Robert Musil

Gesammelte Werke


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daß er ein Recht darauf hatte. Die unaufhaltsame Männlichkeit des jungen Menschen schnitt ihn ab und strahlend betäubte er ihn mit selbstverständlichen Gefühlen wie die blödsinnige Trauer eines Begräbnisses, wie das Blechgeklingel einer heiligen Handlung in der lächerlichen Zurichtung einer Landkirche, ihn mit einer gemeinen Halbtrunkenheit ansteckend, durch die er wie mit zwei Köpfen – beobachtend und erleidend – dahinkroch. Er, der früher viele und gewagte Beziehungen zu Frauen gehabt hatte, fühlte sich in diesen einfachen entmannt und sinnlich erregt nur durch maßlose Zuhältergefühle für diesen fremden jungen Mann, in dessen Welt er sich einzunisten trachtete, nachdem er seine eigene verloren hatte.

      Vielleicht hätte er ja zurückkönnen. Es wurde ihm, wo immer sie waren, manchmal schwarz vor den Augen, wenn er daran dachte; aber er biß die Zähne zusammen und bückte sich nieder. Wenn er dann nachhause ging, war er beklommen, als käme er aus lasterhafter Gesellschaft Und daß es ihm, auch nachdem er sich geistig aufgegeben hatte, nicht anders gelang, als auf eine intellektuelle Weise dumm und auf eine zusammengesetzte einfach zu sein, gab ihm ein seltsam höhnisches Gefühl von sich und seinem Leben. Er ging mit eiskalten Füßen und brennenden Ohren, der Geruch und Lärm auf der Straße sog ihn an wie weiches Fließpapier einen Tropfen, es war nichts von ihm geblieben, kein Freund, kein Werk, kein Erfolg, in der Stille der gegeneinander brüllenden Kräfte fühlte er sich geheimnisvoll und unwahrscheinlich verschwinden. Aber vor einzelnen ihn kreuzenden Menschen, Wagen, einem Pfeiler – festen Dingen mit einer Lebensaufgabe – erschrack er immer von neuem, zurückgerufen und voll schlechten Gewissens. Und wenn er zuhause angekommen war, stellte er sich ans Fenster und sah weiter auf die Straße.

      Wartete auf die Dienstmädchen, die in ihren Kattunkleidern rasch noch querüber durch den Regen etwas besorgen liefen, und hatte nichts anderes, worauf er warten konnte. Zuweilen – so allein mit seiner Taschenuhr und dem leisen Knarren seiner Schuhe, wenn sich der Druck seines Körpers ein wenig anders verteilte – fiel ihm mit einemmal ein, daß man ihn von unten sehen werde und daß seine ewig gleiche, reglose Erscheinung hinter den dunklen Fensterscheiben Mißtrauen erregen könnte. Aber das Zimmer hinter ihm war wie eine vollständige Leere. Er wußte, riß er sich vom Fenster los und ging an den Tisch und machte Licht, so stand er gegenüber dem Nichts. Und so oft er glaubte, daß unten ein Kopf sich hob, erschrack er, obgleich es rings um ihn dunkel war, von neuem und fühlte sich selbst vor diesen gesunden Mägden unterworfen und ihren Freunden, den Kaufmannsgesellen, Schlächtern und jungen Briefträgern. Dann dachte er, um sich die Zeit zu vertreiben, an Toronto, sehnte sich nach seiner Unternehmungskraft und malte sich Abenteuer aus.

      Er zitterte, als er einmal plötzlich auf dem Flur Torontos Stimme hörte, wie vor einem märchenhaft erwarteten Besuch. Es war nachmittags, Grauauge fühlte sich nicht ganz wohl und war nicht bei Tisch gewesen. Toronto lachte, er hatte Tripodo und Nikotakopulo mitgebracht und zog ein Spiel Karten aus dem Mantel. «Wir wollten nach ihnen sehen»; dann musterte er das Zimmer. Bisher hatten sie sich nur auswärts getroffen – ein Eindringen Grauauge war das unangenehm, er fühlte sich ertappt und bloßgestellt, als ob ihn dieses gleichgültige Zimmer hätte verraten können; unbestimmt wartete er auf etwas. «Was für einen schönen Zigarrenspitz sie haben», sagte Toronto, «ich habe sie doch noch nie rauchen gesehn?» «Früher,» antwortete Grauauge. Es gehörte zu seiner Askese, zu den Gewohnheiten, von denen er das Gefühl hatte, daß er sie sich nicht mehr gestatten dürfe, und es ergriff ihn, daß Toronto sofort auf diese Spur seiner einstigen Männlichkeit gestoßen war.

      Sie spielten, das schmale Zimmer füllte sich mit Lärm und Rauch, Nikotakopulo erzählte mit seiner fettheiseren Stimme in den Pausen schmierige Geschichten. Grauauge kam sich um zehn Jahre zurückverschlagen vor, da gab es Kameraden und manchmal solche Stunden. Er war nicht zimperlich und hatte seinen Teil Schmutz auf den Fingern gehabt, in jungen Jahren, aber heute wollte es ihm nicht mehr gelingen. Es war nicht Moral, sein Gehirn gab bloß diese Gedankenverbindungen nicht mehr her, und mit einemmal fiel ihm ein, es war seine Arbeit. In der Lade des Tischs vor seinem Platz lag ein letzter Packen Blätter, den er noch nicht vernichtet hatte, Menschen tauchten auf mit Stirnen und kühlen Augen, Freunde, Genossen, eine Gemeinschaft, aus der er sich ausgeschlossen hatte. Er sah zu Toronto hinüber. Dessen Freude war wie etwas Übertriebenes gewichen, er blickte, ernst in seinen Stuhl gelehnt, auf die Karten und eine kleine, alltägliche Ärgerfalte saß zwischen seinen Augen. Wenn er die Stiche einholte, bewegte sich seine Hand wie das runde Kreisen eines Torflügels, der sich schloß. Ein kindliches Handfaßgefühl beschlich Grauauge. Toronto fühlte sich gleich ihm in diesem Augenblick unwohl und würde ihn befreien. Hinter der niederen schönen Stirne bereitete es sich vor; er hätte sie bewundernd küssen mögen. Er antwortete jetzt Tripodo und dem andern lebhaft, rasch, zwischen ihre Scherze eingekeilt mit ihnen dahinlärmend, und hatte seitlich ein Bewußtsein von dem sich verfinsternden Anblick Torontos, als ob er ihn nur durch einen schmalen Augenspalt sähe. Dann vermochte er, sich mit dem Gedanken zu quälen, daß er Ehrfurcht empfinde und daß Toronto in seiner jetzigen Lage für ihn das gleiche bedeute, was er einst selbst für andere gewesen war. Eine fremde uneinsichtig gesetzte Ordnung wehte körperlich zu ihm herüber, er bemühte sich einzuschieben, daß ihre Zusammenhänge gute seien und wenn es gelang erlebte er in bitterer Demut den verschüchternden Eindruck des Genies, den er aus einem harmlosen jungen Mann zu erzeugen vermochte.

      Endlich legte Toronto die Karten hin und machte dem Spiel ein Ende. Er tat es so klar und melancholisch, daß niemand gleich widersprach. Dann beklagte sich Tripodo ärgerlich und ein wenig, aber Toronto ließ ihn abgleiten. Nikotakopulo empfahl sich und während er sich anzog, entschloß sich auch Tripodo zu gehen. Als sie fort waren, sah Toronto eine Weile auf die Tür, dann zuckte er ärgerlich die Achseln und sagte: «Wissen Sie, dieser Grieche ist ein schmieriger Mensch, – so alt und solche Geschichten! Und Tripodo ist ein guter Bursch, aber er ist kein Kopf. Sie sind glaube ich ein Kopf!» Grauauge antwortete nicht. «Sie sind – aber habe ich nicht ein Talent so etwas zu erraten? Wissen Sie, ich habe so etwas Psychologisches, – Sie sind ein Kopf? Sie stellen sich bloß anders!» Beide schwiegen. «Ach, Grauauge,» sagte endlich Toronto, «ich bin ein schrecklich verurteilenswerter Mensch,» und seufzte schwer. «Aber wissen Sie, wir Italiener haben solch ein unbezähmbares Temperament. Sie werden das gar nicht verstehen, Sie mit ihren kalten Fischaugen.»

      Eine Zimmerpalme spreitete neben Grauauge auf einem schmalen Ständer reglos in einer unabsehbaren Öde ihre Blätter; die Vorstellung, daß das ein lebender Körper sei, erfüllte ihn plötzlich mit einer unbestimmten, unheimlich erregenden Lebensmöglichkeit. «Sie ist ein erhabenes und edles Geschöpf,» sagte Toronto, «und ich bin ihrer nicht würdig.» Grauauge fühlte, daß er sich ihm zu eröffnen begann; er schwieg und zitterte in den Knien. «Ich bin ihrer nicht würdig,» wiederholte Toronto. Wie ein zäher Pflanzensaft wand sich die Erwartung von Torontos Liebesschicksal bis in Grauauges Arme; ein neues wuchernd sinnloses Leben begann ihn zu füllen. Toronto sagte: «Sie sollen sie kennen lernen. Sie sollen mir beistehn. Ich habe es ihr gesagt. Sie sind der einzige anständige meiner Freunde, dem ich mich anvertrauen kann.»

      So gingen sie zu Frau Bertha. Es war kalt und neblig; sie gingen immer in der gleichen krystallinisch matt um sie geschliffenen Feuchtigkeit dahin, die sie nur einander sehen ließ, während die nächsten Gegenstände schon verschwammen. «Sie ist so gut,» klagte Toronto, «ich bin für sie Italien, Rom, wissen sie, der Süden. Sie hat so viel gelitten; sie ist älter als ich. Aber sie müssen mir schwören zu schweigen! Sie hat sich von ihrem Mann getrennt; vor vier Jahren, sie mußte. Sie verstehen das, Grauauge? Eine Frau wie sie konnte nicht mit einem solchen Mann …, sie war eine Dulderin. Ein Scheusal von einem Mann, ohne Phantasie, ohne Ideale, ohne Feuer! Sie mußte ihm ihr Kind lassen und er läßt sich nicht scheiden.» «Sie sind für sie geschaffen,» antwortete Grauauge, «sie strahlen Gewißheit aus!» Er schmeichelte in diesem Augenblick beinahe ohne Hinterhältigkeit. Aber es war nicht das, was Toronto meinte. «Ich bin zu jung,» seufzte er, «ich habe noch keinen Charakter.» Sie waren an das Haustor gelangt. Grauauge blickte rasch aufwärts, die Mauer entlang, es war ein gewöhnliches Haus mit Karyatiden und über den Fenstern geschwungenen Gesimsen. Im Innern führte sie eine breite Holztreppe mit bauchigen Geländersäulchen und einem Läufer aus Mattenstoff, dessen Farbe Grauauge an die Palme seines Mietzimmers erinnerte, zwei Stockwerke empor. Dort stand an einer einzigen großen Tür: Medinger. Als das Dienstmädchen geöffnet hatte, ging Toronto rasch hinein und Grauauge, der seinen