Unter dem Dach im Finstern stand der Lehnstuhl meiner Großmutter und war doch auf einmal deutlich sichtbar. Vor Bestürzung schloß ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, saß, von Licht umflossen, das schöne, fremde Mädchen darauf, das ich am Abende gegrüßt hatte und nickte mir liebevoll zu. Da war ich so glücklich, daß ich mich in die Kissen einwühlte, denn ich schämte mich eigentlich vor mir über meine Lieblosigkeit, Unmännlichkeit und Schwäche.
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So kam ich in mein Vaterhaus zurück. – Mit den Bedrängnissen meines Lebens trat ich in die Daseinsnot meiner Eltern. Ich ging aus mir gleichsam heraus und befand mich an einem traurigen Orte, wie wohl jemand seine enge, beklemmende Wohnstube verläßt und Schutz in einer Stadt sucht, die dem Untergänge geweiht ist.
Als ich am andern Morgen das Wohnzimmer betrat, saßen meine Eltern schon beim Frühstück, jedes vor seinem dampfenden Töpfchen. Mein Vater schien aufgeräumt und neckte mich wegen der Langschläferei. Ich ging auf den frohen Ton ein, den er angeschlagen hatte, und bald brachten wir uns mit Späßen ins Gedränge. Die Mutter steuerte zu unserem Geplänkel ihr stilles Lächeln bei. Aber je länger dies Spiel dauerte, desto deutlicher empfanden wir seine Gezwungenheit und Absicht, und desto mehr wich aus dem Gesicht meiner Mutter der Ausdruck innerer Frohheit und machte einem starren, maskenhaften Lächeln Platz.
Mein Vater schnitt das quälende Versteckspiel endlich mit einem beißenden Lachen mitten durch und verharrte dann stundenlang blaß und verschlossen bei seiner kümmerlichen Arbeit. So kam nie eine herzliche Freude in unserem Hause auf. Jedes ging in seiner eigenen Luft eingeschlossen umher. Darum atmete ich erleichtert auf, als dies erzwungene Aneinandergekettetsein aufhörte. Mein Vater überließ mir ein kleines Zimmer unmittelbar über dem Hausflur, neben der Stube, in der ich nächtlich auf den Tischler Rinke gelauert hatte. Es war ein kleiner, kühler Raum. Neben dem Eingange stand ein eisernes Bombenöfchen und hielt sich mit einem langen Rohr an der Wand fest. Eine Häusertiefe jenseits der Straße stieg die Stadtmauer auf. Dort verbrachte ich nun einen großen Teil des Tages und sann oft stundenlang über das Verhängnis unserer Familie nach. Oft grübelte ich solange, daß ich in einen Zustand krankhafter Empfindsamkeit geriet. Dann lehnte ich mich aus dem einzigen Fenster, damit mich das Leben der Gasse wieder auf die gewohnten Beine stelle.
Der Burgberg und seine Bewohner waren noch wie je. Aus dem Wahnschen Fleischerladen stiegen in endloser, wenn auch tröpfelnder Reihe Frauen und Mädchen mit Taschen und Papierpaketen beladen auf das Pflaster herauf, indessen aus dem Hausinnern des immer trunkenen Meisters unförmiger Schreibaß und wilde Beilhiebe tönten, als stampfte und gröhle darin kein Mensch, sondern eine überhitzte, sich zerstörende Maschine. In dem Gärtchen an der Stadtmauer wandelte einsam und geruhig des Pfeffergerbers weiße Schürze, und setzte Wahns Toben einen Augenblick aus, so klangen hinter den Johannisbeersträuchern in die leise Gasse sanfte Liedtöne, mit denen der verschüchterte Mann sich seinen Abend verschönte. Die Essen schmauchten ihre Rauchwirbel in den Himmel, und da und dort glühten die übereinandergetürmten Häuser schon mit erleuchteten Fenstern ins Dunkel. Endlich hauchte das letzte Abendrot nur noch schwach um den alten Wartturm, und dann und wann tauchte hinter den Mauerzacken das weiße Haupt des alten Willmann auf, der da droben seine Nelkenbeete umgrub und von Zeit zu Zeit sich aufrichtete, um über die Dächer zu lugen. Zuletzt war die Gasse finster. Man sah die Fußgänger nicht mehr, sondern hörte nur ihre Tritte über die Katzenköpfe stolpern, in der Torwölbung des Turmes aufpoltern und dann verschwinden. Die Spitzen der hohen Wehrmauer starrten unbeweglich wie die Panzerhauben riesiger Wächter in den Nachthimmel. Der Doppeladler knarrte mit seinen eisernen Flügeln in der Luft, und drunten brauste die Neiße schwach wie ein ferner Wald.
Das alles führte mich aus der Beunruhigung meines Gegenwartslebens in die Zeit meiner Kindheit hinüber, und die Friedlosigkeit endete schließlich in einem wohligen Rausch traumhafter Bilder. Die Erinnerung an jene Tage hätte keine anderen Male in mir hinterlassen als die Empfindung, sie durchlebt zu haben, wäre ein Abend nicht mit Ereignissen beladen gewesen, die teils tief zurückgriffen, teils weit hinauswiesen.
Es war am Ostersonnabend des Jahres 1881. Die Auferstehungsglocken hatten die Dämmerung erschüttert, und das Leben auf der Gasse drunten trieb froh und festtäglich hin. Mir aber war es nicht möglich, an die Freude der Menschen heranzukommen. Alle Leute gingen mir unerreichbar hin, und wenn sie redeten, so war es mir, als höre ich undeutlich Uhren in verrammelten Stuben schlagen.
Da hob ich mein Auge gen Himmel. Der lag in der Schärfe seines letzten bleichen Lichtes, matt und müde des langen Tages. Aber es ging ein Glanz von ihm aus, der allen Dingen eine niegesehene, erschütternde Wesenheit gab. Als ich meinen Blick wieder sinken ließ, blieb er an einem der Fenster haften, die durch die Stadtmauer gebrochen waren. Dort lehnte ein junges Mädchen weit hinaus. Ihr schlanker Leib strebte wie süchtig der gesunkenen Sonne nach. Blonde, schwere Flechten hingen über die Schultern und ihr Gesicht, das in den Nacken gebogen war, schimmerte in bleicher Verzückung. Aus jenen Tiefen meiner Seele, in denen das Bild meiner gestorbenen Schwester Anna wie in einem gläsernen Sarge schlief, stieg ein mir bis dahin unbekanntes, schmerzvoll süßes Gefühl, das mich um so mehr erschütterte, da ich daran denken mußte, daß Anna an ihrem letzten Tage, als sie mit mir in unserem Garten hinter der Wiesenstraße stand, ebenso verzückt und blaß in den Himmel gestarrt hatte, über den die weißen Wolkenengel geflogen waren, die die Menschen von der Erde holen. Von dieser Hingebung dessen, was wir Herz nennen, mußte das Mädchen getroffen worden sein, denn ich bemerkte, daß eine Unruhe über sie kam. Sie ließ von dem Träumen in den Himmel hinauf ab und schien jenen zu suchen, der ihr Inneres berührt hatte. Im nächsten Augenblicke spürte ich, daß ihr Auge auf mir ruhe. Mein Herz begann laut zu schlagen, und ohne zu wissen, was ich tat, richtete ich mich auf, trat ein wenig zurück und warf ihr eine Kußhand zu. Da schnellte sie bestürzt empor und verschwand in der Tiefe des Zimmers. Etwas später erschien sie wieder am Fenster mit einem kleinen Kinde auf dem Arme. Sie zeigte ihm den Himmel, an dem nun der blasse, frühe Mond sich erhob, sprach zu ihm mit einer Stimme, die der jener Fremden ähnlich klang, die mir auf dem Wege vom Seminar begegnet war und bedeckte das Gesicht des Kindes von Zeit zu Zeit mit stürmischen Küssen. Jedesmal, ehe sie das Gesicht zu neuer Liebkosung neigte, glaubte ich zu erspähen, daß sie nach mir hinsehe, und ich fühlte dann ihre Küsse wie einen heißen Strom auf meine Lippen und Wangen gehen.
Die Häuser lagen schon lange im stumpfen Schimmer des Mondes, die Fenster in der Stadtmauer waren schon alle erloschen, ich aber saß noch immer und starrte hinaus auf allerlei lichte Träume, die vor mir spielten.
Da näherte sich von dem kleinen Brückenplatze her, in den der Burgberg und der Stadtgraben mündeten, der Lärm von Männerstimmen. Zwei krachbreite Bässe kollerten in lustigem Wechsel gegeneinander, und eingekeilt zwischen ihnen schnitt manchmal ein hohes, schrilles Organ durch, quäkend und oft überschnappend, bis es immer wieder von dem begütigenden doppelten Brummlachen verschüttet wurde. Dann vernahm man wieder nichts als den Taumelschritt der Trinkerpatrouille in den schlafstillen Gassen. Jenseits der Brücke lag eine verrufene Trinkstube, die zur Zeit des Bahnbaus entstanden war und noch damals das Stelldichein verlorener Männer bildete. Von dort her trugen wohl auch diese Armen ihren Rausch nach Hause. Sie bogen eben um Grulichs Ecke in den Burgberg ein. Es waren, wie ich vermutet hatte, drei Männer. Ein kleines, zusammengesunkenes Bündelchen von Mann hing zwischen zwei großen ungeschlachten Gestalten, mehr von ihnen geschleift als gehend. Ich hörte ihn unausgefetzt mit seiner schrillen Stimme gegen die Freiheitsberaubung protestieren und zog mich ein wenig hinter die Gardine zurück, um ungestörter beobachten zu können. In der Nähe unseres Hauses riß sich der Kleine plötzlich aus dem Griff seiner Begleiter und stand nach einigen geschickten Sprüngen vor unserer Haustür. Er schien vollkommen nüchtern geworden zu sein.
»Rührt mich nich an!« herrschte er seine Kumpane an, die sich näherten, um ihn wieder fortzuschleppen. »Ich habe mit euch nichts zu schaffen. Wenn ich auch mit euch saufe, so bin ich noch lange nich euer Bruder!«
»Nu, Hermann! Rinke, da hör' och, komm' und laß das Gealber. Du wirst a solange machen, bis dich Klapper einlocht«, redete der eine der Trinker begütigend auf ihn ein. Der andere aber zog ihn fort und sagte mit beißendem Lachen: »Komm' und laß das A–loch stehn. Es temperiert eben wieder mit 'm. Gut' Nacht, Rinke!« Mühsam stiegen