Alfred Adler

Gesammelte Werke


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Inhaltsverzeichnis

      Mit dieser Betrachtung begeben wir uns in das Reich der Phantasie. Es wäre ein großer Fehler, diese gleichfalls durch den evolutionären Strom geschaffene Funktion aus dem Ganzen des Seelenlebens und dessen Verknüpfung mit den Forderungen der Außenwelt herauszuheben oder gar sie dem Ganzen, dem Ich entgegenstellen zu wollen. Sie ist vielmehr ein Teil des individuellen Lebensstils, charakterisiert ihn zugleich und zeichnet sich, als seelische Bewegung genommen, in alle anderen Teile des Seelenlebens ein, sowie sie auch den Ausdruck des individuellen Bewegungsgesetzes in sich trägt. Ihre gegebene Aufgabe ist unter gewissen Umständen, sich gedanklich zu äußern, während sie sonst sich im Reich der Gefühle und Emotionen birgt oder in der Stellungnahme des Individuums eingebettet ist. Sie zielt wie jede andere seelische Bewegung auf das Kommende, da auch sie sich im Strome zum Ziel der Vollendung bewegt. Von diesem Aussichtspunkt gesehen wird es ganz klar, wie nichtssagend es ist, in ihrer Bewegung oder in der ihrer Abkömmlinge, des Tag- und Nachttraumes, eine Wunscherfüllung zu sehen, mehr noch zu glauben, daß man dadurch etwas zum Verständnis ihres Mechanismus beigetragen hat. Da jede seelische Ausdrucksform von unten nach oben, von einer Minussituation nach einer Plussituation sich bewegt, kann man auch jede seelische Ausdrucksbewegung als Wunscherfüllung ansprechen.

      Mehr als der Common sense bedient sich die Phantasie der Fähigkeit des Erratens, ohne daß damit gesagt ist, es würde dabei auch »richtig« geraten. Ihr Mechanismus besteht darin, auf eine Weile � in der Psychose dauernd � vom Common sense, das ist von der Logik des menschlichen Zusammenlebens, vom gegenwärtig vorhandenen Gemeinschaftsgefühl Abstand zu nehmen, unzufrieden damit, im Sinne der Gemeinschaft die nächsten Schritte zu tun. Dies gelingt leichter, wenn das vorhandene Gemeinschaftsgefühl keine besondere Stärke besitzt. Ist es aber stark genug, dann führt es den Spaziergang der Phantasie zu dem Ziele einer Bereicherung der Gemeinschaft. Immer aber, in den tausendfältigen Verschiedenheiten, läßt sich der sich entspinnende seelische Bewegungsvorgang künstlich in Gedanken, Gefühle und Bereitschaft zur Stellungnahme auflösen. »Richtige«, »normale«, »wertvolle« Stellungnahmen werden wir als solche nur anerkennen, wenn sie wie bei größeren Leistungen, der Allgemeinheit dienen. Begriffsinterpretationen dieser Urteile in anderer Richtung sind logisch ausgeschlossen, was nicht hindert, daß oft der gegenwärtige Stand des Common sense solche Leistungen ablehnt, bis ein höherer Stand der Einsicht in das Wohl der Allgemeinheit erreicht ist.

      Jedes Suchen nach Lösung eines vorliegenden Problems setzt die Phantasie in Lauf, da man es dabei mit dem Unbekannten der Zukunft zu tun hat. Die schöpferische Kraft, der wir in der Kindheit die Schaffung des Lebensstils zuerkannt haben, ist weiter am Werk.

      Auch die bedingten Reflexe, in deren tausendfältiger Gestaltung der Lebensstil wirkt, können nur als Bausteine weiter verwendet werden.

      Sie sind für die Schaffung des stets völlig Neuen nicht automatisch wirkend zu verwenden. Aber die schöpferische Kraft geht nun in den Bahnen des selbstgeschaffenen Lebensstils. Und so ist auch die Lenkung der Phantasie dem Lebensstil anheimgegeben. Man kann in ihren Leistungen, ob das Individuum den Zusammenhang erkennt oder ihm in voller Unkenntnis gegenübersteht, den Ausdruck des Lebensstils finden und so diese Leistungen als Eingangspforten benützen, um in die Werkstatt des Geistes Einblick zu bekommen. Aber man wird bei richtigem Vorgehen immer auf das Ich, auf das Ganze stoßen, während bei unrichtiger Auffassung ein Gegensatz, etwa des Bewußten zum Unbewußten, vorhanden zu sein scheint. Freud, der Vertreter dieser unrichtigen Anschauung, nähert sich im Eilmarsch dem besseren Verständnis, wenn er heute vom Unbewußten im Ich spricht, das dem Ich natürlich ein ganz anderes Gesicht gibt, nämlich das Gesicht, das die Individualpsychologie zuerst gesehen hat.

      Jeder große Gedanke, jedes Kunstwerk verdankt seine Entstehung dem rastlos schaffenden, neuschöpferischen Geist der Menschheit. Vielleicht tragen die meisten ein kleines Stückchen dazu bei. Zumindest in der Aufnahme und in der Erhaltung, in der Verwertung der Neuschöpfung. Hier mögen dann zum großen Teil die »bedingten Reflexe« ihre Rolle spielen. Beim schaffenden Künstler sind sie nur Bausteine, deren er sich bedient, um in seiner Phantasie dem Alten vorauszueilen. Künstler und Genies sind zweifellos die Führer der Menschheit und zahlen den Zoll für diese Verwegenheit, brennend im eigenen Feuer, das sie in der Kindheit entzündet haben. »Ich litt � und so wurde ich ein Dichter.« Unser besseres Sehen, die bessere Wahrnehmung von Farben, von Formen, von Linien verdanken wir den Malern. Unser besseres Hören, damit die feinere Modulation unseres Sprechorgans, erwarben wir von den Musikern. Die Dichter haben uns Denken, Sprechen und Fühlen gelehrt. Der Künstler selbst, meist heftig aufgepeitscht in der frühen Kindheit, unter Bürden aller Art, Armut, Augen- und Ohrenanomalien, meist einseitig verwöhnt, entreißt sich in der frühesten Kindheit seinem schweren Minderwertigkeitsgefühl und ringt mit wütendem Ehrgeiz mit der zu engen Wirklichkeit, um sie für sich und die anderen zu erweitern, als der Bannerträger der Evolution, die den Fortschritt über Schwierigkeiten sucht und das geeignete Kind, meist an einer für hohe Ziele geeigneten Variante leidend, über das durchschnittliche Niveau hinaushebt.

      Was wir vor langem schon über diese drückende, aber gesegnete Variante nachgewiesen haben, ist eine größere körperliche Anfälligkeit, ein stärkeres Berührtsein durch äußere Geschehnisse, Varianten, die sich sehr oft an dem Träger als Minderwertigkeiten der Sinnesorgane nachweisen lassen, und wenn nicht an ihm selbst � da für geringere Varianten unsere Untersuchungsmittel oft versagen �, an der Heredität von Organminderwertigkeiten am Stammbaum der Familie. Dort finden sich oft die deutlichsten Spuren von solchen konstitutionellen Minderwertigkeiten, nicht selten zu Krankheiten führend, Minusvarianten, die auch den Aufstieg der Menschheit erzwungen haben. Im selbsttätigen Spiel und in der individuellen Ausführung jedes Spiels zeigt sich der schöpferische Geist des Kindes. Jedes Spiel gibt dem Streben nach Überlegenheit Raum. Die Gemeinschaftsspiele tragen dem Drang des Gemeinschaftsgefühls Rechnung. Daß auch neben diesen die Alleinbeschäftigung nicht zu kurz zu kommen braucht, bei Kindern wie bei Erwachsenen, ist durchaus gerechtfertigt, sollte nebenbei sogar gefördert werden, soferne sie einen Ausblick auf spätere Bereicherung der Gemeinschaft gestattet. Und es liegt nur an der Technik gewisser Leistungen, hindert ihren Gemeinschaftscharakter durchaus nicht, daß sie nur fern von den anderen geübt und ausgeführt werden können. Dabei ist wieder die Phantasie am Werke, die nicht unwesentlich von den schönen Künsten genährt wird. Aus dem Lesebereich der Kinder sollte freilich bis zu einer gewissen Reife alle unverdauliche geistige Nahrung entfernt bleiben, die entweder mißverstanden werden kann oder geeignet ist, das wachsende Gemeinschaftsgefühl zu drosseln. Hierher gehören unter anderem grausame, furchterweckende Geschichten, die besonders jene Kinder stark beeindrucken, bei denen durch Furcht das Harn- und Sexualsystem erregt wird. Wieder sind es unter letzteren die verwöhnten Kinder, die den Verlockungen des »Lustprinzips« nicht widerstehen können, deren Phantasie und später deren Praxis furchterweckende Situationen schafft, um daran Sexualerregungen zu produzieren. Ich habe bei meinen Untersuchungen sexueller Sadisten und Masochisten immer neben einem Mangel an Gemeinschaftsgefühl eine solche verhängnisvolle Verkettung dieser Umstände gefunden.

      Die meisten Tagträume der Kinder und Erwachsenen gehen, bis zu einem gewissen Grade losgekettet vom Common sense, in die Richtung des Zieles der Überlegenheit. Es ist leicht einzusehen, daß zum Zwecke einer Kompensation, wie um das seelische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten � was nie auf diesem Wege gelingt � gerade jene konkrete Richtung in der Phantasie eingeschlagen wird, die der Überwindung einer gefühlten Schwäche dienen soll. Der Vorgang ist in gewissem Sinne dem ähnlich, den das Kind bei Schaffung seines Lebensstils einschlägt. Wo es die Schwierigkeit fühlt, dort hilft ihm die Phantasie, eine Erhöhung seiner Persönlichkeit vorzuspiegeln, nicht ohne gleichzeitig mehr oder weniger anzuspornen. Freilich gibt es auch genug Fälle, wo die Anspornung ausbleibt, wo sozusagen die Phantasie ganz und gar die Kompensation bedeutet. Daß letzteres als gemeinschaftswidrig anzusehen ist, wenn auch bar jeder Aktivität und jedes Angriffs auf die Außenwelt, liegt auf der Hand. Auch wo sie, immer entsprechend dem Lebensstil, der sie leitet, gegen das Gemeinschaftsgefühl geht, kann sie als ein Zeichen der Ausschaltung des Gemeinschaftsgefühls aus dem Lebensstil erkannt werden und den Blick des Untersuchers lenken. So die häufigen grausamen Tagträume, die gelegentlich abwechseln oder ersetzt werden durch Phantasien über eigenes schmerzvolles Leiden. Kriegsphantasien,