Ich habe zwingende Gründe dafür. Nicht meinetwegen, sondern – es geht um das Glück und die Ruhe eines mir lieben Menschen.«
Minutenlang bleibt es still zwischen den beiden Frauen. Der Oberschwester Blicke senken sich tief in die Magdas. Sie sieht nur Reinheit auf dem Grund dieser kristallklaren Augen und glaubt, das Mädchen nun zu verstehen.
»Es ist gut. Vorläufig will ich Sie nicht mit weiteren Fragen quälen.«
Sie drückt auf einen Klingelknopf, und die junge Schwester, die Magda hergeführt hat, tritt ein. »Bitte bringen Sie –« Sie richtet das Wort erneut an Magda: »Wie war Ihr Name doch gleich?«
»Magda Lorenz!« gibt sie zur Antwort.
»– also, bringen Sie Magda in die Abteilung fünf zu Schwester Hanna. Ich setze mich telefonisch mit Schwester Hanna in Verbindung.«
Sie reicht verabschiedend Magda die Hand, die diese fast stürmisch an die Lippen zieht.
»Herzlichen Dank! Ich werde Sie gewiß nicht enttäuschen«, stammelt sie beglückt.
Gütig nickt die Oberschwester ihr zu, und Magda geht schwankenden Schrittes hinter der sie führenden Schwester her.
So haben sich die Tore der Herdegenschen Klinik hinter Magda geschlossen, um ihr Schutz und Halt zu gewähren.
Wie seltsam doch das Schicksal spielt! Der Zufall führt sie an den Platz, der ihr durch Vermittlung Doktor Urbans bereits zugedacht war.
Dankbar finden sich Magdas Hände am Abend zum Gebet. Zum ersten Male wieder streckt sie sich mit dem beruhigenden Gefühl, geborgen zu sein, in den Kissen aus.
*
Magda hat sich in ihrer neuen Umgebung gut eingelebt. Sie ist fleißig und willig und hat sich durch ihr sanftes Wesen die Herzen der Schwestern und ihrer Zimmergenossinnen ebenso schnell erobert wie der ihr anvertrauten Pfleglinge.
Die Arbeit macht ihr unendlich viel Freude. Wenn sie zwischen den Reihen der weißen Betten hindurchgeht und die kleinen schreienden oder auch friedlich schlummernden Menschenkinder mit liebevollen Blicken streift, dann fühlt sie ihr Herz höher schlagen.
Ihre jetzige Tätigkeit nimmt sie so sehr in Anspruch, daß sie kaum Zeit findet zum Nachdenken über das Vergangene und das eigene Geschick. Und so erlangt sie nach und nach auch wieder ihr seelisches Gleichgewicht.
Mit großer innerer Ruhe sieht sie dem Kommenden entgegen. Nur etwas verursacht ihr heimlichen Kummer: Wird ihr Verbleib hier in der Klinik Professor Herdegens von Dauer sein?
Oberschwester Thea hat es ihr zwar versichert, das letzte Wort jedoch spricht der Professor selber. Vor dieser Auseinandersetzung bangt ihr.
Fast vierzehn Tage ist sie nun schon hier tätig. Heute macht sich bereits frühzeitig eine besondere Geschäftigkeit in der Klinik bemerkbar. Es ist erst sechs Uhr morgens, und Magda hat soeben ihren Dienst angetreten, hat die Nachtschwester abgelöst.
Schwester Käthe ruft ihr im Vorbeigehen leise zu:
»Heute kommt der Professor zurück, Magda!«
Diese Mitteilung, die bei allen anderen eine gewisse Spannung auslöst, bewirkt bei Magda gerade das Gegenteil.
Es ist selbstverständlich, daß sie dem Manne, der von seinem gesamten Personal ebenso wie von seinen Patienten grenzenlos verehrt wird, mit banger Furcht entgegenfiebert. Ihre ganze Zukunft liegt in seinen Händen.
Nun steht sie mit stark klopfendem Herzen vor der Tür zum Sprechzimmer des Professors.
Nach schüchternem Anklopfen wird sie von einer energischen, aber wohlklingenden Stimme zum Eintreten aufgefordert.
Bescheiden bleibt sie nahe der Tür stehen.
»Was führt Sie zu mir?« fragt er.
Langsam kommt Magda näher. Ihre großen, sprechenden Augen sind mit bittenden Ausdruck auf ihn gerichtet, so daß er, verblüfft über so viel Schönheit und Anmut, für Sekunden verstummt.
Auch Magda sieht forschend und wortlos in das schmale Männerantlitz mit den gütigen Augen, und alle Furcht weicht von ihr.
»Nun, Sie wünschen?« fragt Professor Herdegen nochmals.
»Mein Name ist Magda Lorenz«, beginnt sie, wird aber sofort durch seinen erstaunten Ausruf unterbrochen.
»Sie sind Magda Lorenz?!«
Magda fühlt, wie ihr das Blut zum Herzen drängt. Kennt der Mann sie etwa schon? Was weiß er von ihr? lbre Erregung steigert sich bei diesen Gedanken.
Herdegen schiebt ihr schnell einen Stuhl hin. Er hat ein verschmitztes, heimliches Lächeln um den Mund.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagt er warm.
Während Magda noch nach Fassung ringt, überlegt Herdegen blitzschnell.
Magda Lorenz? Selbstverständlich, nach Urbans Schilderung. – Kein Zweifel, sie muß es sein! So zart und hübsch hat er sie sich allerdings nicht vorgestellt.
Diesem jungen leidenden Menschenkinde hätte er niemals seinen Schutz versagt, selbst wenn sich sein Freund Urban nicht für es eingesetzt hätte.
Nach einer Pause fordert er Magda erneut zum Sprechen auf.
Stockend zuerst, dann aber immer fließender erzählt sie, sie sei von der Bahnhofsmission hierhergewiesen worden, käme aber von der Sorge nicht los, wieder gehen zu müssen, ohne zu wissen, wohin sie sich dann wenden solle.
Wieder spielt das Lächeln um Herdegens Mund.
»Diese Sorge will ich Ihnen gern nehmen«, sagt er wohlwollend und gütig, nachdem sie geendet hat.
Sie stammelt einen kurzen Dank. Man merkt es ihr an, wie schwer die Worte ihr über die Lippen kommen.
»Wenn Sie mit Ihrer Beschäftigung hier zufrieden sind, dann sind Sie bei uns schon am besten aufgehoben«, ermutigt er sie. »Ich werde mit Oberschwester Thea alles weitere besprechen. Sie brauchen sich über nichts mehr Sorgen zu machen. Versprechen Sie mir das?«
Magda ist völlig verwirrt über die herzliche Art dieses Mannes, vor dem sie sich heimlich gefürchtet hat. Sie bejaht durch Kopfnicken. Eine Antwort erwartet Professor Herdegen auch gar nicht. Er hat sich meisterhaft in der Gewalt und erwähnt mit keinem Wort, daß er über ihr Schicksal weit besser unterrichtet ist, als sie es ihm mit ihren kurzen Angaben enthüllen konnte.
Nur das arme Mädel nicht verstört machen, denkt er, als er sie zur Tür begleitet.
Kaum ist er wieder allein, so meldet er ein dringendes Gespräch mit Doktor Urban an. Das muß er seinem Freunde sofort mitteilen. Der sorgt sich um das Mädel, wie ein Vater um sein Kind.
*
Mit rauhem Wind, viel Sonne und Eis hat der Winter seinen Einzug gehalten. Zuweilen braust der Sturm mit so großer Gewalt über den Birkenhof, daß man nicht einmal einen Hund hinausjagen möchte.
Gemütlich ist es in dem zu ebener Erde gelegenen Wohnzimmer. Im Kamin, der außer dem großen Kachelofen dort eingebaut ist, prasselt ein lustiges Feuer, genährt von dicken Buchenscheiten. Eine wohlige Wärme verbreitet sich in dem Zimmer.
Die drei Birkenhofbewohner sitzen Abend für Abend um den Kamin und beschließen den Tag rastloser Arbeit mit einer unterhaltsamen Stunde.
Hanno ist zufrieden und fast wieder heiter geworden. Er freut sich über alle Maßen auf das Kind – sein Kind, ebenso wie Frau Christine. Willig hat sie die Haus-frauenpflichten wieder auf sich genommen, damit Aline sich schonen und ein gesundes Kind zur Welt bringen kann.
Hanno ist lieb und gut zu Aline; und doch ist sie die einzige Unzufriedenheit in dem kleinen Kreise. Das Leben, das sie jetzt ihres Zustandes wegen zu führen gezwungen ist, behagt ihr nicht. Sie ist launenhafter denn je. Es muß sehr viel Rücksicht auf sie genommen werden, am meisten von Hanno. Jetzt ist er der Geduldige, Nimmermüde, während Frau Christine oftmals unmutig den Kopf schüttelt.