konnte ich nicht anders als ehrlich, ohne Rückhalt zu Ihnen sprechen, um Ihnen und mir zu dienen, und nun bitte ich, geben Sie die Verschlossenheit auf, die, wie ich ahne, zu lange gleich finsteren Wänden um Sie gestanden hat. Denn aus der Luft, die um Sie hängt und beklemmend Ihr ganzes Haus erfüllt, ersehe ich ...«
Faber ließ mich nicht ausreden, er kehrte mir sein erschüttertes Gesicht zu, erfaßte meine Hände und sagte mit leise vibrierender Stimme nichts als die beiden Worte: »Du! ... Bruder!«
Damit war auch äußerlich ein Band geschlossen, das lange unsere beiden Seelen auf geheimnisvolle Weise vereinigt hatte. Nachdem wir eine kurze Weile in dieser Stellung verharrt hatten, löste Faber nach einem vollen Druck seine Hände aus den meinigen und trat in einer Art ans Fenster, die mich aufforderte, ihm dahin zu folgen. Es war das linke der beiden Fenster, an das wir traten. Von dessen oberer Hälfte streckte ein Lärchenbaum, der die Ecke des Hauses schützte, seinen untersten Ast schräg vorüber. Ein Fink ging eben mit behutsamem Trippelschritt tiefer in das Geäst hinein. Wir beide sahen den zierlichen Bewegungen des Tierchens zu, das mit ängstlich starren Punktaugen nach uns blickte, und rührten uns nicht, um es nicht zu verjagen.
»Es sucht sein Nest auf«, sagte Faber mit versonnentrauriger Stimme. »Es weiß, wo es ruhen soll, und wenn es dann am Morgen aufwacht, ist ihm sein Lied gewiß.« Mit einem tiefen Atemzug schloß er die Betrachtung.
»Wenn er in der Nacht nicht einer Katze zum Opfer gefallen ist«, setzte ich hinzu, um ihn aus seiner, wie ich glaubte, sentimentalen Anwandlung zu reißen.
»Wenn auch, so bleibt ihm doch die Qual erspart. Da es den Tod nicht kennt, leidet es nicht an seinem Leben«, antwortete er.
»Oder umgekehrt«, erwiderte ich.
»Mag sein. Trotzdem ist es seines Lebens sicher, solange es lebt«, sagte er finster nach einigem Sinnen.
»Und warum sollten wir Menschen es nicht sein?«
»Weil wir unseres Wesens nicht sicher sind, unserer Notwendigkeit, unserer Absichten; weil unser Ich ein so vielfältig gesponnenes Seil ist, daß, wer es entwirren will, in seiner tiefsten Seele schwindelnd, davon ablassen muß, weil jeder neue Gedanke über die alten stolpert, sich in ihren Netzen verfängt und so im Kreise gewirbelt wird, dem er entrinnen wollte. – ›Ich‹, mein lieber Kastner, ›Ich!‹ Wenn die Rechte die Linke faßt, haben wir das ›Ich‹. So kommt man nicht von der Stelle und sieht doch in qualvoll klaren Augenblicken das Land, wohin man wandern soll.«
Er schloß mit schwebender Stimme, nicht als ob er am Ende sei, sondern als ob er sich nur unterbreche, und tat einen unauffällig sichernden Seitenblick nach mir hin. Ich hütete mich wohl, ihn durch irgendeine Frage in seinem harten Stolz zurückzuschrecken, denn nach all dem, was ich aus seiner Umgebung und aus seinen vieldeutigen Äußerungen entnehmen mußte, handelte es sich nicht um die Folgen seines Konferenzvortrages, also um einen vorübergehenden Verdruß, sondern hier riß eine Seele an ihrem Grundreis. So harrte ich schonend. Aber ich harrte vergebens. Mein neuer Freund schwieg, und als ich nach ihm hinsah, bemerkte ich, daß er sein vergrämtes Gesicht gegen die Fensterscheiben gepreßt hielt und mit weiten, unbeweglichen Augen in den sinkenden Abend starrte. Als ich dieses Antlitz mit weichem Schmerz so den Schatten hingegeben sah, die unhörbar aus dem Himmel sanken, stieg plötzlich das Bild des keck-trotzigen Mannes vor mir auf, der mich einst am Bach in Wecknitz von sich getrieben hatte. Und ich weiß heute noch nicht, wo ich die Brutalität hernahm, ihn aus gnädigem Versinken zu reißen. Aus bloßen Vermutungen heraus, aber sicher, als wüßte ich alles, fragte ich: »So wollen Sie, willst du, in diesem Zweifel verwesen?« Er antwortete nicht. – Deswegen sprach ich weiter: »Dich auflösen, an deinem schwächlichen Erkennen verkommen – aber Faber, so rede doch! Nicht wahr, man hat dich aus dem Amte gejagt? Denn alles in deinem Hause sieht wie Flucht aus.« Da reckte er sich endlich langsam auf, sah mich mit einem schwachen Lächeln an und sagte mit leiser, versagender Stimme: »Man hat mich nicht fortgejagt. Leider. Aber was du von der Flucht gemerkt hast, das ist wahr – und nicht wahr. Ja und nein. – Die Regierung hat mir eine Rüge zugeschickt, und ich habe sie unterschrieben. Ich habe mir den Strick um den Hals gelegt, und nun kann ich nicht erwürgen. Verstehst du, und diese Sünde gegen mich habe ich aus Tugend begangen. Alles in mir und um mich ist verwirrt: Haß und Liebe, Furcht und Sehnsucht ...«
Nachdem er den vorletzten Satz ins sinkende Grau der Luft gesandt hatte, wieder, als breche er ein monotones Lied ab, fügte er das andere murmelnd hinzu und sah mit auf die Brust geneigtem Haupte weiten Auges die Diele hin.
»Du wirst vieles an mir seltsam finden,« setzte er dann mit einer vor Erregung matten Stimme fort, »für mich aber ist das Seltsamste, daß ich dich zum Ende rief und nun am Anfang stehe. Entweder ist meine Kraft meine Schwäche, oder dies Zagen bis in meine Seele hinein der einzige Weg zu meinem Frieden; du mußt wissen, es gibt Stunden im Menschenleben, in denen die Worte ihre gewohnte Bedeutung verlieren und die Gedanken wie Vögel in der Nacht sich bewegen, von denen man wohl den Flug hört, aber nicht weiß, welche Richtung sie nehmen.«
Dann schwieg er, und ich fühlte dies Zagen als eine erneute Aufforderung, ihn auf dem Wege weiter zu führen, den er so gerne gegangen wäre.
»Lieber Faber,« sprach ich dann, »rede alles, was du sagen mußt. Sicher bist du in einer jener Stimmungen, in denen Menschen die Tragweite ihrer Gedanken nicht mehr erfassen, und sie brauchen ein anderes Hirn zu ihrem Bewußtsein und ein anderes Ohr, ihre eigenen Worte zu hören und zu verstehen. Rede, und wenn du es forderst, so soll nie ein Wort dieser Nacht über meine Lippen kommen.«
»Ich fordere nichts von dir, als was du selbst von deiner Seele verlangst«, sprach er mit schwacher Stimme, und jedes seiner Worte klang fremd, als läge in ihm schon der Duft und Ton einer anderen Zeit.
»Siehst du, Kastner, wenn ich in mein Leben zurücksehe, so gleicht es ganz dieser Dämmerlandschaft, in der alles Bekannte ungenau, verschwommen, grotesk, alles Fremde sicher und vertraut erscheint. Sicher ist nur der in den Schatten vor sich, der die ungezügeltste Einbildung hat. Jeder Tag aber, den wir neu leben, sollte die makellose Folge unserer ganzen Vergangenheit sein. Wenn du mich heute so verstört und wirr gesehen hast, so ist nichts daran schuld, als daß ich an meinem Leben irr geworden bin, in dieser Unsicherheit jahrelang umsonst von den Schatten meiner Vergangenheit Klarheit verlangte und heute einen Entschluß gefaßt habe, der mir glücklich schien, solange ich allein war. Sobald du aber in meinem Hause mir gegenüberstandst, empfand ich ihn als eine qualvolle Verfehlung.
Es ist wahr, der Einsame geht an sich eher in die Irre als der Laute im Strom der Menge. Das Heiligste verträgt den allzu scharfen, zudringlichen Blick nicht. Mit jenen Gründen, aus denen unser Wesen steigt, verbindet uns am stärksten ein vertrauensvolles Ahnen. Doch, was nutzt es? Unter meinem leidenschaftlichen, zweifelsüchtigen Bohren löste sich die Welt meiner Vergangenheit zum Spuk auf. Alle Schatten tränkte ich mit meinem Sinnen, und wenn ich sie jetzt frage, so antworten sie mir mit meiner Unruhe. Aber vielleicht sind wir Menschen alle Ströme, die im Sande verkommen. Vielleicht auch ging ich schon fehl, als ich meiner noch sicher zu sein glaubte. Vielleicht ... vielleicht ...«
Kopfschüttelnd brach er ab, setzte sich auf den Stuhl neben sich, sah zu Boden und schwieg. Ich berührte ihn leise mit der Hand an der Schulter, und als er fragend das Gesicht zu mir erhob, sagte ich:
»Faber, traust du mir nicht?«
Hastig ergriff er meine Hand, und sie herzlich drückend, stieß er hervor: »Nein, nein, ich muß – ich muß mein ganzes Leben noch einmal durchkosten; dann wird es sich ja zeigen, ob ich zu Grunde gehen muß oder nicht. Jedenfalls will ich nicht gleich einem Narren zufällig in eine Grube stolpern und darin umkommen.«
Dann lehnte er sich zurück und sah lange in die Nacht über sich, um endlich mit ganz leiser Stimme seine Erzählung zu beginnen:
»Es läßt sich streiten, ob es besser sei, von seinen Ahnen zu wissen, oder über die Geschichte seines Geschlechtes im Unklaren zu bleiben. Sicher hat manchen der böse Geist deswegen unterjocht, weil die Versuchungen seines Blutes und die Kenntnis der Eigenschaften seiner Väter in ihm die Überzeugung hervorbrachten, er sitze in den Klammern eines unentrinnbaren Fatums. Jedenfalls weiß ich von meinen Voreltern gerade