Alfred Adler

Gesammelte Werke


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Süchtigkeit zeigt recht häufig ein schweres Minderwertigkeits­gefühl, wenn nicht einen entwickelten Überlegenheitskomplex, der sich vorher schon einigermaßen deutlich in Schüchternheit, Alleinsein, Überempfindlichkeit, Ungeduld, Reizbarkeit, in nervösen Symptomen wie Angst, Depression, sexueller Insuffizienz oder in einem Überlegenheits­komplex wie Prahlsucht, boshafter, kritischer Neigung, Machtlüsternheit usw. ausprägt. Auch übermäßiges Rauchen und Sucht nach starkem schwarzen Kaffee kennzeichnen oft die Stimmungslage einer mutlosen Entschlußlosigkeit. Wie mittels eines Tricks wird das lastende Minderwertigkeitsgefühl zeitweise beiseite geschoben oder sogar, wie zum Beispiel bei kriminellen Handlungen, in verstärkte Aktivität um gebaut. Alles Mißlingen kann in allen Fällen von Süchtigkeit dem unbesiegbaren Laster zugeschoben werden, sei es in gesellschaftlicher Beziehung, im Beruf oder in der Liebe. Auch die unmittelbaren Giftwirkungen geben dem Befallenen oft ein Gefühl der Entlastung.

      Ein 26jähriger Mann, der acht Jahre nach einer Schwester zur Welt kam, wuchs unter günstigen Verhältnissen, außerordentlich verwöhnt und eigenwillig auf. Er erinnerte sich, daß er oft als Puppe verkleidet von Mutter und Schwester in den Armen gehalten wurde. Als er, vierjährig, für zwei Tage in die strengere Zucht seiner Großmutter kam, schnürte er bei ihrer ersten ablehnenden Bemerkung sein Bündel und wollte sich auf den Heimweg machen. Der Vater trank, worüber sich die Mutter sehr aufregte. In der Schule wirkte sich der Einfluß seiner Eltern allzusehr zu seinen Gunsten aus. Wie er es als vierjähriger Knabe getan, verließ er auch das Elternhaus, als mit der Zeit die Verwöhnung durch die Mutter nachließ. In der Fremde konnte er, wie so oft die verwöhnten Kinder, nicht rechten Fuß fassen und geriet bei gesellschaftlichen Zusammenkünften, im Berufsleben und Mädchen gegenüber stets in ängstliche Verstimmung und Aufregung. Er hatte sich mit einigen Leuten besser verstanden, die ihm das Trinken beibrachten. Als seine Mutter davon erfuhr und besonders davon hörte, daß er in trunkenem Zustand mit der Polizei in Konflikt geraten war, suchte sie ihn auf und bat ihn in bewegten Worten, vom Trinken abzulassen. Die Folge war, daß er nicht nur weiter im Trinken Erleichterung suchte, sondern damit auch die alte Sorge und Verwöhnung durch die Mutter noch über die frühere Höhe hinaus steigerte.

      Ein 24jähriger Student klagte über ununterbrochenen Kopfschmerz. Schon in der Schule zeigten sich schwere nervöse Symptome von Platzangst. Es wurde ihm gestattet, das Abitur zu Hause abzulegen. Er war nachher in einem viel besseren Zustand. Im ersten Jahr des Universitätsstudiums verliebte er sich in ein Mädchen und heiratete. Kurz nachher setzten die Kopfschmerzen ein. Als Ursache bei diesem überaus ehrgeizigen, unglaublich verwöhnten Manne fand sich dauernde Unzufriedenheit mit seiner Frau und Eifersucht, die wohl deutlich aus seiner Haltung, auch aus seinen Träumen hervorging, die er sich aber nie recht deutlich gemacht hatte. So träumte er einst, daß er seine Frau wie zur Jagd gekleidet sah. Er hatte als Kind an Rachitis gelitten und erinnerte sich, daß er, wenn sich die Kinderfrau von ihm, der immer andere mit sich beschäftigte, Ruhe verschaffen wollte, ihn noch mit vier Jahren auf den Rücken legte, eine Lage, aus der er sich bei seiner Fettleibigkeit nicht allein erheben konnte. Als Zweitgeborener lebte er immer mit dem älteren Bruder in Konflikt und wollte immer der erste sein. Günstige Umstände verhalfen ihm später zu einer hohen Stelle, der er wohl geistig, aber nicht seelisch gewachsen war. In den unabwendbaren Aufregungen seiner Stellung griff er zum Morphium, dem er, mehrmals davon befreit, immer wieder zum Opfer fiel. Wieder kam als erschwerender Umstand für ihn seine grundlose Eifersucht ins Spiel. Als er in seiner Stellung unsicher wurde, beging er Selbstmord.

      9. Die fiktive Welt des Verwöhnten

       Inhaltsverzeichnis

      Verwöhnte Personen haben keinen guten Ruf. Sie hatten ihn niemals. Eltern lieben es nicht, der Verwöhnung beschuldigt zu werden. Jede verwöhnte Person weigert sich, als solche angesehen zu werden. Man stößt immer wieder auf Zweifel, was man unter Verwöhnung verstehen soll. Aber wie durch Intuition fühlt jeder sie als Last und als Hindernis einer richtigen Entwicklung.

      Nichtsdestoweniger liebt es jeder, Objekt der Verzärtelung zu sein. Manche ganz besonders. Viele Mütter können nicht anders als verwöhnen. Glücklicherweise wehren sich viele Kinder so stark dagegen, daß der Schaden geringer ausfällt. Es ist eine harte Nuß mit psychologischen Formeln. Wir können sie nicht als strenge Richtlinien benützen, die blindlings zur Auffindung von Grundlagen einer Persönlichkeit Verwendung finden könnten oder zur Erklärung von Stellungnahmen und Charakteren. Wir müssen vielmehr in jeder Richtung eine Million von Varianten und Nuancen erwarten, und was wir gefunden zu haben glauben, muß stets mit gleichlaufenden Tatsachen verglichen und bestätigt werden. Denn wenn ein Kind sich gegen Verwöhnung stemmt, geht es gewöhnlich zu weit in seinem Widerstand und überträgt seine Gegenwehr auch auf Situationen, in denen freundliche Hilfe von außen einzig vernünftig wäre.

      Wenn die Verwöhnung später im Leben Platz greift und nicht, wie so oft in solchen Fällen, mit Knebelung des freien Willens verknüpft ist, kann sie wohl dem Verwöhnten gelegentlich zum Überdruß werden. Aber sein in der Kindheit erworbener Lebensstil wird dadurch nicht mehr geändert.

      Die Individualpsychologie behauptet, daß es keinen anderen Weg gibt, einen Menschen zu verstehen als die Betrachtung der Bewegungen, die er macht, um seine Lebensprobleme zu lösen. Das Wie und das Warum sind dabei sorgfältig zu beobachten. Sein Leben beginnt mit dem Besitz menschlicher Möglichkeiten, Entwicklungsmöglichkeiten, die sicherlich verschieden sind, ohne daß wir imstande wären, diese Verschiedenheiten aus anderem als aus seinen Leistungen zu erkennen. Was wir im Beginn des Lebens zu sehen bekommen, ist bereits stark beeinflußt durch äußere Umstände vom ersten Tag seiner Geburt. Beide Einflüsse, Heredität und Umwelt, werden zu seinem Besitz, den das Kind verwendet, gebraucht, um seinen Weg der Entwicklung zu finden. Weg aber und Bewegung können nicht ohne Richtung und Ziel gedacht oder eingeschlagen werden. Das Ziel der menschlichen Seele ist Überwindung, Vollkommenheit, Sicherheit, Überlegenheit.

      Das Kind im Gebrauch der erlebten Einflüsse von Körper und Umwelt ist mehr oder weniger auf seine eigene schöpferische Kraft, auf sein Erraten eines Weges angewiesen. Die seiner Haltung zugrunde liegende Meinung vom Leben, weder in Worte gefaßt noch gedanklich ausgedrückt, ist sein eigenes Meisterstück. So kommt das Kind zu seinem Bewegungsgesetz, das ihm nach einigem Training zu jenem Lebensstil verhilft, in dem wir das Individuum sein ganzes Leben hindurch denken, fühlen und handeln sehen. Dieser Lebensstil ist fast immer in einer Situation erwachsen, in der dem Kinde die Unterstützung von außen gewiß ist. Unter mannigfachen Umständen erscheint ein solcher Lebensstil sich nicht als ganz geeignet zu bewähren, wenn draußen im Leben ein Handeln ohne liebevolle Hilfe nötig erscheint.

      Da taucht nun die Frage auf, welche Haltung im Leben richtig ist, welche Lösung der Lebensfragen erwartet werden muß. Die Individualpsychologie trachtet soviel als möglich zur Lösung dieser Frage beizutragen. Niemand ist mit der absoluten Wahrheit gesegnet. Eine konkrete Lösung, die allgemein als richtig befunden werden müßte, muß wenigstens in zwei Punkten stichhaltig sein. Ein Gedanke, ein Gefühl, eine Handlung ist nur dann als richtig zu bezeichnen, wenn sie richtig ist sub specie aeternitatis (= auf ewige Sicht). Und ferner muß in ihr das Wohl der Gemeinschaft unanfechtbar beschlossen sein. Dies gilt sowohl für Traditionen, als für neu auftauchende Probleme. Und gilt auch für lebenswichtige wie für kleinere Fragen des Lebens. Die drei großen Lebensfragen, die jeder zu lösen hat und in seiner Art lösen muß, die Fragen der Gemeinschaft, der Arbeit und der Liebe, können nur von solchen Menschen annähernd richtig gelöst werden, die in sich das lebendig gewordene Streben nach einer Gemeinschaft tragen. Keine Frage, daß in neu auftauchenden Problemen eine Unsicherheit, ein Zweifel bestehen kann. Aber nur der Wille zur Gemeinschaft kann vor großen Fehlern bewahren.

      Wenn wir bei solcher Untersuchung auf Typen stoßen, so sind wir nicht der Verpflichtung enthoben, das Einmalige des Einzelfalles zu finden. Dies gilt auch für verwöhnte Kinder, dieser sich auftürmenden Bürde für Elternhaus, Schule und Gesellschaft. Wir haben den Einzelfall zu finden, wenn es sich um schwererziehbare Kinder handelt, um nervöse oder wahnsinnige Personen, um Selbstmörder, Delinquenten, Süchtige, Perverse usf. Sie alle leiden an einem Mangel des Gemeinschaftsgefühls, der fast immer auf Verwöhnung in der Kindheit