Robert Musil

Gesammelte Werke


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Ich hatte so etwas vorher nur ein einziges Mal gesehen, – als ich auf der Straße hinzukam, wie man einen Mörder arretierte. Der war auch unter den anderen Leuten umhergegangen, ohne daß man ihm das geringste hätte anmerken können. Als ihm aber der Schutzmann die Hand auf die Schulter legte, war er plötzlich ein anderer Mensch geworden. Sein Gesicht hatte sich verwandelt, und seine Augen starrten erschrocken und nach einem Ausweg suchend aus einer wahren Galgenphysiognomie.

      Daran wurde ich durch den Wechsel in Basinis Ausdruck erinnert; ich wußte nun alles und wartete nur noch …

      Und es kam auch so. Ohne daß ich etwas gesagt hätte, fing Basini – von dem Schweigen erschöpft – zu weinen an und bat mich um Gnade. Er habe das Geld ja nur in der Not genommen; wenn ich nicht daraufgekommen wäre, hätte er es so bald wieder zurückgegeben, daß niemand darum gewußt hätte. Ich solle doch nicht sagen, er habe gestohlen; er habe es sich ja nur heimlich ausgeliehen …; weiter kam er nicht vor Tränen.

      Danach aber bettelte er mich von neuem. Er wolle mir gehorsam sein, alles tun, was überhaupt ich wünsche, nur solle ich niemandem davon erzählen. Um diesen Preis bot er sich mir förmlich zum Sklaven an, und die Mischung von List und gieriger Angst, die sich dabei in seinen Augen krümmte, war widerwärtig. Ich versprach ihm daher auch nur kurz, mir noch überlegen zu wollen, was mit ihm geschehen werde, sagte aber, daß dies in erster Linie Beinebergs Sache sei. «Was sollen wir nun eurer Meinung nach mit ihm anfangen?»

      Während Reiting erzählte, hatte Törleß wortlos, mit geschlossenen Augen zugehört. Von Zeit zu Zeit war ihm ein Frösteln bis in die Fingerspitzen gelaufen, und in seinem Kopfe stießen die Gedanken wild und ungeordnet in die Höhe wie Blasen in siedendem Wasser. Man sagt, daß es so dem ergehe, der zum ersten Male das Weib sehe, welches bestimmt ist, ihn in eine vernichtende Leidenschaft zu verwickeln. Man behauptet, daß es einen solchen Augenblick des Sichbückens, Kräfteheraufholens, Atemanhaltens, einen Augenblick äußeren Schweigens über gespanntester Innerlichkeit zwischen zwei Menschen gebe. Keinesfalls ist zu sagen, was in diesem Augenblicke vorgeht. Er ist gleichsam der Schatten, den die Leidenschaft vorauswirft. Ein organischer Schatten; eine Lockerung aller früheren Spannungen und zugleich ein Zustand plötzlicher, neuer Gebundenheit, in dem schon die ganze Zukunft enthalten ist; eine auf die Schärfe eines Nadelstichs konzentrierte Inkubation … Und er ist andrerseits ein Nichts, ein dumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine Schwäche, eine Angst …

      So fühlte es Törleß. Was Reiting von sich und Basini erzählte, schien ihm, wenn er sich darüber befragte, ohne Belang zu sein. Ein leichtsinniges Vergehen und eine feige Schlechtigkeit von seiten Basinis, worauf nun sicher irgendeine grausame Laune Reitings folgen werde. Andrerseits aber fühlte er wie in einer bangen Ahnung, daß die Ereignisse nun eine ganz persönliche Wendung gegen ihn genommen hatten, und in dem Zwischenfalle lag etwas, das ihn wie mit einer scharfen Spitze bedrohte.

      Er mußte sich Basini bei Božena vorstellen, und er sah in der Kammer umher. Ihre Wände schienen ihm zu drohen, sich auf ihn zu senken, wie mit blutigen Händen nach ihm zu greifen, der Revolver rückte auf seinem Platze hin und her …

      Da war nun etwas zum ersten Male wie ein Stein in die unbestimmte Einsamkeit seiner Träumereien gefallen; es war da; da ließ sich nichts machen; es war Wirklichkeit. Gestern war Basini noch genau so wie er selbst gewesen; eine Falltüre hatte sich geöffnet, und Basini war gestürzt. Genau so, wie es Reiting schilderte: eine plötzliche Veränderung, und der Mensch hat gewechselt …

      Und wieder verknüpfte sich das irgendwie mit Božena. Seine Gedanken hatten Blasphemie getrieben. Ein fauler, süßer Geruch, der aus ihnen aufgestiegen war, hatte ihn verwirrt. Und diese tiefe Erniedrigung, diese Selbstaufgabe, dieses von den schweren, blassen, giftigen Blättern der Schande Bedecktwerden, das wie ein unkörperliches, fernes Spiegelbild durch seine Träume gezogen war, war nun plötzlich mit Basini – geschehen.

      Es war also etwas, womit man wirklich rechnen muß, vor dem man sich hüten muß, das plötzlich aus den schweigsamen Spiegeln der Gedanken hervorspringen kann? …

      Dann war aber auch alles andere möglich. Dann waren Reiting und Beineberg möglich. War diese Kammer möglich … Dann war es auch möglich, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führe. Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen …

      Und die Frage bliebe nur: wie ist es möglich? Was geschieht in solchem Augenblicke? Was schießt da schreiend in die Höhe und was verlischt plötzlich? …

      Das waren die Fragen, die für Törleß mit diesem Ereignisse heraufstiegen. Sie stiegen undeutlich herauf, mit verschlossenen Lippen, von einem dumpfen, unbestimmten Gefühl … einer Schwäche, einer Angst verhüllt.

      Aber doch klang wie von ferne, abgerissen und vereinzelt, manches ihrer Worte in Törleß auf und erfüllte ihn mit banger Erwartung.

      In diesen Augenblick fiel Reitings Anfrage.

      Törleß begann sofort zu sprechen. Er gehorchte dabei einem plötzlichen Antriebe, einer Bestürzung. Es schien ihm, daß irgend etwas Entscheidendes bevorstehe, und er erschrak vor diesem Heranrückenden, wollte ausweichen, eine Frist gewinnen … Er sprach, aber im selben Augenblicke fühlte er, daß er nur Uneigentliches vorzubringen habe, daß seine Worte ohne inneren Rückhalt seien und gar nicht seine wirkliche Meinung …

      Er sagte: «Basini ist ein Dieb.» Und der bestimmte, harte Klang dieses Wortes tat ihm so wohl, daß er zweimal wiederholte. «… ein Dieb. Und einen solchen bestraft man – überall, in der ganzen Welt. Er muß angezeigt, aus dem Institute entfernt werden! Mag er sich draußen bessern, zu uns paßt er nicht mehr!»

      Aber Reiting sagte mit einem Ausdrucke unangenehmen Betroffenseins: «Nein, wozu es gleich zum Äußersten treiben?»

      «Wozu? Ja, findest du denn das nicht selbstverständlich?»

      «Durchaus nicht. Du machst ja gerade so, als ob der Schwefelregen schon vor der Tür stünde, um uns alle zu vernichten, wenn wir Basini noch länger unter uns behielten. Dabei ist die Sache doch nicht gar so fürchterlich.»

      «Wie kannst du das sagen! Du willst also mit einem Menschen, der gestohlen hat, der sich dir dann zur Magd, zum Sklaven angeboten hat, tagtäglich weiter zusammen sitzen, zusammen essen, zusammen schlafen?! Ich verstehe das gar nicht. Wir werden doch gemeinsam erzogen, weil wir gemeinsam zur selben Gesellschaft gehören. Wird es dir gleich sein, wenn du seinerzeit vielleicht im selben Regiment mit ihm stehst oder im selben Ministerium arbeitest, wenn er in denselben Familien verkehrt wie du, – vielleicht deiner eigenen Schwester den Hof macht …?»

      «Nun seh einer, ob du nicht übertreibst?!» lachte Reiting, «du tust, als ob wir einer Brüderschaft fürs Leben angehörten! Glaubst du denn, daß wir immer ein Siegel an ans herumtragen werden: Stammt aus dem Konvikte zu W. Ist mit besonderen Vorrechten und Verpflichtungen behaftet? Später geht ja doch jeder von uns seinen eigenen Weg, und jeder wird das, wozu er berechtigt ist, denn es gibt nicht nur eine Gesellschaft. Ich meine daher, wir brauchen uns nicht über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen. Und was das Gegenwärtige betrifft, habe ich ja nicht gesagt, daß wir mit Basini Kameradschaft halten sollen. Es wird sich schon irgendwie so finden lassen, daß die Distanz gewahrt bleibt, Basini ist in unserer Hand, wir können mit ihm machen, was wir wollen, meinetwegen kannst du ihn zweimal täglich anspucken: wo bleibt da, solange er es sich gefallen läßt, die Gemeinsamkeit? Und lehnt er sich auf, können wir ihm immer noch den Herrn zeigen … Du mußt nur die Idee fallen lassen, daß zwischen uns und Basini irgendeine andere Zusammengehörigkeit bestehe, als die, daß uns seine Gemeinheit Vergnügen bereitet!»

      Obgleich Törleß gar nicht von seiner Sache überzeugt war, ereiferte er sich weiter: «Höre, Reiting, warum nimmst du dich Basinis so warm an?»

      «Nehme ich mich seiner an? Das weiß ich gar nicht. Überhaupt habe ich gewiß keinen besonderen Grund; mir ist die