Hermann Stehr

Gesammelte Heimatromane


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in jener Zeit besaß ich die glückliche Hartnäckigkeit, durch mein Leben meiner Seele zum Ausdruck verhelfen zu wollen, ohne viel Rücksicht auf die dumpfen Gewohnheiten des Alltags und die kümmerlichen Ängstlichkeiten zu nehmen, von denen die Mehrzahl meiner Kollegen sich schrecken ließen. Darum geriet ich gar bald in ein unerfreuliches Verhältnis zu meiner Behörde. Zum Lohne für die Achtung vor den Notwendigkeiten meiner Persönlichkeit wurde ich in rascher Folge versetzt und zwar in absteigender Güte, so daß ich mich in jenem Jahre in dem weltverlassenen Raspenau befand. Allein ich war guten Mutes. Denn von der Erde konnte man mich, Gott sei Dank, nicht verschwinden lassen, und überall, wohin ich kam, hatte ich das Beste, was ein Mensch nur haben kann: meine sehnsüchtige Seele, die Wunder der Natur und mein Amt. Denn das war mir in jenen jungen Tagen zu allen Stunden noch ein Kostbares.

      Nachdem ich Schrank, Kommode, Waschgerät, Bettstatt und Tisch aufgestellt, in der Kahlheit meines engen Stübchens heimisch geworden war und mich überzeugt hatte, daß mein älterer Kollege ein erstorbener Mensch sei, der im Kampf mit der Not ums Brot alles Schwingende in sich verloren hatte, begann ich meine gewohnten Entdeckungsfahrten unter den Menschen und in der Umgebung. Raspenau, ein Dorf, das 750 Seelen zählte, lag am Fuße des schlesischen Gebirges so, daß nur seine letzten Häuser die sanfte Anhöhe hinangestiegen waren, mit der das Land sich zum Aufschwung einer vielgliedrigen Bergwand rüstete. Dahinter lauerte das ärmliche Weberdörflein Wecknitz, ohne Kirche, ohne Turm, ohne Geläut, stumm und abgeschlossen an den steinigen Fuß des Gebirges gepreßt und an stillen Abenden, wenn die Luft schimmernd in dem Laube der Birken stand, ertönte das dumpfe Stoßen der Webstühle bis in die Gasse von Raspenau herüber, daß es war, als zöge in der Ferne eine Prozession Schwerkranker vorüber, die außer dem trockenen Husten eines unheilbaren Leidens kein Geräusch verursachte. Ein paarmal stieg ich bis in das Birkenwäldchen, das an der Grenze der Feldfluren lag, und blickte hinunter in das Gewirr der geduckten Hütten, in deren Mitte das Schulhaus stand, das sich durch seine größeren Fenster und die weitläufigere Anlage als solches kennzeichnete. Aber Armut war auch der Stempel seines Wesens. Dieser gemeinsame, trostlose Zug lastete über allem und ward noch erhöht durch den Schatten, den die Bergwand fast zu allen Tagesstunden über die Hütten rinnen ließ, wie um sich zu entschädigen, daß sie vor hundert Jahren mit rauhen Winden und allen Unbilden unfruchtbarer Öde diese Niederlassung der Armut nicht hatte hindern können. Der einzige Weg nach Wecknitz war ein Steig; denn außer Karren und Hundewägelchen gab es kein Gefährt im Dorfe. Auf dem Rücken schleppten die Weber das Garn hin und das Gewebe her, und noch nie war das Gepolter eines bespannten Fuhrwerks gegen die Schrotwände der Häuschen gestoßen. Ich empfand Mitleid mit dem Manne, der da drunten in der Schule hauste, und den ich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Denn obwohl ich mich über der Ungunst der Verhältnisse erhaben fühlte, kam mir doch gar nicht der so natürliche Gedanke, daß andere und selbst ohne diese geheime Eitelkeit, sich dieselbe Freiheit erwerben könnten. Unter allerhand Gedanken, die dies Erbarmen immer neu variierten, trat ich stets den Rückweg nach Raspenau an, und obwohl ich mir immer vornahm, nach dem Wesen des abgesägten Kollegen Umfrage zu halten, unterließ ich es doch immer in einer unbegreiflichen Herzensträgheit. An einem Sonntage, beim Abstieg vom Chor der Kirche, fragte ich mehr zerstreut als neugierig meinen ersten Lehrer, was es mit dem Kollegen von Wecknitz doch für eine Bewandtnis habe, daß er sich nie in der Kirche blicken lasse. Mein älterer Kollege war ein sehr vorsichtiger Mann, und nur von Menschen, die ihm durchaus nicht schaden konnten, sprach er in scharfen Ausdrücken. Hier aber mußte ein besonders günstiger Fall für seinen Mut vorhanden sein, denn er stieß im Hinabschreiten über die steile, dunkle Holzstiege nur ein verächtliches Lachen aus, blieb, nachdem wir durch das Turmpförtchen auf den Kirchplan getreten waren, stehen, zog mit der Rechten die verwehten, grauen Haarsträhnen über seinen kahlen Vorderkopf, wandte sich zu mir und tippte mit dem Zeigefinger der Linken an seine Stirn.

      »Verrückt?« fragte ich. Er drückte den Zeigefinger noch stärker gegen die Stirn und sagte kopfschüttelnd: »Nein, das nicht, aber wahnsinnig.«

      Nach dem Mittagmahl erzählte er mir, so viel er von dem Kollegen Franz Faber wußte. Es war wenig. Er verkehre mit keinem seiner Amtsbrüder, wiewohl er noch jung und unverheiratet sei, gehöre keinem Verein an, treibe sich nur immer im Walde umher und habe überhaupt die seltsamsten Gewohnheiten. So sei beobachtet worden, daß er, der Lehrer, einem erwachsenen Mädchen die Garnhucke den Berg hinaufgetragen habe, was doch kein Mann so ohne gewisse Gegenleistungen tun könne. Er, Christoph Dünnbier selbst, darauf leiste er seine sämtlichen feierlichen Eide auf einmal, habe beobachtet, wie er in einer hellen Mondnacht im Mai in der Mitternachtsstunde, Schlag zwölf, auf dem Kirchhof zu Raspenau promeniert sei. Das tue doch kein gescheuter Mann. Und wenn er noch so viel Bücher lese, der saubere Herr Faber, er werde schon sehen, wohin das führe. Die Geistlichkeit sei ihm, wegen der Verachtung der kirchlichen Pflichten, so wie so auf dem Nacken. Was nutzen ihm denn seine guten Revisionsprotokolle? fragte er, wenn er immer und immer wieder unter Hintansetzung jeglicher Subordination bei den amtlichen Konferenzen dem lieben, guten Erzpriester widerspreche und widerspreche, als habe niemand außer dem Lehrer von Wecknitz einen Kopf?! Das sei doch Wahnsinn. Dann kam Christoph Dünnbier auf die Geschichte von seines Vaters Brudersohn, der sich auch durch übermäßigen Genuß schwarzen Kaffees, Einsamkeit und unmäßiges Bücherlesen in jungen Jahren um den Verstand gebracht habe und nun vom Wahn getrieben, er sei Geistlicher geworden, von Pfarrhof zu Pfarrhof durchs Land streife.

      Ich fand es für geraten, dem alten Manne nicht zu gestehen, daß seine Erzählung gerade mein Interesse an dem seltsamen Menschen geweckt habe, und hielt unauffällig Umfrage bei anderen, die mir zum Teil ähnliches erzählten, sich zum Teil sehr gewunden vorbeidrückten, zum Teil die Geschichten über Faber um tragische, brutale oder komische Szenen vermehrten, je nach dem Wesen ihrer Seele, nach ihrem Alter oder dem Grade ihrer Bildung. Alle aber stimmten darin überein, daß er am längsten Lehrer gewesen sei. Das sagten seine Amtsbrüder. Ein alter Bauer, mit dem ich über Faber von ungefähr in einen Disput geriet, aber meinte, er sei ein zweitüriges Haus, während fast alle anderen Menschen nur Wohnungen mit einem Zugang seien.

      Von all den geheimen Erkundigungen ward ich nicht klar über ihn, noch weniger froh in mir. Denn es bedrückte mich, daß ich durch eine Anteilnahme, die schon auffällig wurde, die Schmähsucht der breiten Masse unterstützt hatte. So nahm ich mir vor, eine persönliche Bekanntschaft herbeizuführen. Ich trieb mich in der Umgebung von Wecknitz in der Hoffnung umher, ihm einmal zu begegnen, saß auch wohl in der dumpfen Schenke des Weberdörfleins und trank tapfer Schoppen um Schoppen des matten Bieres. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht. Je hartnäckiger mir das Geschick die Erfüllung meines Wunsches versagte, um so eigensinniger bestand ich darauf. Endlich begünstigte mich das Glück. Es war am Ausgange von einem der kleinen Engtäler, durch die die Bergwand ihre vielen kleinen Wässerlein in die steinige Mulde rinnen läßt, in der Wecknitz lagert. Da höre ich nicht allzuweit von mir von geschulter Baritonstimme ein uraltes Volkslied singen, eines von jenen Liedern, die noch nicht gedruckt sind. Ich gehe dem Klange der Stimme nach. Aber da mußte ich auch schon stehen bleiben. Ganz eigensinnig verharrte der Sänger auf einem Ton, ließ ihn leise hinwehen wie ein seidenes Tüchlein, schlug ihn prall an, stieß ihn zornig von sich und löste ihn endlich aus sich los mit einem schluchzenden Piano, und ich hatte die Empfindung, als suche eine Seele vergeblich nach Erinnerungen, mit denen dieses Lied verknüpft sei, und lasse endlich traurig ab. Nach einer Pause erhob sich von derselben Stelle eine wehmütige Kadenz, die immer wiederholt wurde und nur ihre Betonung wechselte. Ein ganz widersinniger Rhythmus wurde endlich mit Hartnäckigkeit festgehalten. Der Sänger schien sogar darin eine tiefe Befriedigung zu finden. Dann entstand abermals eine Pause. Ich tat indessen einige lautlose Schritte. Da sah ich den Mann endlich. Er saß auf einem Haufen großer Steine am Bach, den Hut im Nacken, baumelte mit den Beinen und fuhr dabei träumerisch mit dem Stock in dem klaren Bergwasser umher. Der Glutdunst des Sommers zitterte über ihm. Nun reckte er sich aus, nahm den Stock aus den Wellen, stützte ihn auf einen Stein des felsigen Ufers. lehnte den Kopf auf seine Krücke und schien gegen die Erde zu sinnen. Gleich darnach ließ er das Lied, an dem er soeben so absonderlich herumgestimmt hatte, wieder aus sich herauswandeln. Es ging bedächtig an mir vorüber, seine Tonwellen formten in der Sommerluft ein greisenhaftes Weiblein mit jener süßen Züchtigkeit, die manchmal mit den weißen Haaren über Frauen kommt. Mit niedergeschlagenen Augen, einer buntblumigen Bänderhaube auf dem mageren Kopfe, die abgearbeiteten Hände auf der Brust