Alfred Adler

Gesammelte Werke


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Falle wieder zum Verschwinden zu bringen. Hat der Patient gelernt, für sein Verhalten die volle Verantwortung zu übernehmen, so wird der Berater es leicht vermeiden können, das fast immer verwöhnte Kind oder den nach Verwöhnung lechzenden Erwachsenen in jene Falle gleiten zu lassen, die ihm eine leichte und unmittelbar erfüllbare Befriedigung unbefriedigter Wünsche zu versprechen scheint. Da der im großen und ganzen verwöhnten Menschheit jeder unerfüllte oder unerfüllbare Wunsch als Unterdrückung erscheint, möchte ich hier noch einmal feststellen: Die Individualpsychologie fordert weder die Unterdrückung berechtigter noch unberechtigter Wünsche. Aber sie lehrt, daß unberechtigte Wünsche als gegen das Gemeinschaftsgefühl verstoßend erkannt werden müssen und durch ein Plus an sozialem Interesse zum Verschwinden, nicht zur Unterdrückung gebracht werden können. Einmal erlebte ich eine tätliche Bedrohung durch einen schwächlichen Mann, der an Dementia praecox litt und von mir gänzlich geheilt wurde, nachdem er drei Jahre vor meiner Behandlung schon als unheilbar erklärt worden war. Ich wußte zu dieser Zeit schon, daß er mit Sicherheit erwartete, auch von mir abgelehnt und hinausgeworfen zu werden, was ihm seit seiner Kindheit als sein Los vorschwebte. Er hatte drei Monate lang in der Behandlung geschwiegen. Ich nahm dies zum Anlaß, soweit ich sein Leben kannte, ihm behutsam Aufklärungen zu geben. Ich erkannte auch sein Schweigen und ähnlich gerichtete Handlungen als obstruktionistische Neigung und sah mich nun dem Höhepunkt seiner Aktion gegenüber, als er die Hand zum Schlage gegen mich erhob. Ich entschloß mich kurz, mich nicht zur Wehr zu setzen. Es erfolgte ein weiterer Angriff, bei dem ein Fenster in Trümmer ging. Eine kleine blutende Wunde des Patienten verband ich in freundlichster Haltung. Ich darf es meinen Freunden überlassen, auch aus diesem Falle keine Regel zu machen. Als der Erfolg in diesem Falle vollständig gesichert war, fragte ich den Patienten: »Was glauben Sie, wie konnte es uns beiden gelingen, Sie gesund zu machen?« Die Antwort, die ich erhielt, sollte wohl in allen beteiligten Kreisen den stärksten Eindruck machen und hat mich lächeln gelehrt über alle Angriffe minderbemittelter Psychologen und Psychiater, die ihren Kampf gegen Windmühlen führen. Er antwortete: »Das ist ganz einfach. Ich hatte allen Mut zum Leben verloren. In unseren Beratungen habe ich ihn wieder gefunden.« Wer die individualpsychologische Wahrheit erkannt hat, daß Mut nur eine Seite des Gemeinschaftsgefühls ist, wird die Wandlung dieses Mannes verstehen.

      Der Beratene muß unter allen Umständen die Überzeugung bekommen, daß er in bezug auf die Behandlung absolut frei ist. Er kann tun und lassen, was er will. Nur soll man es vermeiden, glauben zu machen, daß mit dem Beginne der Behandlung auch schon das Freisein von Symptomen beginnt. Den Angehörigen eines Epileptikers wurde von anderer Seite in der ersten Beratung zugesagt, daß er, wenn er allein gelassen würde, keine Anfälle mehr haben würde. Der Erfolg am ersten Tage war ein heftiger Anfall auf der Straße, der dem Patienten einen zerschmetterten Unterkiefer eintrug. Ein anderer Fall verlief weniger tragisch. Ein Junge kam wegen Diebstahlsverübung zu einem Psychiater und trug ihm nach den ersten Beratungen einen Regenschirm fort.

      Einen weiteren Vorschlag kann ich empfehlen. Man verpflichte sich dem Patienten gegenüber, daß man zu niemandem über die Auseinander­setzungen mit ihm sprechen werde � und halte diese Verpflichtung ein. Dagegen stelle man dem Patienten frei, über alles zu sprechen, was ihm gutdünke. Man riskiert dabei wohl, daß gelegentlich ein Patient die Aufklärungen dazu benützt, in Gesellschaft in die »Aha-Psychologie« zu verfallen (»Was haben doch die Herrn für ein kurzes Gedärm«), kann aber dem durch eine freundliche Aussprache die Spitze nehmen. Oder es erfolgen Anschuldigungen gegen die Familie, was man ebenfalls voraussehen muß, um vorher dem Patienten gegenüber festzustellen, daß seine Angehörigen nur so lange schuldig sind, als er sie durch sein Verhalten schuldig macht. Daß sie aber sofort unschuldig sind, sobald er sich gesund fühlt. Ferner, daß man von Angehörigen nicht mehr Wissen verlangen kann als der Patient selbst besitzt, und daß er unter eigener Verantwortung die Einflüsse seiner Umgebung als Bausteine benützt hat, um seinen fehlerhaften Lebensstil zu entwickeln. Auch ist es gut darauf hinzuweisen, daß sich seine Eltern wegen eventueller Irrtümer auf ihre Eltern, die auf die Großeltern usw. berufen könnten. Daß also eine Schuld in seinem Sinne nicht besteht.

      Es scheint mir wichtig, in dem Beratenen nicht die Meinung aufkommen zu lassen, daß das Werk des Individualpsychologen zu dessen Glanz und zu dessen Bereicherung dienen soll. Emsigkeit und Hitzigkeit in der Erwerbung von Patienten bringt nur Schaden. Ebenso abfällige oder gar gehässige Äußerungen gegen andere Berater.

      Ein Beispiel genüge: Ein Mann kam zu mir, um sich von einer nervösen Müdigkeit, wie sich herausstellte als Folge von befürchteten Niederlagen, heilen zu lassen. Er teilte mir mit, daß ihm noch ein anderer Psychiater empfohlen worden sei, den er auch aufsuchen wolle. Ich gab ihm die Adresse. Am nächsten Tag kam er zu mir und erzählte mir von seinem Besuch. Der Psychiater empfahl ihm nach Aufnahme der Krankengeschichte eine Kaltwasserkur. Der Patient erwiderte, daß er bereits fünf solcher Kuren erfolglos absolviert habe. Der Arzt riet ihm, eine sechste Kur in einer gutgeleiteten Anstalt zu machen, die er besonders empfahl. Der Kranke teilte ihm mit, daß er dort schon zweimal mit der Wasserkur erfolglos behandelt worden war und fügte hinzu, daß er zu mir in Behandlung kommen wolle. Der Psychiater wendete sich dagegen und bemerkte, Dr. Adler werde ihm nur etwas suggerieren. Der Patient erwiderte: »Vielleicht wird er mir etwas suggerieren, was mich gesund macht«, und empfahl sich. Wäre dieser Psychiater nicht von seinem Wunsch besessen gewesen, die Anerkennung der Individualpsychologie zu verhindern, so hätte er wohl gemerkt, daß er diesen Patienten gar nicht aufhalten konnte, zu mir zu kommen, und hätte dessen treffende Bemerkungen besser verstanden. Meine Freunde aber bitte ich, abfällige Bemerkungen Patienten gegenüber zu vermeiden, auch wenn sie berechtigt wären. Der Platz, unrichtige Meinungen zu korrigieren und sich für richtige Auffassungen einzusetzen, ist wohl im freien Feld der Wissenschaft mit wissenschaftlichen Mitteln zu suchen.

      Besteht bei dem Patienten in der ersten Unterredung ein Zweifel darüber, ob er in die Behandlung kommen will, so überlasse man ihm die Entscheidung für die nächsten Tage. Die gewöhnliche Frage betreffs der Dauer der Behandlung ist nicht leicht zu beantworten. Ich finde sie berechtigt, da ein großer Teil der Besucher von Behandlungen gehört hat, die bis acht Jahre gedauert haben und erfolglos waren. Eine richtig geführte individual­psychologische Behandlung müßte in drei Monaten wenigstens einen wahrnehmbaren Teilerfolg gezeitigt haben, meist auch schon früher. Da aber der Erfolg von der Mitarbeit des Patienten abhängt, so handelt man recht, wenn man hervorhebt, um gleich von Anfang an dem Gemeinschaftsgefühl ein Tor zu öffnen, daß die Dauer von der Mitarbeit des Patienten abhängt, daß der Arzt wohl schon, wenn er in der Individualpsychologie festen Fuß gefaßt hat, nach einer halben Stunde orientiert ist, daß er aber warten muß, bis auch der Patient seinen Lebensstil und dessen Fehler erkannt hat. Immerhin kann man hinzufügen: »Wenn Sie in ein oder zwei Wochen noch nicht überzeugt sind, daß wir auf dem richtigen Wege sind, gebe ich die Behandlung auf.«

      Die unumgängliche Honorarfrage macht Schwierigkeiten. Ich habe eine Anzahl von Patienten bekommen, deren oft nicht unbeträchtliches Vermögen in vorherigen Kuren verschwunden war. Man wird sich nach den ortsüblichen Honoraren richten müssen, darf wohl auch die größere Mühe und den Zeitverbrauch bei jeder Behandlung in Anschlag bringen, soll aber im Interesse des erforderten Gemeinschaftsgefühls von unnatürlich großen Forderungen, besonders wenn sie den Patienten schädigen könnten, Abstand nehmen. Unentgeltliche Behandlung muß mit jener Vorsicht durchgeführt werden, die den armen Patienten nicht etwa ein mangelhaftes Interesse fühlen läßt, worauf er wohl in den meisten Fällen sein Augenmerk richtet. Eine Pauschalsumme, auch wenn sie günstig erscheint, oder ein Versprechen, nach erfolgter Heilung zu zahlen, ist abzulehnen, nicht weil letzteres unsicher erscheint, sondern weil dadurch künstlich ein neues Motiv in die Beziehung des Arztes zum Patienten gebracht wird, das den Erfolg erschwert. Die Bezahlung soll wöchentlich oder monatlich erfolgen, immer zu Ende dieser Zeit. Forderungen oder Erwartungen welcher Art immer schädigen die Kur. Sogar kleine Liebesdienste, zu denen sich nicht selten der Patient selber anträgt, müssen abgelehnt werden, Geschenke sollen freundlich zurückgewiesen, oder ihre Annahme soll bis zur erfolgten Heilung aufgeschoben werden. Gegenseitige Einladungen oder gemeinsame Besuche sollen während der Behandlung nicht stattfinden. Die Behandlung von verwandten Personen oder Bekannten gestaltet sich etwas schwieriger, weil es in der Natur der Dinge liegt, daß ein etwaiges Minderwertigkeitsgefühl bekannten Personen gegenüber drückender wird. Auch der