Alfred Adler

Gesammelte Werke


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den größten Anteil. Die viel jüngere Anschauung Charlotte Bühlers bezüglich eines »normalen« Trotzstadiums des Kindes müssen wohl richtig auf unsere Erfahrungen reduziert werden. Daß die Kinderfehler mit Charakterzügen wie Trotz, Eifersucht, Eigenliebe, Mangel an Gemeinschaftsgefühl, selbstischem Ehrgeiz, Rachsucht usw. verknüpft sind, sie das eine Mal mehr, das andere Mal weniger deutlich zeigen, geht aus der oben geschilderten Struktur hervor, bestätigt auch unsere Auffassung des Charakters als einer Leitlinie zum Ziel der Überlegenheit, als einer Spiegelung des Lebensstils und als einer sozialen Stellungnahme, die nicht angeboren ist, sondern gleichzeitig mit dem vom Kinde geschaffenen Bewegungsgesetz fertiggestellt wird. An den wahrscheinlich kleinen Freuden wie Stuhlverhaltung, Daumenlutschen, kindlichen Spielen am Genitale usw. festzuhalten, die vielleicht gelegentlich durch ein stärkeres, zum Verschwinden bestimmtes Kitzelgefühl eingeleitet werden, zeigt sich die Eigenart verwöhnter Kinder, die sich keinen Wunsch und keinen Genuß versagen können.

      Eine weitere gefährliche Ecke für die Entwicklung des Gemeinschafts­gefühls bildet die Persönlichkeit des Vaters. Die Mutter darf ihm nicht die Gelegenheit nehmen, den Kontakt mit dem Kinde so fest als möglich zu gestalten, wie es im Falle der Verwöhnung oder im Falle des mangelnden Kontaktes, im Falle der Abneigung gegen ihn leicht geschehen kann. Er darf auch nicht zu Zwecken der Drohung oder der Strafe auserkoren werden. Und er muß dem Kinde genügende Zeit und Wärme geben, um nicht durch die Mutter in den Hintergrund gedrängt zu werden. Als besondere Schädlichkeiten kann ich noch anführen, wenn er die Mutter durch übergroße Zärtlichkeit auszustechen trachtet, wenn er zur Korrektur der Verwöhnung durch die Mutter ein strenges Regime einführt und so das Kind noch stärker zur Mutter hindrängt, und wenn er dem Kinde seine Autorität und seine Prinzipien aufzuzwingen versucht. Er kann durch letzteres vielleicht Unterwerfung, niemals aber Mitarbeit und Gemeinschaftsgefühl erzwingen. Insbesondere ist es die Gelegenheit der Mahlzeiten, die in unserer hastenden Zeit von großer Bedeutung für die Erziehung zum Mitleben sind. Eine fröhliche Stimmung dabei ist unerläßlich. Belehrungen über Eßmanieren sollen so spärlich als möglich sein. Man wird sie auf diese Weise am leichtesten erfolgreich machen. Tadel, Zornausbrüche, Verdrossenheit sollen bei diesen Gelegenheiten ausgeschaltet sein. Ebenso muß man sich der Beschäftigung mit Lektüre, mit Grübeleien enthalten. Diese Zeit ist auch die ungeeignetste, um Tadel über schlechte Schulerfolge oder andere Mißstände anzubringen. Und man muß trachten, die Gemeinsamkeit bei den Mahlzeiten durchzuführen, was mir besonders beim Frühstück als wichtig erscheint. Daß Kindern das Reden oder Fragen stets freigestellt sein soll, ist eine gewichtige Forderung. Verlachen, Verspotten, Nörgeln, andere Kinder als gutes Beispiel hinstellen schädigt den Anschluß, kann Verschlossenheit, Scheu und ein anderes schweres Minderwertigkeitsgefühl erzeugen. Man soll Kindern ihre Kleinheit, ihren Mangel an Wissen und Können nicht vorhalten, sondern ihnen den Weg zu einem mutigen Training freilegen, sie auch gewähren lassen, wenn sie an etwas Interesse zeigen, ihnen nicht alles aus der Hand nehmen, immer auch darauf hinweisen, daß nur der Anfang schwer ist, keine übertriebene Ängstlichkeit Gefahren gegenüber, aber richtige Voraussicht und richtigen Schutz bei solchen zeigen. Nervosität der Eltern, eheliche Zerwürfnisse, Uneinigkeiten in Fragen der Erziehung können leicht die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls schädigen. Allzu kategorisches Hinausweisen des Kindes aus der Gesellschaft der Erwachsenen sollte nach Tunlichkeit vermieden werden. Lob und Tadel muß nur dem gelungenen oder mißlungenen Training gelten, nicht der Persönlichkeit des Kindes.

      Die Krankheit eines Kindes kann ebenfalls eine gefährliche Klippe für die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls werden. Gefährlicher, wie auch die anderen Erschwerungen, wenn sie sich innerhalb der ersten fünf Jahre einstellt. Wir haben über die Bedeutung der angeborenen Organminder­wertigkeiten gesprochen und gezeigt, daß sie sich statistisch als verleitendes Übel und als Hindernis für das Gemeinschaftsgefühl herausstellen. Dasselbe gilt für frühzeitig auftretende Erkrankungen wie Rachitis, die die körperliche, nicht die geistige Entwicklung beeinträchtigen und auch zu Verunstaltungen größeren und geringeren Grades führen können. Unter den anderen Krankheiten des frühen Kindesalters beeinträchtigen diejenigen am meisten das Gemeinschaftsgefühl, bei denen die Angst und Sorge der Umgebung dem Kinde einen großen Eindruck seines Eigenwertes ohne Beitragsleistung vor Augen führen. Hierher gehören Keuchhusten, Scharlach, Enzephalitis und Chorea, nach deren oft tadellosem Ablauf man Schwererziehbarkeit des Kindes beobachten kann, weil es auch später noch für die Aufrechterhaltung seiner Verwöhnung kämpft. Auch in Fällen, in denen körperliche Schädigungen zurückbleiben, wird man gut tun, Verschlechterungen im Verhalten des Kindes nicht ohne weiteres auf diese Schädigungen zu beziehen und die Hände in den Schoß zu legen. Ich habe sogar nach fehlerhaften Diagnosen eines Herzleidens und einer Nierenerkrankung und nach Aufdeckung des Irrtums beobachten können, daß die Schwererziehbarkeit bei Feststellung vollkommener Gesundheit nicht schwindet, daß die Eigenliebe mit allen ihren Folgen, besonders mit Mangel des sozialen Interesses gleichbleibend fortdauert. Angst, Sorge und Tränen helfen dem kranken Kinde nicht, sondern verleiten es, in der Krankheit einen Vorteil zu erblicken. Daß korrigierbare Schädigungen des Kindes so bald als möglich gebessert oder geheilt werden müssen, daß man sich in keinem Falle darauf verlassen darf, daß sich der Fehler »auswachsen« werde, versteht sich von selber. Ebenso ist die Behütung vor Krankheit, soweit unsere Mittel reichen, anzustreben, ohne das Kind ängstlich zu machen und ohne ihm den Anschluß an andere zu verwehren.

      Die Belastung eines Kindes mit Dingen, die es körperlich und geistig allzusehr in Anspruch nehmen, kann durch Erregung von Unlust oder Übermüdung leicht zu einer dem Anschluß ans Leben widrigen Stimmung führen. Kunst und Wissen, sollen dem Fassungsgrad des Kindes entsprechen. Dem Aufklärungsfanatismus mancher Sexualpädagogen muß aus demselben Grunde ein Ende gemacht werden. Man soll dem Kinde antworten, wenn es fragt oder zu fragen scheint, soweit man sicher ist, daß das Kind die Mitteilung verdauen kann. In allen Fällen aber soll es über die Gleichwertigkeit der Geschlechter und über seine eigene Geschlechtsrolle frühzeitig belehrt werden, weil es sonst, wie auch Freud heute zugibt, aus unserer rückständigen Kultur die Meinung schöpfen kann, als ob die Frau eine niedrigere Stufe vorstellte, was bei Knaben leicht zu Hochmut mit allen seinen gemeinschaftswidrigen Folgen, bei Mädchen zu dem von mir im Jahre 1912 beschriebenen »männlichen Protest« mit ebenso schlechten Folgen, im Zweifel über das eigene Geschlecht zu einer mangelhaften Vorbereitung für die eigene Geschlechtsrolle mit allen ungünstigen Folgen führen kann.

      Gewisse Schwierigkeiten ergeben sich aus der Stellung der Geschwister innerhalb einer Familie. Der betonte, aber auch der unbetonte Vorrang eines der Geschwister in der frühen Kindheit wird oft zum Nachteil des anderen. Mit ungeheurer Häufigkeit findet man Fehlschläge des einen Kindes neben Vorzügen eines anderen. Die größere Aktivität des einen kann zur Passivität des anderen Anlaß geben, der Erfolg des einen zum Mißerfolg des anderen. Wie sehr sich frühzeitige Mißerfolge ungünstig für die Zukunft eines Kindes auswirken, ist oft zu sehen. Ebenso kann die nicht leicht zu vermeidende Bevorzugung des einen Kindes zum Schaden des anderen ausschlagen, indem es in ihm schweres Minderwertigkeitsgefühl mit allen möglichen Ausgestaltungen eines Minderwertigkeitskomplexes auslöst. Auch die Größe, Schönheit, Kraft des einen wird seine Schatten auf den anderen werfen. Dabei dürfen die von mir zutage geförderten Tatsachen, die sich aus der Stellung eines Kindes in der Geschwisterreihe ergeben, nicht übersehen werden.

      Man muß vor allem mit dem Aberglauben aufräumen, als ob die Situation jedes einzelnen Kindes innerhalb einer Familie die gleiche wäre. Wir wissen bereits, daß, wenn es auch für alle eine gleiche Umgebung und eine gleiche Erziehung gäbe, deren Einwirkung vom Kinde als Material verwendet wird, in einer Art, wie sie der schöpferischen Kraft des Kindes taugt. Wir werden sehen, wie verschieden sich die Umgebung jedes einzelnen Kindes verhält. Daß die Kinder weder die gleichen Gene noch die gleichen phaenischen Bedingtheiten aufweisen, scheint ebenfalls sichergestellt. Selbst bezüglich der eineiigen Zwillinge wächst der Zweifel an ihrer gleichen physischen und psychischen Konstitution immer mehr. Die Individualpsychologie steht seit jeher auf dem Boden der angeborenen physischen Konstitution, hat aber festgestellt, daß die »psychische Konstitution« sich erst in den ersten drei bis fünf Jahren herausstellt, in der Bildung des psychischen Prototyps, der das dauernde Bewegungsgesetz des Individuums bereits in sich enthält und seine Lebensform der schöpferischen Kraft des Kindes verdankt, die Heredität und Milieuwirkungen als Bausteine benützt.