Universität verlassen hatte, versuchte er als Hilfskraft in einer Rechtsanwaltskanzlei unterzukommen. Er blieb dort nur wenige Wochen, weil ihm sein Wirkungskreis zu dürftig vorkam. Nachdem er mehrmals aus diesem Grund und aus anderen Gründen gewechselt hatte, beschloß er, sich lieber theoretischen Studien hinzugeben. Man lud ihn zu Vorlesungen über Rechtsfragen ein, aber er lehnte ab, »weil er vor einem größeren Kreis nicht sprechen könne«. In dieser Zeit, er war damals 32 Jahre alt, stellten sich seine Symptome ein. Ein Freund, der ihm helfen wollte, erbot sich, mit ihm zugleich das Referat zu erstatten. Unser Patient stellte die Bedingung, als Erster zu sprechen. Er betrat die Plattform zitternd und verwirrt und fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Er sah nur schwarze Flecken vor den Augen. Kurz nach der Vorlesung fanden sich seine Magenbeschwerden ein, und er stellte sich vor, er müsse sterben, wenn er noch einmal vor vielen Leuten sprechen müßte. In der nächsten Zeit beschäftigte er sich nur damit, Kindern Unterricht zu geben.
Ein Arzt, den er befragte, erklärte ihm, er müsse sich sexuell betätigen, um gesund zu werden. Wir könnten das Unsinnige eines solchen Rates voraussehen. Der Patient, der sich bereits am Rückzug befand, beantwortete diesen Rat mit Syphilisfurcht, mit ethischen Bedenken und mit der Furcht, betrogen und der Vaterschaft eines illegitimen Kindes bezichtigt zu werden. Seine Eltern rieten ihm zu einer Heirat und hatten damit scheinbar Erfolg, als sie ihm auch das Mädchen zur Ehe brachten. Es trat eine Schwangerschaft ein und die Frau verließ das Haus, um zu ihren Eltern zurückzukehren, da sie, wie sie sagte, die fortwährende Kritik von oben herab nicht länger ertragen konnte.
Wir sehen schon jetzt, wie hochmütig unser Patient sein konnte, wenn sich ihm eine leichte Gelegenheit bot � wie er aber sofort den Rückzug antrat, wenn ihm die Sache unsicher schien. Um Weib und Kind kümmerte er sich nicht. Er war immer nur darum besorgt, nicht minderwertig zu scheinen, und diese Besorgnis war stärker als sein Streben nach dem so sehnlichst gesuchten Erfolg. Er scheiterte, als er an die Front des Lebens kam, geriet in eine andauernde Gefühlswelle höchster Angst un d verstärkte seinen Rückzug durch Aufrichtung von Schreckgespenstern, weil ihm der Rückzug dadurch erleichtert war.
Stärkere Beweise? Wir wollen sie in zweifacher Art erbringen. Erstens, indem wir in die Zeit seiner frühen Kindheit zurückgreifen wollen, um festzustellen, daß er zu dem Lebensstil verleitet wurde, den wir bei ihm gefunden haben. Zweitens, indem wir weitere gleichlaufende Beiträge aus seinem Leben herbeitragen wollen. Ich würde es in jedem Falle als den stärksten Beweis der Richtigkeit eines Befundes dieser Art ansehen, wenn sich herausstellte, daß die weiteren Beiträge zur Charakteristik einer Person mit der bereits gefundenen vollkommen übereinstimmen. Sollten sie es nicht, dann müßte die Auffassung des Untersuchenden entsprechend geändert werden.
Die Mutter war, wie der Patient angibt, eine weiche Frau, an der er sehr hing, und die ihn gründlich verzärtelte, auch immer von ihm ganz große Leistungen erwartete. Der Vater war weniger zur Verwöhnung geneigt, gab aber unter allen Umständen nach, wenn der Patient unter Weinen seine Wünsche vorbrachte. Unter den Geschwistern zog er einen jüngeren Bruder vor, der ihn vergötterte, ihm jeden Wunsch erfüllte, ihm wie ein Hündchen nachlief und sich von ihm immer leiten ließ. Der Patient war die Hoffnung seiner Familie und konnte sich auch bei den anderen Geschwistern immer durchsetzen. Eine ungewöhnlich leichte, warme Situation also, die ihn für die Außenwelt ungeeignet machte.
Dies zeigte sich sofort, als er zum erstenmal in die Schule sollte. Er war der Jüngste in der Klasse und nahm dies zum Anlaß, seine Abneigung gegen diese Außenposition durch zweimaligen Schulwechsel zu bekunden. Dann aber lernte er mit ungeheurem Eifer, um alle anderen Schüler zu übertreffen. Wenn ihm dies nicht gelang, so trat er einen Rückzug an, blieb häufig wegen Kopf- und Magenschmerzen aus der Schule weg oder kam häufig zu spät. War er gleich in dieser Zeit nicht unter den besten Schülern, so schrieben er und die Eltern diesen Umstand seinen häufigen Absenzen zu, während unser Patient gleichzeitig stark betonte, daß er mehr wußte und mehr gelesen hatte als alle anderen Schüler.
Bei den geringsten Anlässen steckten ihn die Eltern ins Bett und pflegten ihn vorsorglich. Er war immer ein ängstliches Kind gewesen und schrie oft im Schlafe auf, um seine Mutter auch des Nachts mit sich zu beschäftigen.
Es versteht sich, daß er über die Bedeutung und über den Zusammenhang aller dieser Erscheinungen nicht im klaren war. Sie alle waren der Ausdruck, die Aussprache seines Lebensstils. Er wußte auch nicht, daß er deshalb bis spät in den Morgen hinein im Bette las, um am nächsten Tage das Privilegium zu genießen, spät aufstehen zu können und so eines Teiles seiner Tagesarbeiten ledig zu werden. Mädchen gegenüber war seine Scheu noch größer als gegenüber Männern, und dieses Verhalten überdauerte die ganze Zeit seiner Entwicklung zum Manne. Daß es ihm in jeder Lebenssituation an Mut gebrach, daß er um keinen Preis seine Eitelkeit aufs Spiel setzen wollte, kann leicht verstanden werden. Die Unsicherheit, von Mädchen gut aufgenommen zu werden, kontrastierte stark mit der Sicherheit, mit der er die Hingabe der Mutter erwarten durfte. In seiner Ehe wollte er die gleiche Herrschaft errichten, deren er sich bei Mutter und Brüdern erfreute und mußte natürlich scheitern.
Ich konnte feststellen, daß in den ältesten Kindheitserinnerungen, freilich oft gut verborgen, der Lebensstil eines Individuums zu finden ist. Unseres Patienten älteste Erinnerung lautete: »Ein kleiner Bruder war gestorben, und der Vater saß vor dem Hause und weinte bitterlich.« Wir erinnern uns, wie der Patient vor einer Vorlesung nach Hause flüchtete und zu sterben vorgab.
Wie einer zur Frage der Freundschaft steht, charakterisiert sehr gut seine Fähigkeit zum Gemeinschaftsmenschen. Unser Patient gibt an, daß er immer nur kurze Zeit Freunde besessen habe und daß er sie immer beherrschen wollte. Man wird dies wohl nur Ausbeutung der Freundschaft anderer nennen können. Als er auf diesen Umstand freundlich hingewiesen wurde, antwortete er: »Ich glaube nicht, daß irgend einer sich für die Gemeinschaft einsetzt, jeder tut es nur für sich.« Wie er sich für den Rückzug rüstet, geht auch aus folgenden Tatsachen hervor: Er möchte gerne Artikel oder ein Buch schreiben. Aber wenn er sich zum Schreiben hinsetzt, kommt er in eine solche Erregung, daß er nicht denken kann. Er erklärt, nicht schlafen zu können, wenn er vorher nicht liest. Aber wenn er liest, bekommt er einen Druck im Kopfe, so daß er nicht schlafen kann. Sein Vater starb vor kurzer Zeit, gerade als der Patient eine andere Stadt besuchte. Kurz hernach sollte er dort eine Stelle annehmen. Er lehnte ab unter Vorgabe, er würde sterben, wenn er diese Stadt betreten müßte. Als man ihm in seiner Stadt eine Stelle anbot, schlug er sie aus mit der Motivierung, er würde die erste Nacht nicht schlafen können und am nächsten Tag deshalb versagen. Erst müsse er ganz gesund werden. Daß auch im Traum des Patienten sein Bewegungsgesetz, dieses »Ja, aber« des Neurotikers wieder zu finden ist, dafür ein Beispiel. Man kann mit der Technik der Individualpsychologie die Dynamik eines Traumes finden. Sie sagt uns nichts Neues, nichts, was wir nicht sonst auch aus dem Verhalten des Patienten erkennen konnten. Man kann aus den richtig verstandenen Mitteln und aus der Auswahl der Inhalte erkennen, wie der Träumer, geleitet durch sein Bewegungsgesetz, bemüht ist, entgegen dem Common sense seinen Lebensstil durch künstliche Erweckung von Gefühlen und Emotionen durchzusetzen. Und man findet auch oft Hinweise darauf, wie der Patient seine Symptome unter dem Druck der Furcht vor einer Niederlage erzeugt. Ein Traum dieses Patienten lautet: »Ich sollte Freunde besuchen, die jenseits einer Brücke wohnten. Das Geländer war mit Farbe frisch gestrichen. Ich wollte ins Wasser schauen und lehnte mich ans Geländer. Dieses stieß gegen meinen Magen, der zu schmerzen begann. Ich sagte zu mir selbst: du sollst nicht ins Wasser hinabschauen. Du könntest hinunterfallen. Aber ich wagte es doch, ging abermals bis zum Geländer, blickte hinab und ging rasch zurück, indem ich überlegte, es sei doch besser, in Sicherheit zu sein.«
Der Besuch der Freunde und das frisch gestrichene Geländer deuten auf die Hinweise betreffs des Gemeinschaftsgefühls und des Neuaufbaues eines besseren Lebensstils. Die Furcht des Patienten, von seiner Höhe herabzufallen, sein »Ja, aber«, sind klar genug hervorgehoben. Die Magenbeschwerden als Folge eines Furchtgefühls sind, wie früher beschrieben, konstitutionell immer zur Hand. Der Traum zeigt uns die ablehnende Haltung des Patienten gegenüber den bisherigen Bemühungen des Arztes und den Sieg des alten Lebensstils unter Zuhilfenahme eines eindringlichen Bildes einer Gefahr, wenn die Sicherheit des Rückzuges in Frage gestellt ist.
Die Neurose ist die dem Verständnis des Patienten entzogene,