Alfred Adler

Gesammelte Werke


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daß ich in der Schule noch im Zweifel war, ob ich ein Bub oder ein Mädel bin. In den Pausen mußte ich aufs Klosett gehen, um nachzusehen, ob ich nicht doch ein Mädchen bin.«

       Zweiter Traum:

      »Ich träumte, ich treffe das einzige Mädchen in unserer Klasse. Dasselbe Mädchen, von dem ich vorhin geträumt hatte. Sie wollte mit mir Spazierengehen. Ich antwortete ihr: ich gehe jetzt nur mit Buben. Sie sagte: ich bin auch ein Bub. Ich verlangte von ihr, da mir das nicht glaubhaft erschien, sie möge es mir beweisen. Da zeigte sie mir, daß sie einen Geschlechtsteil wie die Buben habe. Ich fragte sie, wie das möglich sei. Sie erzählte mir, sie sei operiert worden. Bei den Buben war es leichter, sie in ein Mädchen zu verwandeln, umgekehrt ist das schwieriger, da mußte man etwas dazugeben. So hatte sie aus Kautschuk einen Knabengeschlechtsteil angenäht. Doch eben wurde unsere Diskussion durch ein lautes Aufstehen� gestört. Meine Eltern haben mich aufgeweckt. Ich konnte nur mit Mühe und Not fünf Minuten Faulenzen erbitten, aber da ich kein Zauberer bin, konnte ich den Traum nicht wieder hervorrufen.«

      Man wird bei einem gewissen Typus von verwöhnten Kindern die Neigung für Zauberkunststücke finden; das Zaubern erscheint ihnen das Wichtigste, sie wollen alles ohne Anstrengung und Mühe haben und haben für Telepathie viel übrig. Nun werden wir hören, wie der Junge versucht, sich diesen Traum zu erklären:

      »Ich hatte in Kriegsbeschreibungen gelesen: Geschlechtsteile fliegen durch die Luft. Ich habe gehört, wenn man den Geschlechtsteil verliert, stirbt man.«

      Man sieht die Wichtigkeit, die der Junge dem Geschlechtsteil beimißt. »Auf dem Titelblatt einer Zeitung habe ich gelesen: Zwei Hausgehilfinnen in zwei Stunden in Soldaten verwandelt.«

      Es dürfte sich um eine Mißbildung der Geschlechtsorgane gehandelt haben, die verkannt wurde.

      Zum Schluß möchte ich einem Gedanken Ausdruck geben, der alle hierher gehörigen Diskussionen auf eine einfachere Basis stellt. Es gibt wirkliche Hermaphroditen, bei denen tatsächlich die Entscheidung schwer wird, ob man es mit Mädchen oder Knaben zu tun hat. Man überläßt ihnen den Gebrauch, den sie von dem Hermaphroditismus machen wollen. Bei den Pseudohermaphroditen finden wir Mißbildungen, die die Ähnlichkeit mit dem anderen Geschlecht vortäuschen. Tatsache ist, daß jeder Mensch spurweise Anteile des anderen Geschlechts in sich trägt, wie auch Sexualhormone des anderen Geschlechts im Urin. Da kommt man auf einen Gedanken, der kühn erscheint; daß in jedem Menschen ein Zwilling steckt. Es gibt die verschiedensten Formen von Andeutung der Zwillingschaft, und das Problem der Gleichzeitigkeit zweier Geschlechtsformen im Menschen wird sich in der Zukunft im Zwillingsproblem auflösen. Wir verstehen, daß jeder Mensch aus männlichem und weiblichem Material geboren wird. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir bei der Zwillingsforschung auf Probleme stoßen, die uns bezüglich des Hermaphroditismus, der in jedem Menschen angedeutet ist, größere Klarheit geben.

      Bezüglich der Behandlung: Man wird immer hören, daß eine Perversion unheilbar ist. Unmöglich ist die Heilung nicht, aber schwer. Die Schwierigkeit der Heilung erklärt sich daraus, daß es Menschen sind, die im Verlaufe des Lebens auf die Perversion trainiert haben, weil sie ein eingeengtes Bewegungsgesetz haben, das ihnen den Verlauf vorschreibt. Sie müssen in dieser Richtung gehen, weil sie von frühester Jugend an den Kontakt nicht gefunden haben, um den richtigen Gebrauch von Körper und Seele zu machen. Der richtige Gebrauch kann nur unter Voraussetzung eines entwickelten Gemeinschaftsgefühls gemacht werden, eine Erkenntnis, die die Heilung auch einer größeren Zahl von Perversen als wahrscheinlich erscheinen läßt.

      12. Erste Kindheitserinnerungen

       Inhaltsverzeichnis

      Man mag von der Einheit des Ich noch so wenig wissen, man wird sie nicht los. Man kann das einheitliche Seelenleben nach verschiedenen, mehr oder weniger wertlosen Gesichtspunkten zergliedern, man kann zwei, drei, vier verschiedene räumliche Anschauungen miteinander, gegeneinander auftreten lassen, um das einheitliche Ich begreifen zu wollen, man kann es vom Bewußten, vom Unbewußten, vom Sexuellen, von der Außenwelt her aufzurollen versuchen � zum Schluß wird man nicht umhin können, es wieder, wie den Reiter auf dem Roß in seine allumfassende Wirksamkeit einsetzen zu müssen. Immerhin ist der Fortschritt, den die Individual­psychologie angebahnt hat, nicht mehr zu verkennen. Das »Ich« hat in der Anschauung der modernen Psychologie seine Würde durchgesetzt, und ob man es nun aus dem Unbewußten oder aus dem »Es« delogiert zu haben glaubt, das »Es« benimmt sich zum Schluß manierlich oder unmanierlich wie ein »Ich«. Auch daß das sogenannte Bewußte oder das Ich voll steckt von »Unbewußtem« oder, wie ich gezeigt habe, von Unverstandenem, daß es immer verschiedene Grade von Gemeinschaftsgefühl aufweist, wird mehr und mehr von der Psychoanalyse, die in der Individualpsychologie »einen Gefangenen gemacht hat, der sie nicht mehr losläßt«, begriffen und in ihr künstliches System gebracht.

      Daß ich schon frühzeitig in meinen Bestrebungen, die undurchbrechbare Einheit des Seelenlebens klarzumachen, auf die Funktion und Struktur des Gedächtnisses stoßen mußte, ist begreiflich. Ich konnte die Feststellungen älterer Autoren bestätigen, daß das Gedächtnis keinesfalls als ein Sammelplatz von Eindrücken und Empfindungen anzusehen ist, daß nicht Eindrücke als »Mneme« haften, sondern daß wir es in dieser Funktion mit einer Teilkraft des einheitlichen Seelenlebens zu tun haben, des Ichs, das die Aufgabe hat, wie auch die Wahrnehmung sie hat, Eindrücke dem fertigen Lebensstil anzupassen und sie in seinem Sinne zu verwenden. Wollte man sich einer kannibalischen Ausdrucksweise bedienen, so könnte man sagen, die Aufgabe des Gedächtnisses ist, Eindrücke aufzufressen und zu verdauen. Daß man dabei nicht gerade an eine sadistische Neigung des Gedächtnisses zu glauben braucht, muß ich meinen Lesern nicht besonders auftragen. Der Verdauungsprozeß aber obliegt dem Lebensstil. Was ihm nicht schmeckt, wird verworfen, vergessen, oder als warnendes Exempel aufbewahrt. Der Lebensstil entscheidet. Ist er für Warnungen eingenommen, so verwendet er unverdauliche Eindrücke zu diesem Zweck. Man wird dabei an den Charakterzug der Vorsicht erinnert. Manches wird halb verdaut, zu einem Viertel, zu einem Tausendstel. Der Verdauungsprozeß kann aber auch in die Richtung gehen, nur die an den Eindrücken haftenden Gefühle oder Stellungnahmen, gelegentlich vermengt mit Wort- oder Begriffserinnerungen oder Anteilen derselben zu verdauen. Wenn ich den Namen einer mir sonst bekannten Person � es muß nicht immer eine mißliebige sein, sie muß mich nicht immer an Unliebsames erinnern, sie kann auch, was Namen oder Person betrifft, gerade in dieser Zeit oder immer außerhalb meines, durch den Lebensstil erzwungenen, Interesses liegen � vergesse, so weiß ich oft alles, was an dieser Person mir wichtig erscheint. Sie steht vor mir. Ich kann sie finden, vieles über sie aussagen. Gerade weil ich den Namen nicht erinnere, steht sie voll und ganz im Gesichtsfeld meines Bewußtseins. Das heißt: mein Gedächtnis kann in einer der oben geschilderten oder in anderer Absicht, Anteile des ganzen Eindruckes oder das Ganze des Eindruckes verschwinden lassen. Eine künstlerische Fähigkeit, die dem Lebensstil eines Menschen entspricht. Das Ganze des Eindruckes umfaßt also viel mehr als das in Worte gekleidete Erlebnis. Die individuelle Apperzeption liefert dem Gedächtnis die Wahrnehmung entsprechend der Eigenart des Individuums. Die Eigenart des Individuums übernimmt den so geformten Eindruck und stattet ihn mit Gefühlen und mit einer Stellungnahme aus. Letztere beide gehorchen wieder dem Bewegungsgesetz des Individuums. In diesem Verdauungsprozeß bleibt übrig, was wir Erinnerung nennen wollen, ob es sich nun in Worten, in Gefühlen oder in Stellungnahme zur Außenwelt ausdrückt. Dieser Prozeß umfaßt ungefähr das, was wir unter Funktion des Gedächtnisses verstehen. Eine ideale, objektive Reproduktion, unabhängig von der Eigenart des Individuums, existiert demnach nicht. Wir müssen deshalb damit rechnen, ebensoviele Formen von Gedächtnissen zu finden als wir Formen von Lebensstilen anerkennen.

      Eines der häufigsten Beispiele einer bestimmten Lebensform und ihres Gedächtnisses soll diese Tatsache erläutern.

      Ein Mann klagt in ärgerlicher Weise darüber, daß seine Frau »alles« vergißt. Als Arzt wird man zunächst an eine organische Erkrankung des Gehirns denken. Da dies in diesem Falle ausgeschlossen war, ging ich daran, unter vorläufiger Zurückstellung des Symptoms � eine Notwendigkeit, die viele Psychotherapeuten nicht verstehen �,