Karin Bucha

Karin Bucha Staffel 6 – Liebesroman


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      »Etwas gefunden?« erkundigt er sich. Das Telegramm dreht er nervös in seinen Händen. »Geben Sie her. Und bitte, wissen Sie zufällig, wann das Nachtflugzeug aus Paris hier eintrifft?«

      Der Oberarzt wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es gleich vier Uhr morgens. Es ist vor vier Stunden schon gelandet.«

      Martens bekommt einen Schreck. »Irren Sie sich auch nicht?«

      »Gewiß nicht, Herr Professor. Ich habe erst neulich einen Freund von diesem Flugzeug abgeholt.«

      »Danke«, würgt Martens hervor, und das ist gleichzeitig die Verabschiedung für Lenz, der sich auch sofort zurückzieht.

      Mein Gott, denkt er verzweifelt, jetzt steht das Mädel irgendwo in der Nacht.

      Weiter kommt er nicht mit seinen Überlegungen. Schwester Karla taucht auf und bestätigt ihm, was er bereits weiß. Und dann ist er endlich allein. Er sinnt darüber nach, was zu tun ist. Ganz zufällig, geistesabwesend, öffnet er den Paß des operierten Mädchens, den ihm sein Oberarzt mit einem Schreiben überreicht hat. Er starrt wie hypnotisiert auf das Bild im Paß. Das Gesicht gleicht genau dem, das vor ihm in den Kissen liegt. Und nun liest er auch den Namen:

      »Amelie Baxter«, leise murmelt er den Namen vor sich hin und überfliegt auch die übrigen Eintragungen.

      Immer wieder vergleicht er das Foto. Gütiger Himmel! Vor ihm liegt seine Nichte, die ihm ihr Kommen durch das Telegramm angekündigt hatte!

      Wieder wird er gestört. Ärgerlich blickt er auf.

      »Verzeihen Sie, Herr Professor«, flüstert Dr. Lenz, »daß ich noch einmal stören muß. Unten in der Halle sitzt ein Mann. Er ist völlig durcheinander. Beinahe wäre er mir unter den Händen weggesackt. Er behauptet, er habe den Unfall verschuldet. Er gehe nicht eher, bevor er wisse, wie es um die verletzte Frau steht. Er möchte Sie unbedingt sprechen.«

      Kalte Wut steigt in Martens auf. Sicher ist der Mann betrunken, denkt er und erhebt sich.

      »Bleiben Sie solange hier. Ich mache es so kurz wie möglich.«

      Den an ihn gerichteten Brief und den Paß steckt er in die Tasche seines Kittels.

      Kaum hat er die Flügeltür geöffnet, schnellt aus einem der Sessel ein Mann in die Höhe und stürzt sich förmlich auf Martens.

      »Mein Name ist Ernst Stewing, Rechtsanwalt und Notar. Darf ich Ihnen eine Erklärung geben?«

      Martens Gesichtsausdruck ist verschlossener denn je.

      »Ich bitte darum.«

      Forschend mustert Martens den Anwalt. Er wirkt sympathisch.

      »Die baumbestandene Straße war menschenleer. Aus der Ferne kam mir ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen und hielt auf der linken Seite. Ich war etwas geblendet, sah aber trotzdem einen Schatten vor meinen Wagen huschen; und dann merkte ich, ich hatte jemanden zu Fall gebracht. Ich stieg aus, erkannte eine Frau, die leblos vor mir lag, und alarmierte sofort den Pförtner dieses Krankenhauses. Gemeinsam brachten wir die Verletzte hierher. Der Wagen war inzwischen weggefahren. Vermutlich war es ein Taxi, aber genau kann ich das nicht sagen.«

      »Hatten Sie Alkohol getrunken?« forscht Martens kühl.

      »Keinen Tropfen. Hinter mir lag eine stundenlange Konferenz. Ich gebe zu, etwas müde gewesen zu sein.«

      »Trotzdem muß ich Sie bitten, sich einer Blutprobe zu unterziehen.«

      Der Rechtsanwalt bejaht heftig. »Selbstverständlich bin ich dazu sofort bereit.«

      »Gut«, entscheidet Martens, und ihm ist genauso elend zumute wie dem Mann, der Amelies Unfall verschuldete. Trägt er nicht ebensoviel Schuld? Wäre Amelie, die Tochter seiner einzige Schwester, abgeholt worden –! Nein! So weit darf er nicht denken. Nicht einmal Schwester Karla kann er dafür verantwortlich machen. Eine Verkettung unglücklicher Zufälle, wie es sie so oft im Leben gibt. Er fühlt den abwartenden Blick des Anwalts und reißt sich zusammen. »Warten Sie hier. Ich schicke meinen Oberarzt. Er wird die Sache erledigen. Gute Nacht – oder vielmehr guten Morgen«, verbessert er sich und wendet sich der Flügeltür zu. Im Nu steht der Mann wieder neben ihm und ergreift seinen Arm. »Die Hauptsache haben Sie mir noch nicht gesagt, Herr Professor. Ich hätte gern gewußt, wie es Ihrer Patientin geht und ob ich etwas für sie tun kann.«

      Martens verhält den Schritt. »Es wird alles getan, dessen können Sie versichert sein. Auch wenn die junge Dame nicht zufällig meine Nichte wäre. Guten Morgen!«

      Entgeistert sinkt Rechtsanwalt Stewing in den nächsten Sessel. Gütiger Gott, die Nichte des berühmten Professors ist ihm vor den Wagen gelaufen! Was wird sich alles für ihn Unangenehmes daraus entwickeln? Sehr zugänglich war dieser Professor nicht.

      Als er sich einigermaßen gesammelt hat, taumelt er zu dem Glasverschlag mit dem Schild »Anmeldung«.

      »Halt!« Erschreckt fährt er herum. Richtig, die Blutprobe.

      Er geht dem Oberarzt entgegen. »Jetzt wäre ich Ihnen bald davongelaufen«, sagt er und wirft einen unsicheren Blick auf den Oberarzt. Doch der lächelt verständnisvoll.

      »Sie stehen immer noch unter der Schockeinwirkung. Kommen Sie bitte mit.«

      Stewing folgt dem Arzt.

      *

      Nachdem Martens noch einmal Blutdruck und Puls kontrolliert hat und alles in Ordnung fand, zieht er endlich den Brief aus der Tasche, öffnet ihn und liest:

      Lieber Bruder Matthias!

      Wenn Amelie, meine Tochter, Dir diesen Brief aushändigt, bin ich längst unter der Erde. Meine Zeit ist bemessen, deshalb die Kürze. Doch mein Rechtsanwalt Ben Allison besitzt ein umfangreiches Schreiben von mir, eine Art Lebensbeichte, die er Dir, wenn er all meinen Besitz veräußert hat, senden will. Er ist ein jahrelanger Vertrauter und dieses Vertrauens würdig. Mein Mann, Tom Baxter, war sehr wohlhabend. Amelie hätte ein Leben in Luxus führen können. Sie wollte es nicht. Sie hat Medizin studiert und zwei Jahre unter dem berühmten Professor Kelly gearbeitet.

      Nimm sie bei Dir auf, lieber Matthias, ich bitte Dich von Herzen darum. Amelie soll die Geborgenheit meines Elternhauses kennenlernen und – vielleicht kann sie auch bei Dir als Kinderärztin arbeiten.

      Ich segne Dich aus der Ferne,

      Deine Schwester Irmgard Baxter.

      »Irmgard tot«, murmelt Matthias Martens fassungslos vor sich hin. Seine Mutter hat er zärtlich geliebt. Mit seinem Vater verband ihn ein inniges Verhältnis, aber Irmgard, seine um zehn Jahre ältere Schwester, liebte er abgöttisch. Alles war sie ihm, dem damals fünfzehnjährigen Junge, der beste Kamerad, den er sich überhaupt denken konnte.

      Als er einst aus den mit heißer Sehnsucht erwarteten Ferien heimgekehrt war, hatte er alles wie ausgestorben in seinem Elternhaus vorgefunden. Alle waren sie verändert, die Mutter, der Vater. Irmgard war aus dem Elternhaus geflohen, war dem Mann ihrer Liebe gefolgt, den seine Eltern abgelehnt hatten, weil er Rennfahrer war.

      Jeder verschloß sich vor dem anderen, und von da an war er innerlich vereinsamt. Er hatte sich wie besessen auf sein Studium geworfen. Irmgards Flucht lag heute noch wie ein Schatten über seinem Dasein.

      Und nun lag Irmgards Tochter vor ihm. Wird er sie dem Tod entreißen können? Jede Minute, die er an diesem Bett verbringt und auf das Erwachen wartet, wird ihm zur Qual.

      Immer wieder drehen sich seine Gedanken im Kreise. Irmgards Tochter – meine Nichte!

      Aber er spürt eine heftige Abneigung gegen diese Nichte, die ihm seine Schwester so warm ans Herz legt, denn er kann sie nur als Eindringling betrachten. Sie wird ihn stören. Sie wird alle seine liebgewonnenen Gewohnheiten über den Haufen stoßen. Babette, seine Haushälterin, jahrelang erprobt, stellt ihm nie überflüssige Fragen, ob er nun heimkommt oder im Krankenhaus übernachtet. Sie nimmt alles gelassen hin, aber fast unsichtbar wirkt sie wie ein guter Engel im Haus und sorgt für sein Wohlbefinden.

      Nun