blaue Nacht hinein, bitter und wild, bis sie mit schmerzvollem Gellen an der Mauer draußen hinuntersank und von den Neißewassern fortgeführt wurde.« –
Das alles sagte meine Mutter dumpf und eintönig, wie schlafwandelnd über ihre gefalteten Hände hin, und unsere Stube erschien mir wie ein dumpfer, endloser Gang. Das Licht der Lampe war heruntergebrannt und so schwach, daß es nur in einem roten Brodem stand. Aus Furcht und Mitleid mochte ich nicht mehr auf meine Mutter sehen, sondern starrte auf die verdämmernde Wand. Da tippte sie mit dem Finger an meine Schulter, und als ich mich umwandte, sah meine Mutter gefaßt und aufrecht da. Ihr Gesicht sah nicht mehr alt aus, ihre Augen, über denen wie bei kleinen Kindern gar keine Brauen waren, leuchteten. Ehe ich ein Wort sprechen konnte, neigte sie sich zu mir, ergriff meine Hand und flüsterte bittend und schwärmerisch zugleich: »Du, mein Junge, du! – Nun sind wir zwei, jetzt muß es uns gelingen, dem Herrgott die Zuchtrute aus der Hand zu winden. Komm', machen wir es wie früher, eh' wir schlafen gingen!«
Sie kniete hin an den Platz, an dem sie gebetet hatte, als ich noch Kind war, und richtete ihr Auge auf das Heilandsbild, das als grauer Fleck im finstern Winkel schwamm.
Ich aber war aus dem Taumel grell erwacht und reckte mich bitter und trotzig immer schärfer in die Ansicht, daß es hieße, mich unterwerfen und auslöschen, wenn ich auch hier auf der Diele kniete. So stand ich lange neben ihr, während meine Mutter mit weicher, flehender Stimme Vaterunser um Vaterunser, Ave Maria und Anrufungen betete.
Was? Gott zertrümmerte uns ungerechter Weise, und wir sollten an seine Füße herankriechen! Aus der Erinnerung, welchen Schimpf und welche Schmach sein Diener über Vater und mich gebracht hatte, kam es wie Hohnlachen in mir auf. Mit gesenktem Kopfe, in den Wunden meiner Vergangenheit wühlend, begann ich hinter dem Rücken meiner Mutter auf- und abzuwandeln.
Plötzlich umfaßte es mein Herz, mein Kinn wurde heraufgestoßen. und ich bemerkte, daß meine Mutter aufgehört hatte zu beten. Ihr Gesicht war in ratlosem Schrecken auf mich gerichtet, die Augen weit und verloren, der Mund schlaff und offen. Endlich brachte sie es würgend heraus: »Mein Gott! Soweit bist du auch schon?« Dann wandte sie sich langsam wieder um, sank über die Arme auf den Stuhl und fuhr fort, leise hauchend, wie in großer Angst, zu beten. Mir zitterte vor Liebe und Rührung das Herz, doch ein wilder Griff durch mich hin ließ nicht zu, daß ich neben ihr niederkniete. Ich begann sogar wieder auf- und abzuwandern.
Nach langer, stummer Andacht erhob sich meine Mutter. Ich trat zu ihr, küßte sie tief und innig und sagte: »Gute Nacht, meine liebe, liebe Mutter! Verzeihe! Aber ich kann nicht anders.«
Da stand sie und sah mich an, mit weitem, trauervollem Auge. Dann zog sie meinen Kopf zu sich herab, schlang ihre Arme um meinen Hals und küßte mich leidenschaftlich und unter Schluchzen.
»O Gott, mein Gott!« stammelte sie dabei.
Ganz erschüttert suchte ich mein Bett auf.
Durch die Ritze der Bretterwand fiel das Licht des roten Mondes und lag über der Diele wie blutige Lanzen. Aus der Gesellenkammer drang eine schreckhafte Stille auf mich ein, als lägen Gestorbene darin. Das leere Bett meiner Schwester neben mir wagte ich nicht anzugreifen, weil ich fühlte, daß ich dann vor Weh aufschreien würde. In meiner Verwirrung und Beklemmung