Robert Musil

Gesammelte Werke


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Lautlosigkeit zerplatzt. Ich merkte jetzt, daß mich, ohne es zu wissen, alle ansahen; mit dem gleichen Blick, mit dem mich Monate später Frauen angesehn haben, als man mich auf einer Bahre aus einem Bahnhof trug. Mein Leib hatte sich zur Seite gerissen, ohne daß die Beine sich rührten, so daß er einen Halbkreis beschrieb und eine tiefe Verbeugung machte. Ich fühlte es erst, als ich wie aus einem Rausch erwachte. Ich weiß nicht, wie lange ich mir so ganz entglitten gewesen war; ich streckte mich; aber mein Herz schlug breit und ruhig, mit gleichmäßigen Schlägen wie eine Krähe durch den Abend fliegt; ich konnte auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken gewesen sein. «Ein Fliegerpfeil,» sagte einer; «wenn der trifft, geht er vom Kopf bis zu den Sohlen.» Alle wollten ihn suchen, aber er stak, nicht dicker als ein Zimmermannsblei, metertief in der Erde. Ich haßte diese Stimmen, ich liebte dunkel den Feind; ein heißes Blutgefühl überströmte mich, ich glaube, daß ich am ganzen Körper errötete.

      [Jugendfreunde]

[Ohne Titel – 1915/16?]

      Jugendfreunde – Begegnung alle paar Jahre – längst keine innere Übereinstimmung mehr, aber es so gut einen Menschen zu haben, dem man rückhaltlos von sich erzählen kann – Streng kathol. erzogen, dh. sehr wilde Jugend. Rauchen im Beichtstuhl usw. Boxen udgl. Damals schon. Es scheint: Jugend formt sich durch Ablehnung der bürokratisch fixierten herrschenden Form. Wir taten alles das, weil unsere Lehrer schlecht aussehende Katholiken waren. – Wir waren begeistert von den Enzyklopädisten. Eine Menschenform, die man heute nicht, aber in der nächsten Generation wieder verstehen wird. – Und wir waren neugierig auf unser Schicksal. Wir verstanden durchaus nicht das darunter, was wir später erreichen sollten. /Ev. jetzt s. o. den Anfang/

      Ich bin neugierig, wie sich das weiter entwickeln wird, als Ende.

      Die Kindheit, in die er zurücktaucht, liegt noch vor der gemeinsamen u. ist weich usw.

      Der Gesang des Todes

      Der singende Tod

[1915/16]

      Der Mann – Maler.

      Als er zu malen begann, jene kleine Welle Impressionismus gerade sich gebrochen, erster niederrollender Schaum wahrzunehmen. Er war nicht zufrieden mit der Ausdrucksweise, die er vorgefunden hatte. Aber immerhin war diese Auflösung besser als die Zusammenfassung zu gewußter Farbe, Anatomie und Perspektive.

      Man muß vorausschicken, daß der Mann, von dem das erzählt wird, weder zum Kirchen-, noch zu einem freien Glauben neigt, sondern den Zweifel und einen mutigen Unglauben liebt, der das Leben als ein Stück Sonne zwischen zwei dunklen Löchern hinnimmt. Er war Ingenieur und beschäftigte sich nicht mit den «letzten Gedanken»; bloß war er nicht so sehr Ingenieur, daß er ganz jener «Selbstgerechtheit aus Zeitmangel» verfallen wäre, welche die Menschen unsrer Tage zufrieden macht. Er wurde später plötzlich Maler.

      –– Als der Krieg ausbrach, machte er die seltsame, ans Religiöse streifende Aufregung mit wie jeder andre und kam als Reserveoffizier mit seinem Rgt. nach Galizien. Er machte die blutigen «Wellenbrecherschlachten» des Anfangs mit und erlebte nichts besonderes dabei; aus dem Eisenbahnwagen stieg man ins Artilleriefeuer, hastete verbissen vorwärts, um endlich ans Ende dieser verzweifelten Schießerei zu gelangen, wurde plötzlich in Splitter zerrissen, Flucht, flog als Wolke zurück, wurde gesammelt, wieder vorgeführt, unterlag oder siegte, ohne es zu wissen. Von Gefühlen hatte man Hunger, Durst, Wärme, Kälte, Müdigkeit, Ruhe, Sättigung, ein unbestimmtes Unbehagen und eine ebensowenig bestimmbare Glücksspannung, die sich aus Überzeugung, Abenteuer und journalistischer Sensation zusammensetzte. Ausgelöst war man wie ein Knöchelchen aus dem Fleisch von Intelligenz, Beruf, Kunst, Weibersehnsucht und dergleichen. Die Kriegsmaschine arbeitete langsam und rostig, wie jede Maschine, die auf freiem Feld in Sonne, Wind und Nässe steht und arbeiten muß. Manchmal flogen Fetzen von Pathetik um sie herum, eine im Galopp vorfahrende Batterie, ein ansprengender Generalstabsoffizier: ganz bedeutungslos.

      Man lernt sehr bald horchen wie ein Tier im Wald. Warnung vor Lebensgefahr pfaucht ihr als Welle blitzschnell voran oder ist, bei Steilfeuer, ein Stillwerden, plötzlich, über dem Kopf; was singt, geht vorbei; an irgend etwas, kaum Sagbarem, merkt man immer, ob es ernst ist oder nicht so wie man ja auch bei einem Stoß, den man selbst führt, voraus weiß, ob er sitzen wird, ohne daß man das noch beeinflußen könnte. Ist man aber in der Artilleriegarbe darin, so stampft und schwankt man hindurch wie auf einem Schiff in Brandung und merkt gar nichts. Anders ist Gewehrfeuer. Das ist so wie wenn an einem heißen Tag die Bienen durch die Luft stoßen oder auch ein Vogelgezirp oder dazwischen manchmal plötzlich eine lautlose Nähe und schon weg.

      Dagegen gibt es auch nicht den Gedanken an einen Schutz. Es ist wie Herz-oder Pique Aß, Kopf oder Adler; der Menschenleib ist wie ein Quadratmillimeter in einem Millimeterpapier auf das die «Streuung» irgend einer Wahrscheinlichkeit projiziert (geworfen) wird. Eingebettet in eine zufällige Verteilung. Und doch ist dies nichts als ein Augenblick des gewöhnlichen, friedlichen Lebens in ungeheurer Vergrößerung. Der Mann, von dem das erzählt wird, hatte bald den Eindruck, daß er in den Krieg gegangen war, wie man vor ein ungeheures Vergrößerungsglas tritt.

      Einmal in dem Gegilf und Schwärmen erhielt er einen Schlag; es war nicht anders, als hätte ihn ein kräftiger Stockhieb auf den Schenkel getroffen, und im gleichen Augenblick lag er im Gras. Langsam und furchtsam überzeugte er sich, daß seine Verletzung wahrscheinlich nicht tödlich sei, dann lag er. Weiß und blau stand der Himmel über ihm und die Wolken wurden geschoben wie Bretter. Maulwurfshügel und Granataufwurf bildeten mit dem zertretenen Gras eine Landschaft, die weit entfernt von jener war, in der er sich eben noch befunden hatte. Sehnsucht nach Kameraden befiel ihn. Ferner Lärm zeigte sie an. Entfernte sich. Kam wieder näher. Er hatte die Sehnsucht eines Pferdes in der Brust, das mit den Gefährten nicht Schritt halten kann und hinter ihnen drein wiehert. Plötzlich nahten sie; breit kündigte die Erde das Getrampel von Schuhen an, Menschenstimmen gingen im Raum auf wie Sonnen. Er hob die Hand. Aber die Stimmen eilten an ihm vorbei, die Schuhe traten das Gras neben ihm nieder, und nur noch eine letzte Welle war in der Stille wie von einem hineingeworfenen Stein. In diesem Augenblick begann er wieder das Gezirp in der Luft zu hören, herüber, hinüber; er konnte einen blattlosen Strauch sehn, der auf einer kleinen Erdwelle, einen Steinwurf von ihm entfernt, gerade vor ihm stand und am Schwanken seiner Gerten erkannte er, daß geschossen wurde. Dort lagen sie u schossen über ihn weg. Dann hörte er das Geflatter an den Mündungen. Noch als er fiel, hatte ihm ein Freund zugerufen .. Graue Erde stob neben ihm auf; sie schossen auch von drüben. Über ihn weg schossen sie, Freund und Feind, und er lag zwischen beiden, von beiden verlassen wie Brot, das gegessen ist, von beiden mit der gleichen Herzlosigkeit bedroht. Schrapnels zerrissen die Luft, von Granaten aufgeworfene Erde überstäubte ihn, er konnte nicht flüchten, noch Schutz suchen; eine namenlose Angst, Einsamkeit und Verachtung machten ihn erstarren; dann verlor er das Bewußtsein.

      Als er es wiedergewann, lag er in einem Frachtwagen der Eisenbahn, nahe der Decke, auf einem gepolsterten Brett, das an der Wand hing. Zu seiner Seite, etwas höher als seine Augen war ein ganz kleines vergittertes Fensterchen, durch das er die Wolken sah; es blieb sein Gefährte durch acht Tage. Dunkel erinnerte er sich, schon früher manchmal wieder bewußt gewesen zu sein. Er fühlte den Verband an seinem Bein und wußte irgendetwas von täppisch helfenden Händen der Krankenträger und maschinenkalter Eile der Ärzte. Das Gefühl der Einsamkeit und Verachtung hatte ihn auch in der bewußtlosen Zeit nicht verlassen, obgleich der Zug ihn augenscheinlich menschlicher Wärme wieder entgegentragen sollte. Bei seinem Kopf in zwei Ringen der Wandstand ein Becher mit Wasser; er trank aus dem Blech, das wie ein kleiner Eimer für ein Tier war, aber es erquickte ihn u er sah sich langsam um.

      [Schwerverwundetenzug]

[Ohne Titel – 1916]

      Stroh quoll über die Ränder des Blicks, als er sich abwärts senkte, dann füllten ihn weiße Verbände, rote Flecken durchgesickerten Bluts, glänzende Augen und verwirrte Köpfe aus, die aus dem Stroh ebenso wirr wie dieses herauswuchsen; – Schwerverwundetezug. Die Radstöße zählten wie ein Tropfglas die Zeit; quälend aussichtslos; ohne Anfang und Ende. Er schloß wieder die Augen, um sie wegzuwenden; und als er sie öffnete, gleich danach, wie er glaubte, stand der Zug still, und an irgend einer Bewegung im Wagen war zu merken, daß der Zug so schon stundenlang stillstand. Man eilte, die Schwerverwundeten