gelöst, gezeigt zu haben, daß sich in der Lebensform jedes Kindes der Abdruck seiner Stellung in der Geschwisterreihe zeigt. Diese Tatsache wirft auch ein scharfes Licht auf die Frage der Charakterentwicklung. Denn wenn es richtig ist, daß gewisse Charakterzüge mit der Stellung des Kindes in der Geschwisterreihe übereinstimmen, dann bleibt nicht viel Platz mehr übrig für Diskussionen, die die Heredität des Charakters betonen oder dessen Abstammung aus der Analzone oder einer anderen.
Noch mehr. Es läßt sich gut verstehen, wie ein Kind kraft seiner Stellung in der Geschwisterreihe zu einer gewissen Eigenart gelangt. Mehr oder weniger bekannt sind die Schwierigkeiten eines einzigen Kindes. Stets unter Erwachsenen, meist übertrieben sorgsam behütet, unter steter Angst der Eltern heranwachsend, lernt es sehr bald, sich als Mittelpunkt zu fühlen und zu benehmen. Oft ergibt sich Krankheit oder Schwäche eines der Eltern als ein erschwerender Umstand. Häufiger kommen Eheschwierigkeiten und Ehetrennungen in Betracht, eine Atmosphäre, in der das Gemeinschaftsgefühl des Kindes schlecht gedeiht. Recht oft findet man, wie ich gezeigt habe, den meist neurotisch geäußerten Protest der Mutter gegen ein weiteres Kind, ein Protest, der meist mit übertriebener Sorgfalt für das eine Kind, mit seiner vollkommenen Versklavung verbunden ist. Man findet im späteren Leben solcher Kinder, bei jedem verschieden, eine der Abstufungen zwischen heimlich protestierender Unterwerfung und übertriebener Sucht nach Alleinherrschaft, wunde Stellen, die bei Berührung durch ein exogenes Problem zu bluten, sich lebhaft zu äußern beginnen. Starke Gebundenheit an die Familie, die den Anschluß nach außen verhindert, zeigt sich als abträglich in vielen Fällen.
Bei größerer Kinderzahl findet man den Erstgeborenen in einer einzigartigen Situation, die keines der anderen Kinder erlebt. Er ist eine Zeitlang ein einziges Kind und erfährt Eindrücke, wie dieses. Verschiedene Zeit später wird er »entthront«. Dieser von mir gewählte Ausdruck gibt den Wechsel der Situation so genau wieder, daß auch spätere Autoren, wenn sie diesem Falle gerecht werden, wie Freud, sich dieses bildlichen Ausdruckes nicht entschlagen können. Die Zeit, die bis zu dieser »Entthronung« verstreicht, ist für den Eindruck und dessen Verarbeitung nicht gleichgültig. Sind es drei oder mehr Jahre, so fällt das Ereignis in den bereits stabilisierten Lebensstil und wird in dessen Art beantwortet. Im allgemeinen vertragen verwöhnte Kinder diesen Wechsel ebenso schlecht wie etwa die Entwöhnung von der Mutterbrust. Ich muß aber feststellen, daß selbst ein einziges Jahr des Intervalls genügt, um die Spuren der Entthronung durch das ganze Leben sichtbar zu machen. Dabei muß auch der vom erstgeborenen Kinde bereits erworbene Lebensraum in Betracht gezogen werden wie auch die Einengung desselben, die es durch das zweite Kind erfährt. Man sieht, daß für unsere nähere Einsicht eine Menge von Faktoren herangezogen werden müssen. Vor allem auch, daß sich der ganze Vorgang, wenn das Zeitintervall nicht groß ist, »wortlos«, ohne Begriffe vollzieht, das heißt, einer Korrektur auch durch spätere Erfahrungen nicht zugänglich ist, sondern nur durch individualpsychologische Erkenntnis des Zusammenhanges. Diese wortlosen Eindrücke, deren es im frühen Kindesleben viele gibt, würden von Freud und Jung, falls sie einmal darauf stießen, anders gedeutet werden, nicht als Erlebnisse, sondern in ihren Folgerungen als unbewußte Triebe oder als atavistisches soziales Unbewußtes. Haßregungen aber oder Todeswünsche, die man gelegentlich antrifft, sind die uns wohlbekannten Kunstprodukte einer unrichtigen Erziehung des Gemeinschaftsgefühls und finden sich nur bei verwöhnten Kindern oft gegen das zweite Kind gerichtet. Ähnliche Stimmungen und Verstimmungen findet man auch bei späteren Kindern, auch bei ihnen vor allem, wenn sie verwöhnt waren. Aber der Erstgeborene, wenn er stärker verwöhnt wurde, hat wegen seiner Ausnahmestellung etwas vor den anderen voraus und empfindet durchschnittlich die Entthronung stärker. Die ähnlichen Erscheinungen aber bei späteren Kindern, die leicht zur Entstehung eines Minderwertigkeitskomplexes Anlaß geben, sind Beweis genug, daß ein etwa stärkeres Geburtstrauma als Ursache der Fehlschläge bei Erstgeborenen in das Reich der Fabeln zu versetzen ist, eine vage Annahme, die nur bei Unkenntnis der individualpsychologischen Erfahrungen erhascht werden konnte.
Es ist auch leicht zu verstehen, daß der Protest des Erstgeborenen gegen seine Entthronung sich recht häufig in einer Neigung kundgibt, die irgendwie gegebene Macht als berechtigt anzuerkennen oder ihr an der Seite zu stehen. Diese Neigung gibt dem Erstgeborenen gelegentlich einen deutlich »konservativen Charakter«, der sich nicht etwa politisch, sondern sachlich geltend macht. Ein sprechendes Beispiel dafür habe ich in der Biographie Theodor Fontanes gefunden. Wer nicht Haare spalten will, wird auch in Robespierres Persönlichkeit den autoritären Zug trotz seiner hervorragenden Anteilnahme an der Revolution nicht verkennen. Man soll aber angesichts der regelfeindlichen Haltung der Individualpsychologie nicht übersehen, daß nicht die Nummer, sondern die Situation ausschlaggebend ist, so daß auch später in der Kinderreihe das seelische Porträt eines Erstgeborenen auftauchen kann, wenn ein solches Kind etwa mehr auf ein nachfolgendes Kind angewiesen ist und reagiert. Auch der Umstand darf nicht übersehen werden, daß gelegentlich ein Zweitgeborener in die Rolle des ersten eintritt, wie zum Beispiel, wenn der Erstgeborene als schwachsinniges Kind nicht recht für unseren Fall in Betracht kommt. Ein gutes Beispiel dafür findet man in der Persönlichkeit Paul Heyses, der sich fast väterlich zu seinem älteren Bruder bezog und in der Schule sich als rechte Hand des Lehrers aufspielte. Man wird aber in jedem Falle einen Forschungsweg bereitgestellt finden, wenn man nach den speziellen Lebensformen eines Erstgeborenen Umschau hält und nicht vergißt, wie der zweite ihn im Rücken bedrängt. Daß er da gelegentlich den Ausweg findet, den zweiten väterlich oder mütterlich zu behandeln, ist nur eine Variante seines Strebens nach der Oberhand.
Ein spezielles Problem scheint recht häufig unter jenen Erstgeborenen heranzuwachsen, die in nicht allzugroßem Abstand von einer Schwester gefolgt sind. Ihr Gemeinschaftsgefühl ist da oft starken Beeinträchtigungen ausgesetzt. Vor allem deshalb, weil Mädchen von der Natur in ihrem körperlichen und geistigen Wachstum in den ersten 17 Jahren besonders gefördert werden, deshalb dem Schrittmacher stärker nachdrängen. Oft auch deshalb, weil sich der ältere Knabe nicht nur in seinem Vorrang, sondern auch in dem üblen Vorzug der männlichen Rolle zu behaupten trachtet, während das Mädchen oft durch die heute noch bestehende kulturelle Bedrängung in einem schweren Minderwertigkeitsgefühl stark nachstößt, und dabei ein stärkeres Training an den Tag legt, das ihr oft deutliche Züge großer Energie verleiht. Dies ist auch bei anderen Mädchen der Auftakt zum »männlichen Protest«, der unzählige gute und schlimme Folgen in der Entwicklung von Mädchen zeitigen kann, alle zwischen Vorzügen und Abwegigkeiten menschlicher Art bis zur Ablehnung der Liebe oder bis zur Homosexualität gelagert. Freud hat später von dieser individualpsychologischen Erkenntnis Gebrauch gemacht und hat sie unter dem Namen »Kastrationskomplex« in sein Sexualschema eingepreßt, behauptend, daß nur der Mangel des männlichen Gliedes jenes Minderwertigkeitsgefühl erzeugt, dessen Struktur von der Individualpsychologie gefunden wurde. Er läßt aber neuerlich schwach durchblicken, daß er auch für die soziale Seite dieser Frage einiges übrig hat. Daß der Erstgeborene fast immer als der Träger der Familie und ihrer konservativen Tradition angesehen wurde, zeigt wieder, daß die Fähigkeit des Erratens die Erfahrung voraussetzt.
Was die Eindrücke betrifft, unter denen so häufig der Zweitgeborene selbstschöpferisch sein Bewegungsgesetz gestaltet, so sind sie hauptsächlich darin zu finden, daß da ununterbrochen ein anderes Kind vor ihm herläuft, das nicht nur weiter in seiner Entwicklung ist, sondern ihm auch zumeist durch sein Festhalten an der Oberhand die Gleichheit bestreitet. Diese Eindrücke fallen hinweg, wenn der Abstand der Jahre groß ist, und sind um so stärker, je geringer er ist. Sie wirken drückend, wenn der Erstgeborene im Empfinden des zweiten nicht zu schlagen ist. Sie verschwinden fast, wenn der zweite von vornherein siegreich ist, sei es wegen der Minderwertigkeit des ersten oder wegen seiner geringeren Beliebtheit. Fast immer aber wird man das heftigere Aufwärtsstreben des zweiten beobachten können, das sich bald in verstärkter Energie, bald in heftigerem Temperament, bald auf der Seite des Gemeinschaftsgefühls, bald in einem Fehlschlag äußert. Man wird danach suchen müssen, ob er sich nicht vorwiegend wie im Wettlauf befindet, an dem auch der erste gelegentlich teilnimmt, und ob er sich nicht immer wie unter Volldampf darstellt. Bei ungleichem Geschlecht kann sich die Rivalität verschärfen, gelegentlich auch ohne daß das Gemeinschaftsgefühl wesentlich geschädigt ist. Auch die Schönheit des einen Kindes fällt dabei ins Gewicht. Ebenso die Verzärtelung eines der beiden, wobei für den Betrachter der Unterschied in der Sorgfalt der Eltern nicht gerade auffallend sein muß, es