nach jenem verunglückten Durchgang des Halley’schen Kometen durch den Bannkreis der Erde. Im Mai 1910. Wir saßen oben am Pincio, in jenem kleinen vorspringenden Geviert von dem aus man auf die Piazza del Popolo hinabblickt, dann weiter die Via … entlang bis zu dem mit dem Kopf in den Schultern steckenden Bau der Peterskirche und endlich bis zu den herrlichen Höhen der Villa Doria Pamphili. Es war Nachmittag, es war warm, in den Straßen hatte der Asphalt bereits aufzuweichen begonnen und schaukelte noch lange leise seekrank in der Erinnerung nach
Rom mit seinen häßlichen, flachen, ineinandergeschobenen Dächern war wie ein riesiges, mit allerhand Waren unordentlich beladenes zitterndes Schiff in einem glühenden Meer.
Hinter unserem Rücken schmetterte eine Militärmusik als tränke man Schnaps aus Gießkannen, toll vor Hitze.
Damals entwickelte mir mein Freund … seine Pläne. Die Sistina herauf rollten in langem Zuge die Wagen. Ich dachte an d’Annunzio, als ich … Strahlend im Brillantschmuck alter Geschlechter erkannte ich im Fond ihrer von zwei Lakaien geleiteten Equipage die Frau eines mir bekannten Weinhändlers, Frl. Cohn aus Berlin versuchte vergeblich von mir gegrüßt zu werden, ein römischer Aristokrat, dessen Ahnen vermutlich schon gegen Franz I. im Felde gestanden hatten, bot uns Ansichtskarten an, – ihn störte das alles nicht, ja ich glaube, er bemerkte es kaum.
Er hielt seine Mappe auf den Knien und hatte seine Papiere auf der braungestrichenen Bank zwischen uns ausgebreitet und sprach u. rechnete. Zuweilen zeigte er mir ein Telegramm oder las eine Stelle aus einem Brief vor, dann nahm er wieder seinen Bleistift und rechnete u. erklärte.
Ich will meine lieben Leser nicht mit dem Inhalt seiner Berechnungen bemühen, genug daran, daß er in einer halben Stunde mehrere Bogen mit Differentialgleichungen, vielfachen Integralen, hyperbolischen Coordinaten und elliptischen Funktionen bedeckte. Ich selbst bin ein so guter Mathematiker, daß ich bei meinem Examen in der Philosophie beinahe durchgefallen wäre u. das heißt daß ich mehr wußte, als das erkenntnistheoretische System meines Examinators in sich aufnehmen konnte (Ich selbst bin ein sehr … Es genügt vielleicht noch nicht .. denn das ist ziemlich leicht erreichbar ..), jedenfalls glaube man mir, daß ich in den astronomischen Darlegungen meines Freundes – denn um solche handelte es sich – auch bei genauestem Zusehn keinen Fehler entdecken konnte und nun lasse man mich kurz – um das Ungeheure das mir damals begegnete zu würdigen – das unerhört sonderbare u. befremdende Resultat wiedergeben:
Man wird sich noch allgemein der Spannung erinnern, mit der in jenen Maitagen die Begegnung des angekündigten Kometen mit der Erde erwartet worden war. – Wenn die bis dahin angestellten Berechnungen stimmten, mußte ein direkter Zusammenstoß gerade noch knapp vermieden werden können aber die geringste Unrichtigkeit, die kleinste, übersehene Fehlerquelle konnte dabei genügt haben um die unvermeidliche Katastrophe bloß zu verschleiern. Der Druck einer schauerlichen Ungewißheit lag auf den Gemütern und noch nie hatte die Wissenschaft einen solchen moralischen Erfolg zu verzeichnen gehabt wie damals. Der Gelehrte rückte zum erstenmal in die Rolle des Priesters; an den kleinen, unverständlichen Zeichen, die sein Bleistift aufs Papier warf, hing eine Welt, man lief in die Observatorien der Astronomen wie in den Beichtstuhl u. fühlte zum erstenmal durch die Gehirne weniger auserlesener Männer, durch Instrumente, die wie fremde Thiere aussahen, durch unverständliche Symbole sonderbar aussehende Formeln und Worte einer geheimnisvollen, an das Rotwelsch der Apotheker erinnernden Sprache ein bis dahin von niemandem beachtetes, eigensinnig einsames, lautloses u. doch überwältigend reiches u. seiner Stärke sicheres Leben fließen. Dennoch – trotz der beruhigenden Versicherungen, die von dort kamen – fürchteten ängstliche Seelen, daß plötzlich ein riesiger, glühender Ball auftauchen werde, durch eine siedende Luft zischen und – das weitere ließ sich nur schwer vorstellen, müßte aber Ähnlichkeit mit dem Vorgang haben, wenn man einen schweren Feldstein aus Brusthöhe auf eine auf hartem Wege sitzende Kröte herabfallen läßt – oder sie glaubten doch wenigstens an einen Hagel kopfgroßer Meteoriten und langsam wie das Zögern von Wollust sinkende würgende Schwaden giftiger Blausäuredämpfe, vorsichtige Seelen aber spannten aus solchen Gründen einen Regenschirm über ihr Bett – weil man doch nicht wissen kann ob die Wucht eines Steines, der schon durch ein Dach u. mehrere Wohnungen hindurchgeschlagen hat, nicht doch bereits so geschwächt ist, daß ihn der Widerstand eines guten Schirms aus der Bahn zu lenken vermag, hat man doch gehört, daß schon Eisenbahnzüge in scharfen Kurven durch einen kleinen Kiesel dazu gebracht wurden aus den Schienen zu springen – und sie legten für alle anderen Fälle auch eine Flasche mit Sauerstoff sich zur Hand, – böse Seelen aber beteten zu Gott, daß er sie eine Viertelstunde länger leben lassen möge als alle übrigen, um irgend jemandem Zusehen zu können, wie er sich in verdienten Qualen winde, oder einer Sterbenden einen letzten Kuß auf die Stirn zu drücken, die sich ihn bis dahin verbeten hatte.
Und aus alledem wurde bekanntlich nichts als eine einzige große Enttäuschung. Tausend Operngucker, Feldstecher u vorsichtshalber geschwärzte Gläser, durchsuchten in jener denkwürdigen Nacht den Himmel, aber nicht nur daß es zu keiner Katastrophe kam, war von dem angekündigten Störfried überhaupt nichts zu finden und kein Sturm, kein übler Geruch, ja nicht einmal ein schnuppernder Sternfall kündigte seine Nähe, erst mehrere Tage danach behaupteten einige durch ihre Scharfäugigkeit berühmte Individuen am westlichen Himmel einen schwachen, verwirrten Schimmer gesehen zu haben, ungeheuer fern von der Erde, was aber die Astronomen betrifft, so hörte man sie nur mehr an ihrem Schweigen, dem ein unleugbar deutlicher Charakter von Verlegenheit nicht abzusprechen war.
Hier aber setzte die Theorie meines Freundes … ein.
Kurz gesagt so: Können die Grundgesetze der astronomischen Wissenschaft wirklich falsch sein? – Wir sahen einander einen Augenblick an. Wenn es sich um Logik gehandelt hätte, um Nationalökonomie, Theologie, oder gar um Ästhetik auf experimentell psychologischer Basis hätten wir einen Augenblick zweifeln können, der ehrwürdigen, auf Mathematik u. Physik gestützten Astronomie aber gegenüber? – Nein! Also sind die Schlüsse der Astronomen richtig gewesen, woher dann der ungeheuerlich blamierende Fehlschlag? Da gibt es nur eines: ist der Schluß richtig u. das Resultat falsch, so muß der Fehler in den Voraussetzungen stecken! Die Voraussetzungen betreffen aber erstens die Kraftgesetze, nach denen die Himmelskörper aufeinander wirken und einander ihre Bewegungen vorschreiben, – und hier haben wir jeden Zweifel ausgeschlossen –, zweitens enthalten sie Annahmen über die Größe u. wechselseitige Entfernung der für die Berechnung irgend eines Falls jeweils in Betracht kommenden Planeten voneinander, und diese Annahmen folgen ihrerseits wieder rechnungsgemäß aus den Bewegungsgesetzen, weswegen also auch hier unmöglich der Fehler stecken kann, – wo also? – wo?!! Haben sie es noch nicht erraten?! Es muß – und seine Augen funkelten selbst kalt u zitternd wie Sterne – es muß noch einen Himmelskörper in nächster Nähe der Erde geben, von dem wir noch nichts wissen, nur einige Millionen Kilometer von uns entfernt! Verstehen Sie?!! Bloß ein paar Millionen Kilometer und niemand wußte es bis heute! Aber hier … und da begann er fieberhaft seine Berechnungen auszubreiten.
Ich wagte nur noch schüchtern einen Einwand: Aber liebster .. wie kams, daß wir den noch niemals gesehen haben sollten? Er blitzte mich kurz an: selbstverständlich sind besondere Umstände vorhanden, die ihn unsichtbar machen, ich werde ihnen das später erklären – sehen sie nur … und er begann mit Zahlen.
Ich gestehe, daß mir der Verstand still zu stehen drohte. Er entwickelte mir alle Gleichungen der Himmelsbewegung u. leitete [?] daraus ab, was vor dem 18. Mai alle Astronomen abgeleitet hatten, den Durchgang der Erde durch den Schweif des Halley. Dann entfaltete er einen Stoß von Telegrammen u Briefen aus allen Observatorien der Erde u. konstruirte aus den darin mitgeteilten beobachteten Orten den wahren Weg des Planeten. Wir hatten zum Schluß 4 umfangreiche Systeme von Differentialgleichungen die uns die wahren sowie die fälschlich vorausberechneten Wege der Erde u. des Kometen darstellten und nun zeigte er mir, wie durch eine verwickelte Transformation die beiden Systeme sich ineinander überführen ließen, wenn – man in die bisherige irrtümliche Rechnung eine Konstante sowie eine bestimmten Gesetzen gehorchende Variable einführe und diese beiden Größen konnten nach der ganzen Situation nichts anderes sein als die Masse und variable Entfernung eines in den bisherigen Rechnungen nicht berücksichtigten und unbekannten Planeten.
X. war ein sehr bedeutend besserer Mathematiker als ich u. ich vermochte ihn nur