dieser Persönlichkeit zu funktionellen Störungen in Körper und Seele. Der Patient, vielleicht von früher her schon durch kleinere Fehlschläge belehrt, schreckt vor dem »exogenen« Faktor zurück, fühlt sich nun dauernd von einer Niederlage bedroht, um so mehr, wenn er als verwöhntes Kind (ein neuer Beweis, den wir in der Folge zu führen haben werden) sein selbst aufgebautes Ziel einer persönlichen Überlegenheit ohne Interesse für die anderen mehr und mehr unerreichbar findet. In dieser Stimmungslage von erhöhten Emotionen, die immer der Angst vor einer endgültigen Niederlage entspringen, wenngleich Angst im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht immer deutlich hervortreten muß, entstehen ja nach der körperlichen, meist angeborenen, und nach der seelischen, immer erworbenen Konstitution, immer miteinander vermengt und sich gegenseitig beeinflussend, jene Symptome, die wir in der Neurose und Psychose finden.
Ist dies aber schon die Neurose? Die Individualpsychologie hat wahrlich viel getan, die Tatsache aufzuklären, daß man zur Lösung der Lebensaufgaben schlecht oder gut vorbereitet sein kann, und daß dazwischen viele tausend Varianten zu finden sind. Viel auch, um verstehen zu lassen, daß die gefühlte Unfähigkeit zur Lösung Körper und Seele anläßlich des exogenen Faktors tausendfältig vibrieren macht. Sie hat auch gezeigt, daß die mangelnde Vorbereitung aus der frühesten Kindheit stammt und sich weder durch Erlebnisse noch durch Emotionen, sondern nur durch Erkenntnisse bessern läßt. Und sie hat als den integrierenden Faktor im Lebensstil das Gemeinschaftsgefühl entdeckt, das zur Lösung aller Lebensfragen in ausschlaggebender Weise vorhanden sein muß. Die körperlichen und seelischen Erscheinungen, die das Gefühl des Versagens begleiten und charakterisieren, habe ich als Minderwertigkeitskomplex beschrieben. Freilich sind die Schockwirkungen im Falle des Minderwertigkeitskomplexes bei schlechter vorbereiteten Individuen größer als bei besser vorbereiteten, bei mutigeren Menschen geringer als bei entmutigten und stets Hilfe von außen suchenden. Konflikte, die ihn mehr oder weniger erschüttern, hat jedermann. Körperlich und seelisch fühlt sie jedermann. Unsere Körperlichkeit, die äußeren sozialen Verhältnisse ersparen keinem das Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber der Außenwelt. Hereditäre Organminderwertigkeiten sind allzu häufig, als daß sie durch die harten Anforderungen des Lebens nicht getroffen würden. Die Umweltsfaktoren, die auf das Kind einwirken, sind nicht von der Art, ihm den Aufbau eines »richtigen« Lebensstils leicht zu ermöglichen. Verwöhnung, vermeintliche oder wirkliche Vernachlässigung, besonders erstere, verleiten das Kind allzuoft, sich in Widerspruch zum Gemeinschaftsgefühl zu setzen. Dazu kommt noch, daß das Kind sein Bewegungsgesetz zumeist ohne richtige Anleitung findet, nach dem trügerischen Gesetz von Versuch und Irrtum, in eigner, nur durch die menschlichen Grenzen eingeengter Willkür, immer aber auch einem Ziel der Überlegenheit in millionenfachen Varianten zustrebend. Die schöpferische Kraft des Kindes benützt, »gebraucht« alle Eindrücke und Empfindungen als Impulse zu einer endgültigen Stellungnahme, zur Entwicklung seines individuellen Bewegungsgesetzes. Man hat diese von der Individualpsychologie hervorgehobene Tatsache später als »Einstellung« oder als »Gestalt« bezeichnet, ohne dem Ganzen des Individuums und seiner Verbundenheit mit den drei großen Fragen des Lebens gerecht zu werden, auch ohne die Leistung der Individualpsychologie dabei anzuerkennen. Ist nun der Konflikt eines »schlimmen« Kindes, eines Selbstmörders, eines Verbrechers, eines erzreaktionären Menschen, eines sinnlos ultraradikalen Kämpfers, eines saumselig Dahinlebenden, eines durch die Not, die ihn umgibt, in seiner Behaglichkeit gestörten Prassers, ist dieser Konflikt samt den körperlichen und seelischen Folgen bereits »die Neurose«? Sie alle treffen in ihrem verfehlten, beharrlichen Bewegungsgesetz die von der Individualpsychologie betonte »Wahrheit«, geraten in Widerspruch mit dem sub specie aeternitatis »Richtigen«, mit der unerbittlichen Forderung einer idealen Gemeinschaft. Sie verspüren die freilich tausendfachen Folgen dieses Zusammenstoßes, freilich in tausendfachen Varianten, körperlich und seelisch. Aber ist dies die Neurose? Gäbe es nicht die unerbittlichen Forderungen der idealen Gemeinschaft, könnte jeder im Leben seinem verfehlten Bewegungsgesetz genügen � man kann phantasievoller auch sagen: seinen Trieben, seinen bedingten Reflexen � so gäbe es keinen Konflikt. Niemand kann eine derart sinnlose Forderung aufstellen. Sie regt sich nur schüchtern, wenn einer die Verbundenheit von Individuum und Gemeinschaft übersieht oder zu trennen versucht. Jeder beugt sich mehr oder weniger willig dem ehernen Gesetz der idealen Gemeinschaft. Nur das zum äußersten verwöhnte Kind wird erwarten und verlangen: »res mihi subigere conor«, wie Horaz tadelnd hervorhebt. Frei übersetzt: die Gemeinschaftsbeiträge für mich auszunützen, ohne etwas beizutragen. »Warum ich meinen Nächsten lieben soll«, geht aus der untrennbaren Verbundenheit der Menschen hervor und aus dem unerbittlich richtenden Ideal der Gemeinschaft. Nur wer einen genügenden Anteil dieses Zieles zur Gemeinschaft in sich, in seinem Bewegungsgesetz trägt und ihn lebt wie Atmen, wird auch die ihm zukommenden Konflikte im Sinne der Gemeinschaft zu lösen imstande sein.
Wie jedermann erlebt auch der Neurotiker seine Konflikte. Sein Lösungsversuch aber unterscheidet ihn klar von allen anderen. Bei der Tausendfältigkeit von Varianten sind Teilneurosen und Mischformen stets zu finden. In seinem Bewegungsgesetz ist der Rückzug vor Aufgaben, die durch eine gefürchtete Niederlage seine Eitelkeit, sein vom Gemeinschaftsgefühl allzu stark getrenntes Streben nach persönlicher Überlegenheit, sein Streben, der Erste zu sein, gefährden könnten, von Kindheit her trainiert. Sein Lebensmotto: »Alles oder nichts«, meist wenig gemildert, die Überempfindlichkeit des stets von Niederlagen Bedrohten, seine Ungeduld, die Affektsteigerung des wie in Feindesland Lebenden, seine Gier, bringen häufiger und stärkere Konflikte hervor, als nötig wären, und machen ihm den durch seinen Lebensstil vorgeschriebenen Rückzug leichter. Die von Kindheit her trainierte und erprobte Taktik des Rückzuges kann leicht eine »Regression« auf infantile Wünsche vortäuschen. Aber nicht auf solche Wünsche kommt es dem Neurotiker an, sondern auf seinen Rückzug, den er gerne mit Opfern aller Art bezahlt. Auch hier liegt eine trügerische Verwechslung mit »Formen der Selbstbestrafung« nahe. Aber: nicht auf die Selbstbestrafung kommt es ihm an, sondern auf das Gefühl der Erleichterung durch den Rückzug, der ihn vor einem Zusammenbruch seiner Eitelkeit, seines Hochmutes bewahrt.
Vielleicht wird man jetzt endlich verstehen, was das Problem der »Sicherung« in der Individualpsychologie bedeutet. Es kann nur im ganzen Zusammenhang erkannt werden. Nicht als »sekundär«, sondern als hauptsächlich. Der Neurotiker »sichert« sich durch seinen Rückzug und »sichert« seinen Rückzug durch Steigerung der Schockerscheinungen körperlicher und seelischer Art, die im Zusammenstoß mit einem die Niederlage androhenden Problem entstanden sind.
Er zieht sein Leiden dem Zusammenbruch seines persönlichen Hochgefühls vor, von dessen Stärke bisher nur die Individualpsychologie Kenntnis hat. Dieses Hochgefühl, das in der Psychose nur oft deutlicher hervortritt, sein Überlegenheitskomplex, wie ich es genannt habe, ist so stark, daß der Neurotiker selbst es nur mit schaudernder Ehrfurcht von ferne ahnt und daß er gerne seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet, wenn er es in der Wirklichkeit erproben soll. Es treibt ihn nach vorne. Er aber muß des Rückzuges wegen alles verwerfen, alles vergessen, was den Rückzug hindern könnte. Es gibt nur Raum dem Rückzugsgedanken, den Rückzugsgefühlen und den Rückzugshandlungen.
Der Neurotiker wendet sein ganzes Interesse dem Rückzug zu. Jeder Schritt vorwärts wird von ihm als ein Fall in den Abgrund mit allen Schrecken ausgestattet. Deshalb trachtet er mit aller Macht, mit allen seinen Gefühlen, mit allen seinen erprobten Rückzugsmitteln sich im Hinterland festzuhalten. Die Ausstattung seiner Schockerlebnisse, für die er sein ganzes Interesse aufwendet, wobei er vom einzig wichtigen Faktor abgewendet bleibt, von seiner Furcht vor der Erkenntnis, wie weit er von seinem egoistischen Hochziel entfernt ist, der große Aufwand meist metaphorisch eingekleideter und aufgepeitschter Gefühle, wie der Traum sie liebt, um entgegen dem Common sense beim eigenen Lebensstil zu verharren, gestatten ihm, sich an den nun fertigen Sicherungen festzuhalten, um nicht der Niederlage entgegengetrieben zu werden. Die Meinung und das Urteil der anderen, die bei Ausbruch der Neurose mildernde Umstände gelten lassen, aber ohne sie den zitternden Nimbus des Neurotikers nicht anerkennen würden, wird zur größten Gefahr. Kurz gesagt: die Ausnützung der Schockerlebnisse zum Schütze des bedrohten Nimbus � das ist die Neurose. Oder noch kürzer: die Stimmungslage des Neurotikers gestaltet sich zu einem »Ja, aber«. Im »Ja« steckt die Anerkennung des Gemeinschaftsgefühls, im »Aber« der Rückzug und seine Sicherungen. Man schadet der Religion nur, wenn man sie oder ihr Fehlen für die Neurose verantwortlich macht.