Alfred Adler

Gesammelte Werke


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alle nicht, welches der einzig richtige Weg ist. Die Menschheit hat vielfach Versuche gemacht, sich dieses Endziel der menschlichen Entwicklung vorzustellen. Daß der Kosmos ein Interesse an der Erhaltung des Lebens haben sollte, ist kaum mehr als ein frommer Wunsch, kann aber als solcher in der Religion, in der Moral und Ethik als starke Triebkraft zur Förderung des Gesamtwohles der Menschheit Verwendung finden und hat sie auch gefunden. Auch die Verehrung eines Fetisches, einer Eidechse, eines Phallus als eines Fetisches innerhalb eines prähistorischen Stammes erscheint uns wissenschaftlich nicht gerechtfertigt. Wir dürfen aber nicht übersehen, wie diese primitive Weltanschauung das Zusammenleben der Menschheit, ihr Gemeinschaftsgefühl gefördert hat, indem jeder, der im Banne der gleichen religiösen Inbrunst stand, als Bruder, als Tabu angesehen und dem Schutz des großen Stammes anheimgegeben war.

      Die beste Vorstellung, die man bisher von dieser idealen Erhebung der Menschheit gewonnen hat, ist der Gottesbegriff. Es ist gar keine Frage, daß der Gottesbegriff eigentlich jene Bewegung nach Vollkommenheit in sich schließt als ein Ziel, und daß er dem dunklen Sehnen des Menschen, Vollkommenheit zu erreichen, als konkretes Ziel der Vollkommenheit am besten entspricht. Freilich scheint es mir, daß jeder sich seinen Gott anders vorstellt. Da gibt es wohl Vorstellungen davon, die von vornherein dem Prinzip der Vollkommenheit nicht gewachsen sind, aber zu seiner reinsten Fassung können wir sagen: hier ist die konkrete Fassung des Ziels der Vollkommenheit gelungen. Die Urkraft, die in der Aufstellung richtender religiöser Ziele so wirksam war, die zur Bindung der Menschheit aneinander führen sollte, war keine andere als die des als Errungenschaft der Evolution zu betrachtenden Gemeinschaftsgefühls und des Strebens aufwärts im Strome der Evolution. Natürlich gibt es eine Unzahl von Versuchen unter den Menschen, sich dieses Ziel der Vollkommenheit vorzustellen. Wir Individualpsychologen, insbesondere wir individualpsychologischen Ärzte, die mit den Fehlschlägen zu tun haben, mit Menschen, die an einer Neurose, an einer Psychose erkrankt sind, die delinquent geworden sind, mit Trinkern usw., wir sehen dieses Ziel der Überlegenheit in ihnen auch, aber nach einer anderen Richtung, die der Vernunft insoweit widerspricht, als wir darin ein richtiges Ziel der Vollkommenheit nicht anerkennen können. Wenn einer zum Beispiel dieses Ziel sich dadurch konkret zu machen sucht, daß er über andere herrschen will, so scheint uns dieses Ziel der Vollkommenheit deshalb schon unfähig, den einzelnen und die Masse zu lenken, weil nicht jeder sich dieses Ziel der Vollkommenheit zur Aufgabe setzen könnte, weil er gezwungen wäre, mit dem Zwang der Evolution in Widerspruch zu geraten, die Realität zu vergewaltigen und sich voll Angst gegen die Wahrheit und ihre Bekenner zu schützen. Wenn wir Menschen finden, die sich als Ziel der Vollkommenheit gesetzt haben, sich auf andere zu stützen, so scheint uns auch dieses Ziel der Vollkommenheit der Vernunft zu widersprechen. Wenn einer vielleicht das Ziel der Vollkommenheit darin findet, die Aufgaben des Lebens ungelöst zu lassen, um nicht sichere Niederlagen zu erleiden, die das Gegenteil des Ziels der Vollkommenheit wären, so erscheint uns auch dieses Ziel durchaus ungeeignet, obwohl es vielen Menschen annehmbar erscheint.

      Wenn wir unseren Ausblick vergrößern und die Frage aufwerfen: was ist mit jenen Lebewesen geschehen, die sich ein unrichtiges Ziel der Vollkommenheit gesetzt haben, deren aktive Anpassung nicht gelungen ist, weil sie den unrichtigen Weg eingeschlagen haben, die nicht den Weg der Förderung der Allgemeinheit gefunden haben? � da belehrt uns der Untergang von Spezies, Rassen, Stämmen, Familien und tausenden von einzelnen Personen, von denen nichts übriggeblieben ist, wie notwendig es für den einzelnen ist, einen halbwegs richtigen Weg zu finden zum Ziel einer Vollkommenheit. Es ist ja auch für unsere Tage und für den einzelnen unter uns selbstverständlich, daß das Ziel der Vollkommenheit die Richtung gibt, für die Entwicklung seiner ganzen Persönlichkeit, für alle Ausdrucksbewegungen, für sein Schauen, für sein Denken, seine Gefühle, seine Weltanschauung. Und ebenso klar und für jeden Individualpsychologen verständlich ist es, daß eine einigermaßen von der Wahrheit abweichende Richtung zum Schaden des Betreffenden ausschlagen muß, wenn nicht zu seinem Untergang. Da wäre es eigentlich ein glücklicher Fund, wenn wir Näheres wüßten über die Richtung, die wir einzuschlagen haben, da wir ja doch im Strom der Evolution eingebettet sind und ihm folgen müssen. Auch hier hat die Individualpsychologie große Arbeit geleistet, ebenso wie mit der Feststellung des allgemeinen Strebens nach Vollkommenheit. Sie hat aus tausendfältiger Erfahrung eine Anschauung gewonnen, die imstande ist, die Richtung zur idealen Vollkommenheit einigermaßen zu verstehen, und zwar in ihrer Feststellung der Normen des Gemeinschaftsgefühls.

      Gemeinschaftsgefühl besagt vor allem ein Streben nach einer Gemeinschaftsform, die für ewig gedacht werden muß, wie sie etwa gedacht werden könnte, wenn die Menschheit das Ziel der Vollkommenheit erreicht hat. Es handelt sich niemals um eine gegenwärtige Gemeinschaft oder Gesellschaft, auch nicht um politische oder religiöse Formen, sondern das Ziel, das zur Vollkommenheit am besten geeignet ist, müßte ein Ziel sein, das die ideale Gemeinschaft der ganzen Menschheit bedeutet, die letzte Erfüllung der Evolution. Natürlich wird man fragen, woher ich das weiß. Sicher nicht aus der unmittelbaren Erfahrung, und ich muß schon zugeben, daß diejenigen recht haben, die in der Individualpsychologie ein Stück Metaphysik finden. Die einen loben es, die anderen tadeln. Es gibt leider viele Menschen, die eine irrige Anschauung von der Metaphysik haben, die alles, was sie nicht unmittelbar erfassen können, aus dem Leben der Menschheit ausgeschaltet wissen wollen. Damit würden wir die Entwicklungsmöglichkeiten verhindern, jeden neuen Gedanken. Jede neue Idee liegt jenseits der unmittelbaren Erfahrung. Unmittelbare Erfahrungen ergeben niemals etwas Neues, sondern erst die zusammenfassende Idee, die diese Tatsachen verbindet. Sie können es spekulativ nennen oder transzendental, es gibt keine Wissenschaft, die nicht in die Metaphysik münden müßte. Ich sehe keinen Grund, sich vor der Metaphysik zu fürchten, sie hat das Leben der Menschen und ihre Entwicklung im stärksten Grad beeinflußt. Wir sind nicht mit der absoluten Wahrheit gesegnet, deshalb sind wir gezwungen, uns Gedanken zu machen über unsere Zukunft, über das Resultat unserer Handlungen usw. Unsere Idee des Gemeinschaftsgefühles als der letzten Form der Menschheit, eines Zustandes, in dem wir uns alle Fragen des Lebens, alle Beziehungen zur Außenwelt gelöst vorstellen, ein richtendes Ideal, ein richtunggebendes Ziel, dieses Ziel der Vollendung muß in sich das Ziel einer idealen Gemeinschaft tragen, weil alles, was wir wertvoll finden im Leben, was besteht und bestehen bleibt, für ewig ein Produkt dieses Gemeinschaftsgefühles ist.

      Ich habe im vorhergehenden die Tatsachen, die Wirkungen und die Mängel des gegenwärtigen Gemeinschaftsgefühls im Individuum und in der Masse beschrieben und war im Interesse der Menschenkenntnis, der Charakterologie bemüht, meine Erfahrungen darzulegen, wie man das Bewegungsgesetz des einzelnen und der Masse, sowie deren Verfehlungen klarzustellen vermag. In der Individualpsychologie sind alle unwiderleglichen Erfahrungen unter dem Gesichtspunkt dieser Wissenschaft gesehen und verstanden, deren wissenschaftliches System sich unter dem Drucke dieser Erfahrungen entwickelt hat. Die gewonnenen Resultate sind untereinander widerspruchslos und durch den Common sense gerechtfertigt. Was zur Erfüllung der Forderungen einer streng wissenschaftlichen Lehre beigebracht werden muß, ist in der Individualpsychologie erreicht: eine immense Zahl von unmittelbaren Erfahrungen, ein System, das diesen Erfahrungen Rechnung trägt und ihnen nicht widerspricht, und die trainierte Fähigkeit des Erratens im Einklang mit dem Common sense, eine Fähigkeit, die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem System diesem einzureihen imstande ist. Diese Fähigkeit ist um so notwendiger, als jeder Fall sich anders darstellt und zu stets neuen Anstrengungen des künstlerischen Erratens Anlaß gibt. Wenn ich nun darangehe, auch das Recht der Individualpsychologie, als Weltanschauung zu gelten, zu verfechten, indem ich sie dazu verwende, den Sinn des menschlichen Lebens verstehen zu lassen, so muß ich mich aller moralischen und religiösen, zwischen Tugend und Laster richtenden Anschauungen entschlagen, obwohl ich seit jeher überzeugt war, daß beide Strömungen, sowie auch politische Bewegungen stets darauf hinzielten, dem Sinn des Lebens gerecht zu werden, und unter dem Druck des Gemeinschaftsgefühls als einer absoluten Wahrheit gewachsen sind. Der Standpunkt der Individualpsychologie ihnen gegenüber ist durch ihre wissenschaftliche Erkenntnis, wohl auch durch ihren direkteren Versuch, das Gemeinschaftsgefühl als Erkenntnis stärker zu entwickeln, gegeben. Er lautet: Ich würde jede Strömung als gerechtfertigt ansehen, deren Richtung den unwiderleglichen Beweis liefert, daß sie vom Ziele des Wohles der gesamten Menschheit geleitet ist. Ich würde jede Strömung als verfehlt erachten, die diesem Standpunkt widerspricht oder durchflossen ist von der Kains-Formel: »Warum soll ich meinen Nächsten lieben?«

      Gestützt