Alfred Adler

Gesammelte Werke


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dem Zusammenhang sucht, wird man finden, daß jene Aufgabe, die dem Kind vorliegt, für das Kind zu schwer gewesen ist, daß sie aber dauernd besteht. Dadurch erscheint die Konstanz von nervösen Symptomen festgestellt und erklärt. Der Ausbruch der nervösen Symptome erfolgt vor einer bestimmten Aufgabe. Wir haben umfängliche Untersuchungen angestellt, um herauszufinden, worin die Schwierigkeit der Lösung von Problemen besteht, und die Individualpsychologie hat damit das ganze Gebiet dauernd beleuchtet, indem sie festgestellt hat, daß die Menschen immer Probleme vor sich haben, zu denen eine soziale Vorbereitung gehört. Die muß das Kind in frühester Kindheit erwerben, denn eine Steigerung ist nur aus dem Verständnis möglich. Wenn wir uns die Aufgabe gestellt haben, deutlich zu machen, daß tatsächlich immer ein solches Problem erschütternd wirkt, dann können wir von Schockwirkungen sprechen. Sie können von verschiedener Art sein. Einmal ist es die Frage der Gesellschaft. Eine Enttäuschung in der Freundschaft. Wer hat sie nicht erlebt, wer war dadurch nicht erschüttert? Die Erschütterung ist noch immer kein Zeichen von Nervosität. Sie ist nur dann ein Zeichen von Nervosität und wird Nervosität, wenn sie anhält, wenn sie einen Dauerzustand bildet, wenn der Betreffende sich mit Mißtrauen von jedem Du abwendet, wenn er deutlich zeigt, daß er durch Scheu, Schüchternheit, körperliche Symptome, Herzklopfen, Schwitzen, Magen-Darmerscheinungen, Harndrang immer abgehalten wird, sich irgendwo anderen Menschen zu nähern, ein Zustand, der in der individualpsychologischen Beleuchtung klar spricht und sagt, daß dieser Mensch das Kontaktgefühl mit anderen nicht genügend entwickelt hat, was auch daraus hervorgeht, daß ihn seine Enttäuschung zur Isolierung gebracht hat. Nun sind wir dem Problem schon näher gerückt und können uns ein Verständnis über die Nervosität verschaffen. Wenn einer zum Beispiel im Beruf Geld verliert und erschüttert ist, so ist das noch keine Nervosität. Eine nervöse Erscheinung wird es erst, wenn er dabei stehenbleibt und nur erschüttert ist und sonst gar nichts. Das läßt sich nur erklären, wenn man versteht, daß dieser Mensch keinen genügenden Grad von Mitarbeit erworben hat, daß er nur bedingungsweise vorwärtsgeht, wenn ihm alles gelingt. Dasselbe gilt auch für die Liebesfrage. Sicherlich ist die Lösung der Liebesfrage keine Kleinigkeit. Es bedarf schon einer gewissen Erfahrung, Verständnisses, einer gewissen Verantwortung. Wenn da einer durch diese Frage in eine Aufregung und Irritation gerät, wenn er, einmal zurückgeschlagen, nie mehr vorwärts geht, wenn sich in diesem Rückzug vor dem genannten Problem auch alle Emotionen einfinden, die den Rückzug sichern, wenn er ein solches Urteil für das Leben gewinnt, daß er an dem Rückzug festhält, dann erst ist es Nervosität. Jeder wird im Trommelfeuer Schockwirkungen erleben, aber zur Dauer werden sie nur dann führen, wenn er nicht für die Aufgaben des Lebens vorbereitet ist. Er bleibt stecken. Dieses Steckenbleiben haben wir begründet, indem wir sagten: das sind Menschen, die zur Lösung aller Probleme nicht richtig vorbereitet sind, das sind keine richtigen Mitarbeiter von Kindheit an, aber wir müssen noch etwas mehr sagen: es ist ja doch ein Leiden, das wir in der Nervosität zu beobachten haben, es ist keine Annehmlichkeit. Wenn ich jemandem die Aufgabe stellte, er solle Kopfschmerzen erzeugen, wie sie angesichts eines Problems zustande kommen, zu dessen Lösung er nicht vorbereitet ist, wird er nicht imstande sein, es zu tun. Deswegen müssen wir alle Auseinandersetzungen, einer erzeuge sein Leiden, er wolle krank sein, alle diese unrichtigen Anschauungen müssen wir a limine beseitigen. Es ist keine Frage, daß der Betreffende leidet, aber er zieht diese Leiden noch immer jenen größeren vor, um nicht bei der Lösung wertlos zu erscheinen. Er nimmt lieber alle nervösen Leiden in Kauf als die Enthüllung seiner Wertlosigkeit. Beide, der nervöse und der nichtnervöse Mensch werden einer Feststellung ihrer Wertlosigkeit den größten Widerstand entgegensetzen, aber der Nervöse weit mehr. Vergegenwärtigt man sich die Überempfindlichkeit, Ungeduld, Affektsteigerung, den persönlichen Ehrgeiz, so wird man begreifen können, daß ein solcher Mensch nicht vorwärts zu bringen ist, solange er sich in Gefahr glaubt, daß sich seine Wertlosigkeit enthüllen werde. Welche Stimmungslage erfolgt nun, nachdem diese Schockwirkungen eingetreten sind? Er hat sie nicht erzeugt, er wünscht sie nicht, sie sind aber da als die Folgen einer seelischen Erschütterung, als Folgen eines Gefühls der Niederlage, als Folgen der Furcht, in seiner Wertlosigkeit enthüllt zu sein. Diese Wirkung, die da entsteht, zu bek ämpfen, hat er keine rechte Neigung, er versteht sich auch nicht leicht dazu, sich aus ihr zu befreien. Er würde sie wegwünschen, er wird darauf bestehen: ich möchte ja gesund werden, ich will von den Symptomen befreit sein. Deshalb geht er auch zum Arzt. Was er aber nicht weiß, ist, daß er etwas noch mehr fürchtet: als etwas Wertloses dazustehen; es könnte sich etwa das düstere Geheimnis entpuppen, daß er nichts wert sei. Wir sehen nun, was eigentlich Nervosität ist: ein Versuch, dem größeren Übel auszuweichen, ein Versuch, den Schein des Wertes um jeden Preis aufrecht zu erhalten, alle Kosten zu zahlen, aber gleichzeitig zu wünschen, dieses Ziel zu erreichen, auch ohne Kosten zu zahlen. Leider ist das unmöglich. Es geht nicht anders, als daß man dem Betreffenden eine bessere Vorbereitung für das Leben verschafft, daß man ihn besser einbettet, daß man ihn ermutigt, was nicht durch ein Aufpeitschen, durch Strafen, Härte, Zwang erreicht werden kann. Man weiß, wie viele Menschen fähig sind, wenn sie über eine gewisse Aktivität verfügen, sich lieber umzubringen, als die Probleme zu lösen. Das ist deutlich. Deshalb können wir von einem Zwang nichts erwarten, es muß eine systematische Vorbereitung eintreten, bis der Betreffende sich sicher fühlt, so daß er an die Lösung des Problems schreiten kann. Andererseits ist es ein Mensch, der glaubt, vor einem tiefen Abgrund zu stehen, der fürchtet, wenn er angetrieben wird, in den Abgrund zu stürzen, das heißt, daß seine Wertlosigkeit sich enthüllen würde.

      Ein 35jähriger Rechtsanwalt klagt über Nervosität, ununterbrochenen Schmerz in der Hinterhauptgegend, allerlei Beschwerden in der Magengegend, Stumpfheit im ganzen Kopf und allgemeine Schwäche und Müdigkeit. Dabei ist er immer in Aufregung und ruhelos. Oft hat er Angst das Bewußtsein zu verlieren, wenn er mit fremden Menschen sprechen soll. Zu Hause, in der Familie seiner Eltern, fühlt er sich erleichtert, obwohl ihm auch dort die Atmosphäre nicht behagt. Er ist überzeugt, daß er dieser Symptome wegen keinen Erfolg haben kann.

      Die klinische Untersuchung ergab ein negatives Resultat bis auf eine Skoliose, die bei Verlust des Muskeltonus infolge der Depression zur Erklärung des Hinterhauptschmerzes und der Rückenschmerzen herangezogen werden kann. Die Müdigkeit kann ohne weiteres seiner Ruhelosigkeit zugeschrieben werden, ist aber sicher auch wie das stumpfe Gefühl im Kopfe als eine Teilerscheinung der Depression zu verstehen. Die Beschwerden in der Magengegend sind aus der allgemeinen Diagnostik, die wir hier anwenden, schwerer zu verstehen, könnten als Nervenirritation infolge der Skoliose entstanden sein, aber auch der Ausdruck einer Prädilektion sein, die Antwort eines minderwertigen Organs auf eine seelische Irritation. Für letzteres spricht die Häufigkeit von Magenstörungen in der Kindheit und eine ähnliche Klage des Vaters, ebenfalls ohne organischen Befund. Patient weiß auch, daß gelegentliche Aufregungen immer von Verschlechterung seines Appetits, manchmal mit Erbrechen, begleitet waren.

      Eine vielleicht als Kleinigkeit angesehene Klage läßt uns den Lebensstil des Patienten etwas genauer erkennen. Seine Ruhelosigkeit spricht deutlich dafür, daß er den Kampf um »seinen Erfolg« nicht ganz aufgegeben hat. Für die gleiche Schlußfolgerung, wenn auch in eingeschränkterem Maße, spricht seine Mitteilung, daß er sich auch zu Hause nicht wohl fühlt. In eingeschränkterem Maße deshalb, weil ihn seine Angst, fremden Menschen zu begegnen, also ins Leben hinauszutreten, auch zu Hause nicht verlassen kann. Die Furcht, das Bewußtsein zu verlieren, läßt uns aber einen Blick in die Werkstätte seiner Neurose tun: er sagt es, weiß es aber nicht, wie er seine Aufregung, wenn er Fremde sehen muß, durch einen vorgefaßten Gedanken, bewußtlos zu werden, künstlich steigert. Es sind zwei Gründe namhaft zu machen, warum der Patient es nicht weiß, daß er künstlich, als ob in einer Absicht, die Aufregung bis zu einer Konfusion steigert. Der eine Grund liegt auf der Hand, wenngleich nicht allgemein verstanden: der Patient blickt gleichsam schielend nur auf seine Symptome und nicht auf den Zusammenhang mit seiner Gangart. Der andere Grund ist: daß der unerbittliche Rückzug, die »Avance rückwärts«, wie ich es vor langer Zeit als wichtigstes neurotisches Symptom beschrieben habe, in unserem Falle verbunden mit schwachen Versuchen sich aufzuraffen, nicht unterbrochen werden darf. Die Erregung, in die der Patient gerät � was freilich auch bewiesen werden muß, denn bisher ist es nur unter Zuhilfenahme der allgemeinen Diagnostik, der individualpsychologischen Erfahrung und mittels medizinischpsychologischer Intuition erraten � wenn er mit den drei Lebensfragen Gemeinschaft, Beruf, Liebe zusammenstößt, für