Alfred Adler

Gesammelte Werke


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Traum vom Theater und vom Sichzeigen auf der Bühne sprechen deutlich für einen visuellen, auf die äußere Erscheinung bedachten Menschentypus. Ihre Ehe, ihr Wohnort in der Provinz hindern sie, sich zu zeigen. Das gleiche Hindernis wäre Gravidität und ein Kind.

      Die vollständige Heilung vollzog sich innerhalb eines Monats. Vorher kam die Erklärung des exogenen Faktors, der zur letzten Attacke geführt hatte. Sie fand in der Rocktasche ihres Mannes den Brief eines Mädchens, der nur einen kurzen Gruß enthielt. Ihr Mann konnte ihren Argwohn zerstreuen. Nichtsdestoweniger verblieb sie in argwöhnischer Stimmung und nährte die bisher nie gefühlte Eifersucht, überwachte auch ihren Mann seit dieser Zeit. In diese Periode fiel ihr kaltes Bad und der Beginn ihres Anfalls. Einer der letzten Träume, schon nach der Feststellung ihrer Eifersucht und ihrer verletzten Eitelkeit geträumt, zeigt noch das Festhalten an ihrem Verdacht und zielt auf Vorsicht und Mißtrauen dem Gatten gegenüber. Sie sah, wie eine Katze einen Fisch fing und mit ihm davonlief. Eine Frau lief hinterdrein, um der Katze den Fisch abzujagen. Die Erklärung ergibt sich, ohne daß man viel Wesens machen müßte. Sie sucht sich in metaphorischer Sprache, in der alles stärker klingt, für einen ähnlichen Raub ihres Gatten scharfzumachen. Eine Auseinandersetzung ergibt, daß sie nie eifersüchtig gewesen sei, da ihr Stolz ihr diese Unart verboten hatte, daß sie aber seit der Auffindung jenes Briefes die Möglichkeit einer Untreue ihres Mannes in Betracht gezogen habe. Indem sie damit rechnete, steigerte sich ihre Wut � gegen die vermeintliche Abhängigkeit der Frau vom Manne. Ihr kaltes Bad war demnach wirklich die Rache ihres Lebensstils gegenüber der nun, wie sie glaubte, sichergestellten Abhängigkeit ihres Wertes von ihrem Manne und gegenüber seiner mangelhaften Anerkennung ihres Wertes. Hätte sie ihren Migräneanfall � die Folge ihres Schocks � nicht, so müßte sie sich wertlos vorkommen. Dies aber wäre das Schrecklichste von allem.

      5. Körperform, Bewegung und Charakter

       Inhaltsverzeichnis

      Hier sollen die drei Erscheinungsformen, wie sie bei der Spezies Mensch sich zeigen, Körperform, Bewegung und Charakter, nach ihrem Wert und in bezug auf ihren Sinn besprochen werden. Eine wissenschaftliche Menschenkenntnis muß natürlich Erfahrungen zu ihrer Grundlage machen. Aber die Sammlung von Tatsachen ergibt noch keine Wissenschaft. Jene ist vielmehr die Vorstufe dieser, und das gesammelte Material bedarf einer zulänglichen Einreihung unter ein gemeinsames Prinzip. Daß die im Zorn erhobene Faust ebenso wie das Knirschen der Zähne, ein wutvoll geschleuderter Blick, laut ausgestoßene Verwünschungen usw. Bewegungen sind, die einem Angriff entsprechen, ist aber so sehr in den Common sense übergegangen, daß dem menschlichen Forschungsdrang, der Wahrheit näher zu kommen � was das Wesen der Wissenschaft ausmacht �, in diesem Bereich keine Aufgabe mehr gesetzt ist. Erst wenn es gelingt, diese und andere Manifestationen in einen größeren, bisher unentdeckten Zusammenhang zu bringen, wo sich neue Gesichtspunkte erschließen, bisherige Probleme gelöst erscheinen oder auftauchen, hat man das Recht, von Wissenschaft zu sprechen.

      Die Form der menschlichen Organe sowie die äußere Form des Menschen steht in einem ungefähren Einklang mit seiner Lebensweise und verdankt ihr Grundschema dem Anpassungsprozeß an die für lange Zeitläufe stabilen äußeren Verhältnisse. Der Grad der Anpassung variiert millionenfach und wird in seiner Form erst auffällig, wenn eine gewisse, irgendwie merkliche Grenze überschritten ist. Auf diese Grundlage menschlicher Formentwicklung wirken freilich noch eine Anzahl von anderen Faktoren ein, von denen ich hervorheben will:

      1. Den Untergang von bestimmten Varianten, für die vorübergehend oder dauernd keine Lebensmöglichkeiten bestehen. Hier greift nicht bloß das Gesetz der organischen Anpassung ein, sondern auch irrtümliche Formen der Lebensweisen, die größere oder kleinere Gruppenbestände übermäßig belastet haben (Krieg, schlechte Verwaltung, Mangel an sozialer Anpassung usw.). Wir werden demnach außer den starren Vererbungsgesetzen, etwa nach der Mendelschen Regel, auch noch eine Beeinflußbarkeit der Organ- und Formwertigkeit im Anpassungsprozeß zu berücksichtigen haben. Eine Beziehung der Form zu den individuellen und allgemeinen Belastungen wird sich als Funktionswert ausdrücken lassen.

      2. Die sexuelle Auslese. Sie scheint infolge der wachsenden Kultur und des gesteigerten Verkehrs auf eine Angleichung der Form, des Typus, hinzuarbeiten und wird mehr oder weniger durch biologisches, medizinisches Verständnis sowie durch das damit zusammenhängende ästhetische Gefühl, wohl Wandlungen und Irrungen unterworfen, beeinflußt. Schönheitsideale wie der Athlet, der Hermaphrodit, Üppigkeit, Schlankheit zeigen den Wandel dieser Einflüsse, der sicherlich durch die Kunst namhaft angeregt wird.

      3. Die Korrelation der Organe. Sie stehen zueinander, gemeinsam mit den Drüsen mit innerer Sekretion (Schilddrüse, Sexualdrüsen, Nebenniere, Gehirnanhangsdrüse) wie in einem geheimen Bunde und können sich gegenseitig unterstützen oder schädigen. So kommt es, daß Formen bestehen können, die im einzelnen dem Verfall geweiht wären, in ihrem Zusammenhang aber den Gesamtfunktionswert des Individuums nicht wesentlich stören. In dieser Totalitätswirkung spielt das periphere und zentrale Nervensystem eine hervorragende Rolle, weil es im Bunde mit dem vegetativen System in seinen Leistungen eine große Steigerungsfähigkeit aufweist und im eigenen Training, körperlich und geistig, den Gesamtfunktionswert des Individuums zu erhöhen imstande ist. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß selbst atypische, geradezu fehlerhafte Formen den Bestand von Individuen und Generationen keineswegs bedrohen müssen, da sie aus anderen Kraftquellen eine Kompensation erfahren, so daß sich die Bilanz des Gesamtindividuums im Gleichgewicht, gelegentlich sogar darüber halten kann. Eine unvoreingenommene Untersuchung wird wohl zeigen, daß sich unter den hervorragendsten, leistungsfähigsten Menschen nicht gerade immer die schönsten finden. Dies legt auch den Gedanken nahe, daß eine individuelle Rassen- oder Völker-Eugenik nur in sehr beschränktem Ausmaß Werte schaffen könnte und mit einer solchen Unsumme von komplizierten Faktoren belastet wäre, daß ein Fehlurteil viel wahrscheinlicher wäre als ein gesicherter Schluß. Eine noch so gesicherte Statistik könnte für den Einzelfall keinesfalls ausschlaggebend sein.

      Das mäßig kurzsichtige Auge in seinem langgestreckten Bau ist zumeist in unserer für Naharbeit eingerichteten Kultur ein unzweifelhafter Vorteil, weil eine Ermüdung des Auges nahezu ausgeschlossen ist. Die in fast 40 Prozent verbreitete Linkshändigkeit ist sicher in einer rechtshändigen Kultur von Nachteil. Und doch finden wir unter den besten Zeichnern und Malern, unter den manuell geschicktesten Menschen eine auffallende Zahl von Links­händern, die mit ihren besser trainierten rechten Händen Meisterhaftes leisten. Die Dicken wie die Dünnen sind von verschiedenen, aber in ihrer Schwere kaum ungleichen Gefahren bedroht, wenngleich sich vom Standpunkt der Ästhetik und Medizin die Waagschale immer mehr zugunsten der Schlanken senkt. Sicherlich erscheint eine kurze, breite Mittelhand wegen der günstigeren Hebelwirkung für Schwerarbeit besser geeignet. Aber die technische Entwicklung durch die Vervollkommnung der Maschinen macht körperliche Schwerarbeit immer mehr überflüssig. Körperliche Schönheit � obwohl wir uns ihrem Reiz nicht entziehen können � bringt ebensooft Vorteile wie Nachteile mit sich. Es dürfte manchem aufgefallen sein, daß sich unter den ehelosen und Nachkommenschaft entbehrenden Personen auffallend viele wohlgestaltete Menschen finden, während oft weniger ansprechende Typen wegen anderer Vorzüge an der Fortpflanzung teilnehmen. Wie oft findet man an einer Stelle andere Typen, als man erwartet hätte, kurzbeinige, plattfüßige Hochtouristen, herkulische Schneider, mißgestaltete Günstlinge der Frauen, wo erst ein näherer Einblick in die psychischen Komplikationen ein Verständnis ermöglicht. Jeder kennt wohl infantile Gestalten von seltener Reife und männliche Typen mit infantilem Gehaben, feige Riesen und mutige Zwerge, häßliche, verkrüppelte Gentlemen und hübsche Halunken, weichlich geformte Schwerverbrecher und hart­aussehende Gesellen mit weichem Herzen. Daß Lues und Trunksucht den Keim der Nachkommenschaft schädigt, ihr recht häufig ein erkennbares äußeres Gepräge verleiht, ist eine feststehende Tatsache, sowie auch, daß diese Nachkommenschaft leichter erliegt. Aber Ausnahmen sind nicht selten, und erst in den letzten Tagen machte uns der im Alter noch so rüstige Bernhard Shaw mit seinem trunksüchtigen Vater bekannt. Dem transzendenten Prinzip der Auslese steht das dunkle, weil allzu komplizierte Walten der Anpassungsgesetze entgegen. Wie schon der Dichter klagt: »Und Patroklus liegt begraben und Thersites kehrt zurück.« Nach den männerverzehrenden