Alfred Adler

Gesammelte Werke


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durch das Gemeinschaftsideal charakterisiert ist, weil der Mensch unverbrüchlich durch das Gemeinschaftsideal gelenkt, gehindert, gestraft, gelobt, gefördert wird, so daß jeder einzelne jede Abweichung nicht nur zu verantworten, sondern auch zu büßen hat. Das ist ein hartes Gesetz, grausam geradezu. Diejenigen, die in sich bereits ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelt haben, sind unentwegt bestrebt, die Härten für den, der fehlerhaft schreitet, zu mildern, als ob sie es wüßten: das ist ein Mensch, der den Weg verfehlt hat, aus Ursachen, die die Individualpsychologie erst nachzuweisen imstande ist. Wenn der Mensch verstünde, wie er, der Seite der Evolution ausweichend, fehlgegangen ist, dann würde er diesen Weg verlassen und sich der Allgemeinheit anschließen.

      Alle Probleme des menschlichen Lebens verlangen, wie ich gezeigt habe, Fähigkeit und Vorbereitung zur Mitarbeit, des sichtbaren Zeichens des Gemeinschaftsgefühls. In dieser Stimmungslage ist Mut und Glück miteingeschlossen, die sonst nicht zu finden sind.

      Alle Charakterzüge erweisen den Grad des Gemeinschaftsgefühls, laufen der Linie entsprechend, die nach der Meinung des Individuums zum Ziel der Überlegenheit führt, sind Leitlinien, verwoben mit dem Lebensstil, der sie geformt hat und immer wieder zutage bringt. Unsere Sprache ist zu arm, um feinste Gebilde des Seelenlebens mit einem einzigen Wort auszudrücken, wie wir es Charakterzügen gegenüber tun, dadurch die Mannigfaltigkeit übersehend, die durch diesen Ausdruck verdeckt ist. Daher schimmern für die, die sich an Worte klammern, Widersprüche durch, so daß ihnen die Einheit des Seelenlebens nie klar wird.

      Vielleicht wird manchen die einfache Tatsache am stärksten überzeugen, daß alles, was wir als Fehlschlag bezeichnen, den Mangel an Gemeinschaftsgefühl aufweist. Alle Fehler der Kindheit und im Leben der Erwachsenen, alle schlechten Charakterzüge, in der Familie, in der Schule, im Leben, in der Beziehung zu anderen, im Beruf und in der Liebe erweisen ihre Herkunft aus dem Mangel an Gemeinschaftsgefühl, sind vorübergehend oder dauernd, beides in tausend Varianten.

      Eine genaue Betrachtung des persönlichen Lebens und des Lebens der Masse, der Vergangenheit und der Gegenwart zeigt uns das Ringen der Menschheit um ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl. Es ist kaum zu übersehen, daß die Menschheit um dieses Problem weiß und von ihm durchdrungen ist. Was in der Gegenwart auf uns lastet, stammt aus dem Mangel sozialer Durchbildung. Was in uns drängt, um auf eine höhere Stufe zu kommen, von den Fehlschlägen unseres öffentlichen Lebens und unserer Persönlichkeit frei zu werden, ist das gedrosselte Gemeinschaftsgefühl. Es lebt in uns und sucht sich durchzusetzen, es scheint nicht stark genug zu sein, um sich trotz aller Widerstände zu bewähren. Es besteht die berechtigte Erwartung, daß in viel späterer Zeit, wenn der Menschheit genug Zeit gelassen wird, die Kraft des Gemeinschaftsgefühls über alle äußeren Widerstände siegen wird. Dann wird der Mensch Gemeinschaftsgefühl äußern wie Atmen. Bis dahin bleibt wohl nichts anderes übrig, als diesen notwendigen Lauf der Dinge zu verstehen und zu lehren.

      Anhang: Stellung zum Berater

       Inhaltsverzeichnis

      Unsere Grundanschauung von der in der frühesten Kindheit gestalteten Einheit des Lebensstils, von der ich schon im Beginne meiner Arbeiten gewußt habe, ohne sie verstanden zu haben, ermächtigte mich von vornherein anzunehmen, daß der zu Beratende sich im ersten Moment seines Erscheinens als die Persönlichkeit vorstellt, die er ist, ohne viel davon zu wissen. Die Beratung ist für den Patienten ein soziales Problem. Jede Begegnung eines Menschen mit einem anderen ist ein solches. Es wird sich demnach jeder in seinem Bewegungsgesetz vorstellen. Der Kenner kann oft auf den ersten Blick etwas von dem Gemeinschaftsgefühl des anderen aussagen. Verstellung hilft gegenüber dem erfahrenen Individualpsychologen nicht viel. Der Patient erwartet vom Berater viel Gemeinschaftsgefühl. Da man vom Patienten erfahrungsgemäß nicht viel soziales Interesse erwarten darf, wird man auch nicht viel verlangen. Man wird in dieser Auffassung wesentlich durch zwei Momente unterstützt. Das erste ist, daß der Gemeinschaftspegel im allgemeinen nicht hoch steht, das zweite, daß man es zumeist mit verwöhnten Kindern zu tun hat, die auch später von ihrer fiktiven Welt nicht loskommen. Man darf sich auch gar nicht wundern, wenn viele Leser es ohne Erschütterung aufgenommen haben, daß einer fragt: »Warum soll ich meinen Nächsten lieben?« Schließlich hat ja Kain eine ähnliche Frage gestellt.

      Der Blick, die Gangart, die Stärke oder Schwäche der Annäherung können viel verraten. Hat man sich an Regeln gewöhnt, etwa einen bestimmten Platz anzuweisen, einen Diwan, eine ganz bestimmte Zeit einzuhalten, so entgeht einem vieles. Die erste Begegnung soll schon eine Prüfung in aller Unbefangenheit sein. Schon die Art des Händedruckes kann den Blick auf ein bestimmtes Problem lenken. Daß verwöhnte Menschen sich gerne irgendwo anlehnen, Kinder an die begleitende Mutter, ist oft zu sehen. Aber so wie alles, was der Fähigkeit des Erratens eine Aufgabe stellt, wird man auch in diesen Fällen von starren Regeln absehen und überprüfen, lieber das, was man denkt, für sich behalten, um es später in geeigneter Form verständlich zu verwenden, ohne die Überempfindlichkeit eines Patienten, die immer vorhanden ist, zu verletzen. Gelegentlich kann man versuchen, dem Patienten nicht einen bestimmten Platz anzuweisen, sondern ihn einzuladen, irgendwo Platz zu nehmen. Die Distanz zum Arzt oder Berater verrät � gerade so wie bei Schulkindern � viel vom Wesen der Patienten. Wichtig ist ferner, die bei solchen Beratungen und sogar in Gesellschaften grassierende »Aha-Psychologie« strenge zu verpönen und im Anfang strikte Antworten an den Beratenen sowie an dessen Angehörige zu vermeiden. Der Individualpsychologe darf nicht vergessen, daß abgesehen von seiner geübten Fähigkeit des Erratens er auch für andere, darin Nichtgeübte, den Beweis erbringen muß. Eltern und Angehörigen des Ratsuchenden soll man nie als Kritiker gegenübertreten, vielmehr den Fall als erwägenswert und nicht als verloren bezeichnen, selbst wenn man nicht geneigt ist, ihn zu übernehmen, es wäre denn, daß wichtige Umstände bei einem absolut verlorenen Fall die Wahrheit erfordern. Ich sehe einen Vorteil darin, die Bewegungen eines Patienten nicht zu unterbrechen. Er kann aufstehen, kommen, gehen, rauchen, wie er will. Ich habe sogar Patienten gelegentlich die Möglichkeit gegeben, in meiner Gegenwart zu schlafen, wenn sie es vorschlugen, um mir die Aufgabe zu erschweren, eine Haltung, die für mich eine ebenso klare Sprache war, als wenn sie sich in gegnerischen Worten geäußert hätte. Der seitwärts gewandte Blick eines Patienten zeigt deutlich seine geringe Neigung zur verbindenden Mitarbeit. In anderer Weise kann dies auffällig werden, wenn der Patient nicht oder wenig spricht, wenn er um den Brei herumgeht oder durch unaufhörliches Sprechen den Berater hindert, zu Worte zu kommen. Im Gegensatz zu anderen Psychotherapeuten wird der Individualpsychologe es vermeiden, schläfrig zu sein oder zu schlafen, zu gähnen, einen Mangel an Interesse zu zeigen, harte Worte zu gebrauchen, voreilige Ratschläge zu geben, sich als letzte Instanz bezeichnen zu lassen, unpünktlich zu sein, sich in Streit einzulassen oder die Heilung, aus welchen Vorwänden immer, als aussichtslos zu erklären. In letzterem Falle, wenn übergroße Schwierigkeiten eintreten, empfiehlt es sich, sich selbst als zu schwach zu erklären und auf andere zu verweisen, die vielleicht stärker sind. Jeder Versuch, sich autoritär zu gebärden, läßt den Mißerfolg heranreifen, jede Großmäuligkeit hindert die Kur. Von allem Anfang an muß der Berater darnach trachten, die Verantwortung für die Heilung als Sache des Beratenen klarzustellen, denn, wie ein englisches Sprichwort richtig sagt: »Du kannst ein Pferd zum Wasser führen, aber du kannst es nicht trinken machen«.

      Man soll sich strikt daran halten, die Behandlung und Heilung nicht als Erfolg des Beraters, sondern als Erfolg des Beratenen zu sehen. Der Berater kann nur die Irrtümer zeigen, der Patient muß die Wahrheit lebendig machen. Da es sich in allen Fällen von Fehlschlägen, die wir gesehen haben, um einen Mangel an Mitarbeit handelt, so sind alle Mittel in Anspruch zu nehmen, um zuerst die Mitarbeit des Patienten mit dem Berater zu fördern. Daß dies nur dann möglich ist, wenn sich der Patient beim Arzt sicher fühlt, liegt auf der Hand. Deshalb ist diese Gemeinschaftsarbeit, als erster ernster, wissenschaftlich unternommener Versuch zur Erhöhung des Gemeinschaftsgefühls von eminenter Bedeutung. Unter anderem muß aber streng vermieden werden, was von anderen Beratern oft gefordert wird, bei gleichgebliebenem Minderwertigkeitsgefühl und angesichts der geringeren Sicherheit des Patienten gegenüber dem Arzt, ganz besonders durch fortwährenden Hinweis auf unterdrückte sexuelle Komponenten jene seelische Strömung künstlich hervorzurufen, die Freud die