Hat man das Glück, wie in der Individualpsychologie, dabei immer nur auf Irrtümer, nie auf angeborene Defekte, immer auf Heilungsmöglichkeiten und Gleichwertigkeit, immer auch auf den allgemeinen Tiefstand des Gemeinschaftsgefühls hinweisen zu können, so sind das namhafte Erleichterungen und lassen verstehen, warum die Individualpsychologie nie den großen Widerstand zu verspüren bekommt wie andere Richtungen. Man wird leicht verstehen, daß es in der individualpsychologischen Behandlung nie zu Krisen kommt, und wenn ein nicht sattelgerechter Individualpsychologe, wie etwa Kunkel, die Krisen, die Erschütterung und Zerknirschung des Patienten für notwendig hält, dann sicher nur deshalb, weil er sie zuerst künstlich und überflüssigerweise hervorruft. Auch wohl, weil er damit fälschlicherweise glaubt, der Kirche einen Gefallen zu tun. Ich habe es immer als ungeheuren Vorteil gefunden, das Spannungsniveau in der Behandlung so weit als möglich niedrig zu halten, und ich habe es geradezu zu einer Methode entwickelt, fast jedem Patienten zu sagen, daß es Scherze gibt, die der Struktur seiner eigenartigen Neurose vollkommen gleich sind, daß letztere also auch leichter genommen werden kann, als er es tut. Wenig geistreichen Kritikern muß ich überflüssigerweise das Wort vom Munde nehmen, indem ich hinzufüge, daß solche Scherze natürlich nicht das Minderwertigkeitsgefühl (das Freud derzeit für so außerordentlich aufklärend findet) aufleben lassen dürfen. Hinweise auf Fabeln, auf historische Personen, auf Aussprüche von Dichtern und Philosophen helfen mit, das Vertrauen in die Individualpsychologie und in ihre Auffassungen zu stärken.
Jede Unterredung sollte darauf Bedacht nehmen, ob der Untersuchte auf dem Wege der Mitarbeit ist. Jede Miene, jeder Ausdruck, das mitgebrachte oder nicht mitgebrachte Material legen Zeugnis dafür ab. Das gründliche Verständnis der Träume gibt gleichfalls Gelegenheit, den Erfolg, den Mißerfolg und die Mitarbeit zu berechnen. Besondere Vorsicht aber ist in der Anspornung des Patienten zu irgendwelchen Leistungen geboten. Kommt die Sprache darauf, so soll man unter selbstverständlicher Ausschaltung allgemein gefährlicher Unternehmungen weder zu- noch abreden, sondern feststellen, daß man wohl von dem Gelingen überzeugt sei, daß man aber nicht ganz genau beurteilen könne, ob der Patient wirklich schon dazu bereit sei. Ein Anspornen vor dem Erwerb eines größeren Gemeinschaftsgefühls rächt sich meist durch eine Verstärkung oder durch Wiederkehr von Symptomen.
In der Berufsfrage darf man kräftiger vorgehen. Nicht etwa, als ob die Aufnahme eines Berufes gefordert werden sollte, aber durch den Hinweis, daß der Patient für diesen oder für jenen Beruf am besten vorbereitet sei und darin etwas leisten könnte. Wie überhaupt bei jedem Schritt in der Behandlung die Richtung der Ermutigung eingehalten werden muß, im Sinne der individualpsychologischen Überzeugung, durch die so viele haltlose Eitelheiten sich auf die Zehen getreten fühlen, »daß (abgesehen von erstaunlichen Spitzenleistungen, über deren Struktur wir nicht allzuviel aussagen können) jeder alles kann«.
Was das erste Examen des zu beratenden Kindes anlangt, so halte ich den von mir und meinen Mitarbeitern entworfenen Fragebogen, den ich hier folgen lasse, für den besten unter allen bis jetzt vorliegenden. Freilich wird ihn nur der richtig handhaben können, der über genügende Erfahrungen verfügt, der das eherne Netzwerk der individualpsychologischen Anschauung genau kennt und der in der Fähigkeit des Erratens eine genügende Übung hat. Er wird dabei wieder auf die Wahrnehmung stoßen, daß alle Kunst des Verstehens menschlicher Eigenart darin besteht, den in der Kindheit gefertigten Lebensstil des Individuums zu begreifen, die Einflüsse wahrzunehmen, die bei seiner Bildung am Werke waren, und zu sehen, wie dieser Lebensstil sich im Ringen mit den Gemeinschaftsproblemen der Menschheit auswirkt. Dem aus früheren Jahren stammenden Fragebogen sollte noch hinzugefügt werden, daß man den Grad der Aggression, die Aktivität festzustellen hat und nicht vergessen soll, daß die ungeheure Mehrzahl der kindlichen Fehlschläge aus der Verwöhnung stammen, die das emotionelle Streben des Kindes dauernd steigert und es so stets in Versuchung führt, so daß es Verlockungen der verschiedensten Art, auch durch schlechte Kameradschaft schwer widerstehen kann.
Individualpsychologischer Fragebogen
zum Verständnis und zur Behandlung schwer erziehbarer Kinder. Verfaßt und erläutert vom Internationalen Verein für Individualpsychologie.
1. Seit wann bestehen Klagen? In welcher äußerlichen und seelischen Situation war das Kind, als die Fehlschläge sichtbar wurden?
Bedeutsam sind: Milieuänderungen, Schulbeginn, Schulwechsel, Lehrerwechsel, Geburt jüngerer Geschwister, Versagen in der Schule, neue Freundschaften, Krankheiten des Kindes und der Eltern usw.
2. War es vorher schon irgendwie auffällig? Durch körperliche oder geistige Schwäche? Durch Feigheit? Nachlässigkeit? Zurückgezogenheit? Ungeschicklichkeit, Eifersucht? Unselbständigkeit beim Essen, Ankleiden, Waschen, Schlafengehen? Hatte es Angst vor dem Alleinsein? Vor der Dunkelheit? Ist es klar über seine Geschlechtsrolle? Primäre, sekundäre, tertiäre Geschlechtsmerkmale? Wie betrachtet es das andere Geschlecht? Wie weit ist seine sexuelle Aufklärung vorgeschritten? Stiefkind? Illegitim? Kostkind? Wie waren seine Pflegeeltern? Besteht noch ein Kontakt? Hat es rechtzeitig sprechen und gehen können? Fehlerlos? Rechtzeitige Zahnentwicklung? Auffallende Schwierigkeiten beim Schreibenlernen? Rechnen? Zeichnen? Singen? Schwimmenlernen? Hat es sich auffälligerweise an eine einzige Person angeschlossen? An Vater? Mutter? Großeltern? Kinderfrau?
Zu achten ist auf die Feststellung einer feindlichen Einstellung zum Leben, auf Ursachen zur Erweckung von Minderwertigkeitsgefühlen, auf Tendenzen zur Ausschaltung von Schwierigkeiten und Personen und auf Züge von Egoismus, Empfindlichkeit, Ungeduld, Affektsteigerung, Aktivität, Gier, Vorsicht.
3. Hat es viel zu schaffen gemacht? Was und wen fürchtet es am meisten? Hat es nachts aufgeschrien? Das Bett genäßt? Ist es herrschsüchtig? Auch gegen Starke oder nur gegen Schwache? Hat es einen auffälligen Hang gezeigt, im Bett eines der Eltern zu liegen? Ungeschickt? Intelligent? Wurde es viel geneckt und ausgelacht? Zeigt es äußerliche Eitelkeiten bezüglich Haare, Kleider, Schuhe? Nasenbohren? Nägelbeißen? Gierig beim Essen? Gestohlen? Stuhlschwierigkeiten ?
Geht auf Klarstellung, ob mit mehr oder weniger Aktivität nach dem Vorrang gestrebt wird? Ferner ob Trotz die Kultivierung seiner Triebhandlungen verhindert hat.
4. Hat es leicht Kameradschaft geschlossen oder war es unverträglich und quälte Menschen und Tiere? Schließt es sich an Jüngere, Ältere, Mädchen (Knaben) an? Hat es Führerneigung? Oder schließt es sich ab? Sammelt es? Ist es geizig? Geldgierig?
Betrifft seine Kontaktfähigkeit und den Grad seiner Entmutigung.
5. Wie ist es in allen diesen Beziehungen jetzt? Wie benimmt es sich in der Schule? Geht es gern hin? Kommt es zu spät? Ist es vor dem Schulgang aufgeregt, hastet es? Verliert es seine Bücher, Schultasche, Hefte? Aufgeregt vor Schulaufgaben und Prüfungen? Vergißt es seine Aufgaben zu machen oder weigert es sich? Vertrödelt es die Zeit? Ist es faul? Indolent? Wenig oder gar nicht konzentriert? Stört es den Unterricht? Wie steht es zu seinem Lehrer? Kritisch? Arrogant? Gleichgültig? Sucht es die Hilfe anderer bei seinen Aufgaben oder wartet es immer auf deren Aufforderung? Zeigt es sich beim Turnen oder Sport ehrgeizig? Hält es sich für partiell oder ganz unbegabt? Liest es auffallend viel? Welche Lektüre zieht es vor? Schlecht in allen Gegenständen?
Diese Fragen ergeben die Einsicht in die Vorbereitungen des Kindes für die Schule und in den Ausfall des Experiments der Schule bei dem Kind. Ferner auch in seine Stellung zu Schwierigkeiten.
6. Richtige Nachweise über die häuslichen Verhältnisse, über Krankheiten der Familie, über Alkoholismus, Verbrechensneigung, Neurosen, Debilität, Lues, Epilepsie, über den Lebensstandard? Todesfälle? In welchem Alter des Kindes? Ist das Kind verwaist? Wer dominiert in der Familie? Ist die Erziehung streng, nörgelnd, verzärtelnd? Werden die Kinder vor dem Leben geschreckt? Wie ist die Aufsicht? Stiefeltern?
Man sieht das Kind in seiner Familienposition und kann ermessen, welche Eindrücke dem Kind vermittelt wurden.
7. An welcher Stelle in der Geschwisterreihe steht das Kind? Ältestes, zweites, jüngstes, einziges,