ganz der Meinung des Herrn Rates,« sprach er, »daß es sich nur um eine Formalität handelt, habe aber nichts dagegen, wenn meiner bedeutungslosen Worte im Protokoll Erwähnung geschieht.«
Ha, was soll denn das heißen? fragte ich mich, ganz aus den Fugen geraten über so viel Widersprechendes. Der Kaisertoast brauste an mir hin, die Unruhe der hinausströmenden Versammlung trug mich die Stiege hinab, schob mich in den Schulhof, verlief sich, und nach, ich weiß nicht welcher Zeit, grüßte mich ein Mann, der eine blaue Leinwandschürze vorgebunden hatte und sagte:
»Ach, Herr Lehrer, warten Sie etwa auf den Rektor Metzner? Der kommt heute nicht mehr her.«
Ich fand mich unter der Tür nach dem Schulhof lehnen und erkundigte mich nun, ob der Frager der Schuldiener sei. Während er redselig begann, einen Abriß seiner Lebensschicksale zu geben, las ich zerstreut von meiner Uhr die Zeit ab und reichte dem Mann, der eben von seiner Verheiratung erzählte, ein Trinkgeld und ging davon, weil es schon einhalb ein Uhr Nachmittag war.
Ich lief in dem Städtchen umher, ging nach Hause, begann meine Schularbeiten, schlief, arbeitete, trödelte umher, und immer ward ich die quälende Vorstellung nicht los, daß ich Schiffbruch gelitten habe. Ich? Aber so ist es ja. Alles, was geschieht, geschieht an uns. Allein eben, weil ich nicht ergründen konnte, was eigentlich mit Faber vorgegangen war, kam ich in mir nicht zur Ruhe. Es half nichts, die Schnur meiner Vermutungen stets aufs neue abzugreifen, ich stand am Ende immer vor anderen, einander widersprechenden Ergebnissen. Er will sich ducken; er will es. Zu dieser Überzeugung kam ich am leichtesten. Aber, warum hatte Faber dann überhaupt diese rebellische Arbeit vorgelesen, gleichsam sein Haupt auf einer Schüssel seinen Gegnern ostentativ überreicht? Ostentativ. Ja, wenn es Bekehrung war, steckte in diesem aufgewandten dramatischen Apparat eine Menge Pose. Jedoch, warum hatte er den Schluß des Vortrages mit erhobener Stimme, wie eine unabwendbare Kriegserklärung gelesen? Und wenn er sich unterwerfen wollte, warum hatte er meine Hilfe, die ihn von den üblen Folgen disziplinarer Scherereien bewahren sollte, abgelehnt? Vielleicht, weil er jener seltenen Art starker Menschen angehörte, die die Buße von Übeln sich nicht schwer genug bereiten können. Warum? Warum? Ich spann immer neue Schleier von Vermutungen und litt zuletzt unter einer Abspannung, einem leisen Taumel, wie er uns erfaßt, wenn wir lange mit gleichen Schritten um einen kreisrunden Platz gegangen sind. Ich sah Fabers Bild nicht mehr in den Nächten. Aber die Stelle, von der es mir verschwunden war, lag jetzt in mir, und alle Stunden, auch die ruhigsten, erfüllte ein Vibrieren des Fernsten meiner Seele.
Bald aber trat jene Wandlung ein, die ich fast nicht zu hoffen wagte, und die mir für immer den unumstößlichen Beweis erbracht hat, daß ehrliche Sympathie auch die andere Seele, nach der es uns hindrängt, ebenso bindet wie uns. Denn etwa fünf Wochen nach der Konferenz erhielt ich einen Brief von Faber, in dem er mich um einen Besuch in seiner Wohnung bat. Es fiel mir nicht ein, diese Bitte als eine neue Bestätigung seiner Anmaßung zu deuten, sondern, indem ich die ganze Reihe innerer und äußerer Vorkommnisse, von der dieses Brieflein das letzte Glied darstellte, durchlief, wurden mir seine so schlichten Worte bedeutungsvoll, beluden sich mit den Gebilden meiner lebhaften Einbildungskraft und erfüllten mein Gemüt mit Beklemmung. Wir wissen mehr als uns bewußt wird. Nach Schluß des Nachmittagsunterrichts entwickelte ich bei den Vorbereitungen zum Besuch eine solche Eile, als gelte es mit einem Menschen schnell noch ein paar entscheidende Worte zu sprechen, der schon auf einem sich in Bewegung setzenden Bahnzug Platz genommen hat. In voller Aufregung sprang ich die Treppe des Schulhauses hinunter, an Christoph Dünnbier vorbei, der unter der Tür seiner Wohnung erschienen war, mich mit mißbilligenden Augen ansah und die Haare seines nackten Schädels beschützte. Als ich über die Schwelle der Haustür schritt, wagte er, mir ein sehr bedenkliches: Hm, Hm! nachzusenden.
Dann hatte ich das Dorf hinter mir, die sanfte Anhöhe hängte sich in die Knie, und ich mäßigte meine Schritte. Alles Feld lag so seltsam geduckt um mich, die Raine zwischen den Ackerbreiten dehnten sich in ungewohnten Linien in eine Luft hinaus, die mit dem Dunst der leidenschaftlichen Fruchtbarkeit des Mai erfüllt war, einer grauen, ruhelosen Schicht, in der die Laute der Vögel gedämpft erklangen und alle Dinge mit zweiten leuchtend-zerfließenden Umrissen umwittert waren, die den natürlichen Farben einen satteren Ton und eine größere Leuchtkraft gaben. Die Lerchenlieder verloren sich schmachtend in die blauende Höhe, die Birken trugen das verhuschende Grüngewölk der ersten Belaubung mit ihren schlanken Gliedern. Kurz, alles hatte einen so sonderbaren, niegesehenen Ausdruck, daß ich es plötzlich nicht begriff, wie ich auf den Weg nach Wecknitz komme. Solche Fremdheit und Unbegreiflichkeit des Handelns überfällt uns vor jeder wichtigen Tat, und weil ich damals noch nicht wußte, daß der Menschen Hand immer durch Schatten zugreifen muß, gab ich diesem Gefühl der Unsicherheit in mir nach, zog das Billett Fabers hervor und las es mehrere Male aufmerksam durch, so, als trügen diese so klaren Worte noch irgendeinen verborgenen Sinn, der mir nicht entgehen dürfe. Wirklich, ich kam zu der sonderbaren Überzeugung, Faber erwarte mich erst gegen Abend.
Es war in der Mitte der fünften Nachmittagsstunde. Ich setzte mich, auf der Anhöhe angelangt, abseits vom Wege, mitten im Birkenwäldchen auf einen Stein und sah nach Wecknitz hinunter. Das Licht der weißen Stämme war um mich und mir schien es, als sei ich von einem heiteren, lichten Schreine eingeschlossen.
In dem Weberdörflein drunten blühten alle Obstbäume, und Wecknitz sah nicht aus wie eine Menschensiedlung, sondern wie ein See aus weißen und rosa Wogen. Die grauen Hausdächer schwammen darin wie unbewegliche, halbversunkene Kähne, vermorscht und verlassen. Das Poltern der Webstühle schien von Wellen der Tiefe herzurühren, die gurgelnd und stoßend einem verborgenen Ausweg zuströmten. Mitten ragte die Schule, plump und trostlos wie das festsitzende Wrack eines größeren Fahrzeuges über die schimmernden Wogen des Blütensees. Ein leiser Wind war erwacht, und lautlos leckte der weiße Schaum an den alten Planken empor.
Meine junge Seele verfing sich in Träumen, aus denen mich die schnelle Kühle des Frühlingsabends aufriß. Es war dreiviertel sechs Uhr geworden und dunkelte schon ganz leicht. Der Dunst war von der Erde aufgestiegen und schwamm vor einem mäßigen Winde als Gewölk am Himmel hin. Die Sonne begann hinter die Waldmauer der Feistelberge hinunterzuglühen, während durch die Wolken im Osten die blassen Lichtschleier des aufgehenden Vollmondes wehten. In Sätzen sprang ich den Abhang hinunter und bog wahllos auf einem der vielen schmalen Hühnersteige in das Gewirr der Obstbäume ein. Nach einigem Hin und Her stand ich vor der Schule, das heißt, ich stutzte ein wenig an dem engen Zugange, der durch ein Vorgärtchen an die wenigen Stufen führte, die zu erschreiten waren, ehe man an die einfache Tür gelangte. Der lange Schrotbau lag mit den geschlossenen Fenstern seiner niedrigen Front in einer Art mürrischer Einsamkeit auf einem Hügelchen, auf den es hinaufgeklettert zu sein schien, um zu allen Tagesstunden den Kinderchen wie eine lebendige Mahnung vor Augen zu stehen.
Ich stand an dem Brunnen, dessen Wasser sich immer gurgelnd verfing, und stellte mit dem geheimen Wunsche Betrachtungen an, Faber möge mich bemerken und mir entgegengehen, um so unserer Annäherung den peinlichen Beigeschmack zu nehmen. Bald jedoch erkannte ich, daß er als Bittender von seinem Stolz nie die Erlaubnis zu dieser Demütigung erhalten würde. So trat ich in den Hausflur, der von jener maukigen Luft erfüllt war, die die offenen Lehrzimmer in alle Teile der Schule zu senden pflegen. Das Schulzimmer war ein getünchter, kahler Raum, groß und niedrig. Ihm gegenüber, ein wenig schief in der Bohlenwand sitzend, die Tür wohl zur Lehrerwohnung. Ich klopfte. An dem lauten Ton erkannte ich, daß das Zimmer leer sei. Ich schritt an einer engen Holztreppe vorüber, die jäh in das Dämmern des Bodenraumes aufstieß, und kam an die Tür nach dem Hofe. Hier hörte ich Menschenstimmen. Ich konnte nicht gleich entscheiden, ob sie aus dem Hofe drunten klangen, oder in irgendeinem Raume des Hauses eingeschlossen waren. Da fiel mein Blick auf eine vernutzte Tür, links neben dem hinteren Ausgang. Richtig, hier war es. Eine schmerzvolle Mädchenstimme redete bittend in langem Strome. Schonend und ruhig erklang die Stimme des Mannes. Das Gespräch kam gegen die abgenutzte Tür. Ich sprang auf den Zehen schnell in den Hausflur zurück, um hinter die Bodentreppe zu treten. Unterwegs fiel mir der Stock aus der Hand und polterte auf die Steinfliesen. Ehe ich ihn aufheben konnte, ging die Tür auf. Faber trat auf die Schwelle, erkannte mich sogleich und half mir über die Betretenheit, in die ich geriet, daß er mich herzlich begrüßte. Seine Lustigkeit war schlaff und gezwungen. Das Gesicht übernächtig und gealtert, und während er meinen Worten zu lauschen