der Schule oder des Erwachsenseins als wenig gefestigt erweisen kann. Ist der eine von beiden als hervorragend anerkannt, so kann sich der andere leicht als Fehlschlag herausstellen. Manchmal findet man, sogar bei eineiigen Zwillingen, als scheinbare Ähnlichkeit, daß beide dasselbe tun, im Guten wie im Bösen, wobei nicht übersehen werden darf, daß dabei der eine im Schlepptau des anderen ist. Auch im Falle des Zweitgeborenen haben wir Gelegenheit, die ursprüngliche, offenbar durch die Evolution festgelegte Fähigkeit des Erratens, dem Verstehen vorauseilend, zu bewundern. Besonders in der Bibel ist die Tatsache des himmelstürmenden zweiten in der Geschichte von Esau und Jakob wundervoll enthüllt, ohne daß wir ein Verstehen dieser Tatsache voraussetzen könnten, Jakobs Sehnsucht nach der Erstgeburt, sein Ringen mit dem Engel (»ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«), sein Traum von der Himmelsleiter sprechen deutlich den Wettlauf des zweiten aus. Auch wer nicht geneigt ist, dieser meiner Darstellung zu folgen, wird immerhin eigenartig berührt sein, wenn er im ganzen Lebenslauf Jakobs dessen Geringschätzung für den ersten wiederfindet. So in seiner hartnäckigen Werbung um die zweite Tochter Labans, in der geringen Hoffnung, die er auf seinen Erstgeborenen setzt und in der Art, wie er seinen größeren Segen, unter Kreuzung der Arme mit der rechten Hand, dem zweiten Sohn Josephs zuteil werden läßt.
Von den zwei älteren Töchtern einer Familie äußerte sich die erste seit der Geburt ihrer jüngeren Schwester, drei Jahre nach ihr, als ein wild revoltierendes Kind. Die zweite »erriet« ihren Vorteil darin, ein folgsames Kind zu werden und machte sich dadurch außerordentlich beliebt. Je beliebter sie wurde, um so mehr tobte die Ältere, die bis in ihr höheres Alter ihre stürmisch protestierende Haltung aufrechthielt. Die zweite, an ihre Überlegenheit in allen Dingen gewöhnt, erlitt ihren Schock, als sie in der Schule zurückblieb. Die Schule und später die drei Lebensprobleme zwangen sie, ihren Rückzug von dem für ihren Ehrgeiz gefährlichen Punkt zu stabilisieren und damit auch, infolge der fortwährenden Furcht vor einer Niederlage, ihren Minderwertigkeitskomplex in der Form der von . mir so genannten »zögernden Bewegung« auszubauen. Dadurch war sie wohl vor allen Niederlagen einigermaßen geschützt. Wiederholte Träume von Zuspätkommen zu einem Eisenbahnzug zeigten die Kraft ihres Lebensstils, der ihr im Traum nahelegte, für das Versäumen von Gelegenheiten zu trainieren. Kein menschliches Individuum kann aber im Gefühl der Minderwertigkeit einen Ruhepunkt finden. Das evolutionär festgelegte Streben alles Lebendigen nach einem idealen Ziel der Vollkommenheit ruht niemals und findet seinen Weg aufwärts, in der Richtung des Gemeinschaftsgefühls oder gegen dasselbe in tausend Varianten. Die Variante, die unserer Zweitgeborenen nahegelegt war und nach einigen tastenden Versuchen als brauchbar gefunden wurde, war eine Waschzwangsneurose, die ihr durch fortwährendes Waschenmüssen ihrer Person, ihrer Kleider und ihrer Geräte, was besonders dann eintrat, wenn andere Personen ihr nahe kamen, den Weg zur Erfüllung ihrer Aufgaben verlegte, auch geeignet war, die Erfüllung fordernde Zeit, den großen Feind der Neurotiker, totzuschlagen. Dabei hatte sie erraten, ohne es zu verstehen, daß sie durch übertriebene Erfüllung einer kulturellen Funktion, die sie früher beliebt gemacht hatte, allen anderen Menschen den Rang abgelaufen hatte. Nur sie war rein, alle anderen, alles andere war schmutzig. Über den Mangel ihres Gemeinschaftsgefühls, den Mangel bei einem scheinbar so gut gearteten Kinde einer stark verwöhnenden Mutter, brauche ich nichts mehr zu sagen. Ebenso nicht darüber, daß ihre Heilung nur durch Verstärkung ihres Gemeinschaftsgefühls denkbar war.
Über den Jüngsten der Familie ist viel zu sagen. Auch er befindet sich in einer gründlich verschiedenen Situation, verglichen mit den anderen. Er ist niemals allein, wie der Älteste es eine Zeitlang ist. Er hat aber auch keinen Hintermann, wie ihn alle anderen Kinder haben. Und er hat nicht einen einzigen Vordermann, wie der zweite, sondern oft mehrere. Er ist meist von den alternden Eltern verwöhnt und findet sich in der unbehaglichen Situation, stets als der Kleinste und Schwächste, meist nicht ernst genommen, angesehen zu werden. Seine Lage ist im allgemeinen nicht ungünstig. Und sein Streben nach Überlegenheit über seine Vordermänner wird täglich aufgestachelt. In mancher Beziehung gleicht seine Lage der des zweiten, eine Situation, in die auch Kinder an einer anderen Stelle der Kinderreihe gelangen können, wenn zufällig ähnliche Rivalitäten Platz greifen. Seine Stärke zeigt sich oft darin, daß Versuche zu sehen sind, allen Geschwistern über den Kopf zu wachsen, in den verschiedensten Graden des Gemeinschaftsgefühls. Seine Schwäche kommt oft darin zur Erscheinung, daß er dem direkten Kampf um die Überlegenheit ausweicht, was bei größerer Verwöhnung die Regel zu sein scheint, und daß er sein Ziel auf einer anderen Ebene, in einer anderen Lebensform, in einem anderen Beruf zu erreichen sucht. Man ist bei dem individualpsychologisch geschulten Blick in die Werkstätte des menschlichen Seelenlebens immer wieder erstaunt wahrzunehmen, wie häufig sich dieses Schicksal des Jüngsten durchsetzt. Besteht die Familie aus Geschäftsleuten, so findet man den Jüngsten zum Beispiel als Dichter oder Musiker. Sind die Geschwister Intellektuelle, so gelangt der Jüngste oft zu einem gewerblichen oder geschäftlichen Beruf. Dabei muß freilich auch die Einengung der Möglichkeiten bei Mädchen in unserer recht unvollkommenen Kultur in Rechnung gezogen werden.
In Hinsicht auf die Charakterologie des Jüngsten hat mein Hinweis auf den biblischen Joseph allgemeine Beachtung gefunden. Ich weiß wohl, wie jeder andere, daß Benjamin der jüngste Sohn Jakobs gewesen ist. Er kam aber 17 Jahre nach Joseph und blieb ihm die längste Zeit unbekannt. Er zählte in Josephs Entwicklung nicht mit. Man kennt ja alle die Fakten, wie dieser Knabe träumend von seiner zukünftigen Größe unter den schwer arbeitenden Brüdern herumging und sie durch seine Träume von seiner Herrschaft über sie, über die Welt, von seiner Gottähnlichkeit heftig verärgerte. Auch wohl, weil er ihnen vom Vater vorgezogen wurde. Aber er wurde die Säule seiner Familie, seines Stammes und weit über diesen hinaus einer der Retter der Kultur. In einzelnen seiner Handlungen und in seinen Werken zeigt sich die Größe seines Gemeinschaftsgefühls.
Die erratende Volksseele hat mehrere solcher Hinweise geschaffen. Viele andere finden sich ebenfalls in der Bibel, wie Saul, David usw. Aber auch in den Märchen aller Zeiten und Völker, in denen sich ein Jüngster findet, bleibt er der Sieger. Man braucht auch nur Umschau zu halten in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, unter den ganz Großen der Menschheit, und wird finden, wie oft der Jüngste zu hervorragender Stellung gekommen ist. Auch als Fehlschlag zählt er oft zu den auffallendsten, was sich immer wieder auf seine Abhängigkeit von einer verwöhnenden Person oder auf Vernachlässigung zurückführen läßt, Positionen, aus denen er seine soziale Minderwertigkeit irrtümlich aufgebaut hat.
Dieses Gebiet der Kinderforschung, auf die Stellung des Kindes in der Kinderreihe bezogen, ist noch lange nicht erschöpft. Es zeigt mit bezwingender Klarheit, wie ein Kind seine Situation und deren Eindrücke als Bausteine benützt, um sein Lebensziel, sein Bewegungsgesetz, und damit auch seine Charakterzüge schöpferisch aufzubauen. Wie wenig da für eine Annahme angeborener Charakterzüge übrigbleibt, dürfte dem Einsichtigen klargeworden sein. Bezüglich anderer Stellungen in der Kinderreihe, sofern sie nicht die obengenannten imitieren, weiß ich lange nicht so viel zu sagen. Crighton Miller in London machte mich darauf aufmerksam, daß er gefunden habe, wie ein drittes Mädchen nach zwei vorhergehenden einen stärkeren männlichen Protest zeige. Ich konnte mich öfters von der Richtigkeit seines Befundes überzeugen und führe ihn darauf zurück, daß ein solches Mädchen die Enttäuschung der Eltern spürt, errät, manchmal auch erfährt und seine Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle irgendwie zum Ausdruck bringt. Man wird nicht überrascht sein, bei diesem dritten Mädchen eine stärkere Trotzstellung zu entdecken, die zeigt, daß, was Charlotte Bühler als »natürliches Trotzstadium« gefunden haben will, besser als Kunstprodukt verstanden werden kann, als dauernder Protest gegen wirkliche oder vermeintliche Zurücksetzung, im Sinne der Darlegungen der Individualpsychologie.
Über die Entwicklung eines einzigen Mädchens unter Knaben und eines einzigen Knaben unter Mädchen sind meine Untersuchungen nicht abgeschlossen. Nach meinen bisherigen Befunden erwarte ich zu finden, daß sich beide in Extremen zeigen, mehr nach der männlichen oder mehr nach der weiblichen Richtung zielend. Nach der weiblichen, wenn ihnen diese als erfolgreicher in der Kindheit zur Empfindung gebracht wurde, mehr nach der männlichen, wenn ihnen die Männlichkeit als begehrenswertes Ziel erscheint. Im ersteren Falle wird man Weichheit und Anlehnungsbedürfnis in gesteigertem Maße finden, mit allen Arten und Unarten, im zweiten Falle offene Herrschsucht, Trotz, aber gelegentlich auch Mut und ehrbares Streben.