Hans Fallada

Der eiserne Gustav


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gar nicht väterlich: »Hast du ’ne Ahnung, Bubi, wo der Erich hin ist?«

      »Keine Ahnung, Vater. Du machst dir wohl Sorgen?«

      »Ja; die hier bei uns wissen auch nicht, wohin er ist?«

      »Glaub ich nicht. Aber ich kann ja morgen mal in der Penne horchen. Vielleicht weiß einer von seinen Freunden was.«

      »Das tu, Bubi.«

      »Das tu ich, Vater.«

      »Und du könntest mal zum Herrn Direktor gehen. Ich hatte ihm versprochen, den Erich morgen wieder zur Schule zu schicken. Daraus wird ja nun nichts. Du mußt ihm das erklären …«

      »Ach, Vater …«

      »Was?«

      »Ich möchte morgen lieber nicht zum Direx gehen …«

      »Warum denn nicht? Du sollst doch nicht Direx sagen!«

      »Och – vielleicht hat er ’ne Pieke auf mich. Wir haben uns nämlich heute ein bißchen gekloppt, einer aus meiner Klasse und ich, und Kunze hat uns aufgeschrieben und sagt, er meldet uns dem Direx – dem Direktor.«

      »Warum habt ihr euch denn gekloppt?«

      »Ach, nur so. Der hat immer so ’ne Schandschnauze, da muß er mal was draufkriegen.«

      »Und hat er was draufgekriegt?«

      »Aber feste, Vater! Aber nach Noten! Zum Schluß hat er nur noch nach Luft geschnappt und immerzu Pax geschrien.«

      »Was heißt denn Pax?«

      »Ach, Pax heißt Friede. Das schreit man, wenn man zu Kreuze kriecht.«

      »So – na, Bubi, deswegen kannst du dem Direktor ruhig meine Bestellung ausrichten. Der Herr Direktor und ich haben nämlich aus dem Fenster gesehen, wie ihr euch gekloppt habt.«

      »Au fein! Ich hatte schon ’nen Bammel, eine Vier im Betragen wäre kummervoll.«

      Einen Augenblick ist Stille. Der Vater ist ganz ruhig und friedlich geworden bei diesem Sohn.

      »Na, also schön, Bubi, vergiß das nicht. Und schlaf auch gut!«

      »Schlaf du auch gut, Vater. Wegen Erich mach dir bloß keine Gedanken. Der ist schlauer als du und ich und der Direktor zusammen – der Erich kommt immer durch.«

      »Gute Nacht, Bubi.«

      »Gute Nacht, Vater.«

      Zweites Kapitel: Ein Krieg bricht aus

      1 Der Schutzmann vor dem Schloß

      Es ist der 31. Juli 1914.

      Dicht gedrängt bis tief in den Lustgarten hinein steht seit dem frühen Morgen die Menge am Kaiserlichen Schloß, über dem die gelbe Kaiserstandarte weht, das Zeichen für die Anwesenheit des obersten Kriegsherrn. Unaufhörlich fluten die Menschen ab und zu; sie warten eine Stunde oder zwei, dann gehen sie wieder an ihre täglichen Verrichtungen, die doch nur eilig, nur obenhin erledigt werden, denn auf jedem lastet die Frage: wird Krieg?

      Vor drei Tagen hat das verbündete Österreich Serbien den Krieg erklärt – was wird nun geschehen? Wird die Welt ruhig bleiben? Ach, ein Krieg unten auf dem Balkan, ein Riesenreich gegen das kleine Serbenvolk – was kann das schon viel bedeuten? Aber sie sagen ja, Rußland macht mobil, der Franzose rührt sich – und was wird England tun?

      Die Luft ist heiß, es wird immer schwüler. Es saust und braust in der Menge. Am Vormittag soll der Kaiser vom Schloß herab gesprochen haben – aber noch lebt Deutschland mit aller Welt in Frieden. Es gärt und braust – ein Monat ist vergangen mit Ungewißheit, mit Hin und Her, unverständlichen Verhandlungen, mit Drohungen und Friedensversicherungen, die Nerven der Menschen sind durch das lange Warten zermürbt. Jede Entscheidung ist besser als dieses schreckliche, dieses ungewisse Warten.

      Durch die Menge drängen sich Verkäufer mit Würstchen, Zeitungen, Eis. Aber sie verkaufen nichts, die Leute haben keine Zeit zu essen, sie wollen auch nicht mehr die Nachrichten vom Morgen lesen, die längst überholt, unwahr geworden sind. Sie wollen die Entscheidung! Sie reden abgerissen, erregt miteinander, jeder weiß etwas. Aber dann – mitten im Gespräch – verstummen sie, alles vergessend starren sie zu den Fenstern des Schlosses hinauf. Zu dem Balkon, von dem heute vormittag der Kaiser gesprochen haben soll … Sie versuchen, durch die Scheiben zu spähen, aber die blitzen, blenden in der Sonne; und wo sie hindurchspähen können, sehen sie nur gelbe, matte Vorhänge hängen.

      Was geht dort drinnen vor? Was wird in jenem Dämmer beschlossen – über jeden Wartenden, Mann für Mann, Weib für Weib, Kind für Kind? Sie haben vierzig Jahre im Frieden gelebt, sie können es sich nicht vorstellen, was das ist: ein Krieg … Aber doch ahnen sie, daß ein Wort aus dem stummen, verschlossenen Haus dort alles ändern kann, ihr ganzes Leben. Und sie warten auf dieses Wort, sie fürchten es, und sie fürchten doch auch, daß es ausbleiben könnte, daß so viele Wochen Wartens umsonst durchwartet sein könnten …

      Plötzlich wird es ganz still in der Menge, als halte sie den Atem an … Es ist nichts geschehen, noch ist nichts geschehen, nur die Turmuhren schlugen, von nah und fern, schnell und langsam, hoch und mit tiefem Brummton: Es ist fünf Uhr …

      Noch ist nichts geschehen, sie stehen und warten atemlos …

      Da öffnet sich das Tor des Schlosses, sie sehen es aufgehen, langsam, langsam – und heraus tritt: ein Schutzmann, ein Berliner Polizist, in der blauen Uniform, mit Pickelhaube …

      Sie starren ihn an …

      Er klettert auf eine Treppenbrüstung, er bedeutet ihnen, daß sie still sein sollen.

      Aber sie sind ja still …

      Der Schutzmann nimmt langsam den Helm ab, hält ihn vor die Brust. Sie verfolgen atemlos jede seiner Bewegungen, obwohl es nur ein ganz gewöhnlicher Schutzmann ist, wie sie ihn alle Tage auf allen Straßen Berlins sehen … Und doch prägt er sich ihnen unauslöschlich ein. – Sie werden in den nächsten Jahren ungeheure und schreckliche Dinge sehen müssen, aber sie werden nie vergessen, wie dieser Berliner Schutzmann seinen Helm abnahm, ihn vor die Brust hielt!

      Der Schutzmann tut den Mund auf, ach, sie hängen an seinem Munde – was wird er sagen? Leben oder Tod, Krieg oder Frieden?

      Der Schutzmann tut den Mund auf und sagt: »Auf Befehl Seiner Majestät, des Kaisers, teile ich mit: Die Mobilmachung ist befohlen.«

      Der Schutzmann schließt den Mund, er starrt über die Menge, dann setzt er ruckartig – wie eine Puppe – den Helm wieder auf.

      Einen Augenblick schweigt die Menge, schon fängt es in ihr zu singen an, einzelne. Hunderte, Tausende von Stimmen vereinen sich: »Nun danket alle Gott, mit Herzen, Mund und Händen …«

      Ruckartig, wie eine Puppe, nimmt der Schutzmann den Helm wieder ab.

      2 Hackendahls Unter den Linden

      Über die Linden rasen die Automobile. Offiziere stehen in ihnen – sie schwenken Fahnen. Sie legen die Hände hohl an den Mund, sie rufen: »Mobil! Mobil!«

      Die Menschen lachen glücklich, sie jubeln den Offizieren zu. Blumen fliegen durch die Luft, die jungen Mädchen reißen ihre großen Strohhüte vom Kopf, sie schwingen sie an den Bändern, sie rufen begeistert zurück: »Mobil! Mobil! Krieg!!«

      Dies ist die Stunde der Offiziere, vierzig Jahre lang haben sie öden Gamaschendienst kloppen müssen, sie waren dessen so überdrüssig! Die Leute drehten sich kaum noch um nach ihnen, sie waren so überflüssig! Jetzt jubelt ihnen alles zu, die Augen leuchten – sie werden ja für Freiheit und Frieden eines jeden kämpfen und vielleicht sterben!

      »Daß ich das noch erleben darf!« ruft der alte Hackendahl im Strudel der Begeisterten. »Nun wird alles wieder gut!«

      An seinem einen Arm hängt Heinz, am anderen Eva, sie treiben in der Menge, sie lachen. Übermütig wirft Eva den Offizieren Kußhände ins Auto.

      »Oh, Vater!« ruft Heinz und drückt den Arm des Vaters fester gegen seine Brust.

      »Was denn, Bubi?« Hackendahl