den Traum zwei starke Hilfen. Die eine bot mir Freud in seinen unannehmbaren Anschauungen. Ich lernte aus seinen Fehlern. Und obwohl ich selbst nie psychoanalysiert wurde, eine solche Einladung auch a limine abgewiesen hätte, weil sie die Unbefangenheit der wissenschaftlichen Auffassung, die ohnehin bei den meisten nicht groß ist, bei der strikten Annahme seiner Lehre stört, bin ich doch so weit mit seiner Lehre vertraut, nicht nur um die Fehler erkennen zu können, sondern auch an dem Spiegelbild eines verwöhnten Kindes voraussagen zu können, was Freuds nächster Schritt sein wird. Ich habe deshalb allen meinen Schülern immer empfohlen, sich mit Freuds Lehre eingehend zu befassen. Freud und seine Schüler lieben es ungemein, in nicht zu verkennend prahlerischer Weise mich als Schüler Freuds zu bezeichnen, weil ich sehr viel mit ihm in einem psychologischen Zirkel gestritten hatte, ohne je einem seiner Schülervorträge beigewohnt zu haben. Als dieser Zirkel auf Freuds Anschauungen eingeschworen werden sollte, war ich der erste, der ihn verließ. Man wird mir das Zeugnis nicht versagen können, daß ich viel mehr als Freud die Grenzen zwischen Individualpsychologie und Psychoanalyse immer scharf gezogen habe, und daß ich mit meinen ehemaligen Diskussionen mit Freud nie geprahlt habe. Daß der Aufstieg der Individualpsychologie und ihr nicht zu verkennender Einfluß auf die Wandlung der Psychoanalyse dort so hart gefühlt wird, tut mir leid. Aber ich weiß, wie schwer es ist, der Weltanschauung verwöhnter Kinder zu genügen. Daß nach fortwährender Annäherung der Psychoanalyse � ohne daß sie ihr Grundprinzip ganz aufgegeben hätte � an die Individualpsychologie für befangene Gemüter Ähnlichkeiten sichtbar werden, eine offensichtliche Wirkung des unzerstörbaren Common sense, ist zum Schluß nicht einmal so verwunderlich. Manchem wird es dann so erscheinen, als ob ich die Entwicklung der Psychoanalyse in den letzten 25 Jahren widerrechtlich vorausgedacht hätte. Ich bin da der Gefangene, der sie nicht losläßt.
Die zweite, viel stärkere Hilfe erwuchs mir aus der festen, wissenschaftlich erhärteten und von vielen Seiten beleuchteten Einheit der Persönlichkeit. Die gleiche Zugehörigkeit zur Einheit muß auch dem Traume eigen sein. Auch abgesehen von der durch den Lebensstil geforderten regelmäßigen größeren Distanz zur beeinflussenden Wirklichkeit, die auch die Phantasie im Wachen charakterisiert, durfte im Traum keine seelische Form zur Stütze einer Theorie angenommen werden als solche Formen, die auch im wachen Leben vorhanden sind. Man kann zu dem Schluß kommen, daß der Schlaf und das Traumleben eine Variante des wachen Lebens, als auch, daß das wache Leben eine Variante des anderen ist. Das oberste Gesetz beider Lebensformen im Wachen wie im Schlafen ist: das Wertgefühl des Ich nicht sinken zu lassen. Oder, um es in die bekannte Terminologie der Individualpsychologie einzufügen: Das Streben nach Überlegenheit im Sinne des Endziels entreißt das Individuum dem Druck des Minderwertigkeitsgefühls. Wir wissen, in welche Richtung der Weg geht, mehr oder weniger abseits vom Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen das Gemeinschaftsgefühl, das heißt gegen den Common sense. Das Ich holt sich Stärkung aus der Traumphantasie, um zu einer Lösung eines vorliegenden Problems zu gelangen, für dessen Lösung es nicht genug Gemeinschaftsgefühl übrig hat. Es ist selbstverständlich, daß dabei immer die subjektive Schwere des vorliegenden Problems die Rolle einer Testprüfung auf Gemeinschaftsgefühl spielt, und so drückend sein kann, daß auch ... der Beste zu träumen beginnt.
Wir müssen demnach fürs erste feststellen, daß jeder Traumzustand einen exogenen Faktor hat. Das bedeutet wohl mehr und anderes als Freuds »Tagesrest«. Die Bedeutung liegt in dem Geprüftsein und Lösungsuchen. Es enthält das »Vorwärts zum Ziele«, das »Wohin« der Individualpsychologie im Gegensatz zu Freuds Regression und Erfüllung infantiler sexueller Wünsche, letztere wieder die Entblößung der fiktiven Welt verwöhnter Kinder, die alles allein haben wollen und nicht verstehen, wie ihnen ein Wunsch unerfüllt bleiben soll. Es weist auf das Aufwärtsströmen in der Evolution hin und zeigt, wie sich jeder einzelne diesen Weg vorstellt, den er gehen will. Es zeigt seine Meinung von seiner Art und von der Art, vom Sinn des Lebens.
Man sehe einen Augenblick vom Traumzustand ab. Da ist ein Mensch vor einer Prüfung, für die er sich in Anbetracht seines mangelnden Gemeinschaftsgefühls nicht reif fühlt. Er nimmt Zuflucht zu seiner Phantasie. Wer nimmt diese Zuflucht? Natürlich das Ich in seinem Lebensstil. Die Absicht ist, eine Lösung zu finden, wie sie dem Lebensstil paßt. Das heißt aber, mit geringer Ausnahme der für die Gemeinschaft wertvollen Träume, eine Lösung, mit der der Common sense nicht einverstanden ist, die gegen das Gemeinschaftsgefühl geht, aber das Individuum in seiner Not und seinem Zweifel erleichtert, noch mehr, es in seinem Lebensstil, in seinem Ichwert bestärkt. Der Schlaf, wie auch die Hypnose, wenn richtig ausgeführt, sind nur Erleichterungen für diesen Zweck, ebenso die gelungene Autosuggestion. Die Folgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, daß der Traum als gewollte Schöpfung des Lebensstils den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl sucht und darstellt. Doch findet man bei größerem Gemeinschaftsgefühl und in bedrohlicheren Situationen gelegentlich eine Umkehr, den Sieg des Gemeinschaftsgefühls über den Versuch eines Abweichens davon. Wieder ein Fall, der der Individualpsychologie recht gibt, wenn sie behauptet, daß sich das Seelenleben niemals ganz in Formeln und Regeln einfangen läßt, was freilich die Hauptthese in diesem Falle unberührt läßt, nämlich, daß der Traum den Abstand vom Gemeinschaftsgefühl zeigt.
Da kommt nun ein Einwand, der mir seit jeher viel zu schaffen machte, dem ich aber eine vertiefte Einsicht in das Traumproblem verdanke. Wenn nämlich der oben geschilderte Tatbestand angenommen werden sollte, wie erklärt es sich, daß niemand seine Träume versteht, daß niemand darauf achtet, ja sie meistens vergißt? Sehen wir von der Handvoll von Leuten ab, die etwas davon verstehen, so scheint da eine Kraft im Traume vergeudet zu sein, wie wir es sonst nie in der Ökonomie des Geistes finden. Freilich kommt uns da eine andere Erfahrung der Individualpsychologie zu Hilfe. Der Mensch weiß mehr, als er versteht. Ist da im Traume, wenn sein Verstehen schläft, das Wissen wach? Wenn dem so wäre, dann müßte sich Ähnliches im wachen Zustande auch nachweisen lassen. Und in der Tat, der Mensch versteht von seinem Ziele nichts und folgt ihm dennoch. Er versteht von seinem Lebensstil nichts und ist stets darin verhaftet. Und wenn sein Lebensstil ihn angesichts eines Problems in eine bestimmte Richtung weist, nach einem Trinkgelage, nach einem erfolgversprechenden Unternehmen, dann stellen sich immer Gedanken und Bilder ein, Sicherungen, wie ich sie genannt habe, um ihm diesen Weg schmackhaft zu machen, ohne daß sie immer mit dem Ziele sichtbar verbunden sein müßten. Wenn ein Mann mit seiner Frau recht unzufrieden ist, dann erscheint ihm oft eine andere viel begehrenswerter, ohne daß er sich den Zusammenhang, geschweige seine Anklage oder Rache dabei klarmachen würde. Erst im Zusammenhang mit seinem Lebensstil und dem vorliegenden Problem gesehen wird sein Wissen um die nächsten Dinge Verständnis. Außerdem haben wir aber bereits darauf hingewiesen, daß die Phantasie, somit auch der Traum, sich eines guten Teils des Common sense entschlagen muß. Es wäre demnach unbillig, den Traum nach seinem Common sense zu fragen, wie es viele Autoren getan haben, um zu dem Schluß zu kommen, der Traum sei unsinnig. Der Traum wird sich nur in den seltensten Fällen dem Common sense stark annähern, er wird sich nie mit ihm decken. Daraus aber folgt die wichtigste Funktion des Traumes, den Träumer auf einen Abweg vom Common sense zu führen, wie wir es auch von der Phantasie gezeigt haben. Im Traume begeht also der Träumer einen Selbstbetrug. Unserer Grundanschauung gemäß können wir hinzufügen: einen Selbstbetrug, der ihn angesichts eines Problems, für das sein Gemeinschaftsgefühl nicht ausreicht, auf seinen Lebensstil verweist, damit er das Problem diesem entsprechend löse. Indem er sich von der Wirklichkeit losreißt, die soziales Interesse verlangt, strömen ihm Bilder zu, die sein Lebensstil ihm eingibt.
Bleibt also nichts übrig vom Traum, wenn er vorüber ist? Ich glaube, diese wichtigste Frage gelöst zu haben. Es bleibt zurück, was immer zurückbleibt, wenn einer ins Phantasieren gerät, Gefühle, Emotionen und eine Stellungnahme. Daß diese alle in der Richtung des Lebensstils wirken, geht aus der Grundanschauung der Individualpsychologie von der Einheit der Persönlichkeit hervor. Es war einer meiner ersten Angriffe gegen die Freudsche Traumtheorie aus dem Jahre 1918, als ich auf Grund meiner Erfahrungen behauptete, daß der Traum vorwärts ziele, daß er den Träumer »scharf« mache dafür, ein Problem in seiner eigenen Weise zu lösen. Später konnte ich diese Anschauung ergänzen, indem ich feststellte, daß er dies nicht auf dem Wege des Common sense, des Gemeinschaftsgefühls tue, sondern »gleichnisweise«, metaphorisch, in vergleichenden Bildern, wie es etwa ein Dichter täte, wenn er Gefühle und Emotionen erwecken will. Damit sind wir aber wieder auf dem Boden des Wachzustandes und können