hatten und erinnerten einander an diese und jene Einzelheit und wie sie gleich damals alles gespürt hatten. Frau Medinger wußte genau, daß an solchen Tagen Toronto den Wunsch hatte sich und sie in zärtliche Stimmung zu bringen, diese Absichtlichkeit beleidigte sie und doch unterlag sie selbst jedesmal wieder der Lockung dieses trag süßen Erinnerungspiels. Mißtrauisch empfing sie seine Liebkosungen, witterte in ihnen neue Gewohnheiten, die er sich bei Kokotten angeeignet haben mochte, obwohl sie von solchen nur eine sehr unklare Vorstellung hatte, und die Wollust keuchte in ihrem großen widerstrebenden Körper wie ein schweres Pferd, bevor sie ihn bewegte, (es ihr gelang ihn in Bewegtheit zu bringen) Hinterher fühlte sie sich gedemütigt; aber weil der Zufall sie solang warten lassen und verschüchtert hatte, bis er ihr diesen einen Menschen brachte, oder weil sie festsaß auf einem Vorurteil von Scham und Stolz wie ein Meertier auf seinem Stiel, brachte sie es nicht über sich ihrem Geliebten etwas entscheidendes zu sagen und dachte an keinen andern, sondern verachtete Torontos unbeständigen Charakter, liebte ihn noch in solchen langen ahnungsschweren Stunden und verursachte bloß wegen irgend einer Äußerlichkeit manchmal einen derben Auftritt; denn sie wäre zu gern nichts als gut und glücklich gewesen.
Zuweilen kam sie in Grauauges Zimmer, wenn er nicht zuhause war, und suchte nach Beschädigungen der Möbel, nach liegengelassenen Briefen, vergessenen Haarnadeln, in der uneingestandenen Hoffnung etwas zu finden, das sie in die klare Notwendigkeit versetzen würde, ihm zu kündigen. Allein das Zimmer sah wie unbewohnt aus und statt beruhigt zu sein, fühlte sie einen unbestimmten Argwohn dadurch neu gewachsen. Einmal bat sie sogar Toronto, mit ihr das Zimmer zu durchsuchen. Grauauge hatte sie beim Weggehen zum erstenmal gebeten gehabt, ihn am nächsten Morgen nicht zu wecken. Sie öffneten seinen Schrank und durchstöberten seine Sachen, öffneten seine Laden und den Koffer, aber sie fanden nichts außer den Spielkarten, harmlosen Büchern, Wäsche und Kleidern. Erst als sie schon zu Ende und wirklich enttäuscht waren, bemerkte Toronto noch eine große graue Mappe, die an der Wand unter dem Fenster lehnte. Als sie sie aufmachten, sahen sie japanische Farbendrucke und allerhand Radierungen und Frau Medinger fuhr plötzlich, nachdem sie das erste Blatt begriffen hatte, mit rotem Kopf zurück, hielt sich schutzsuchend an Torontos Arm fest und schob vorsichtig das Gesicht wieder über seine Schulter nach vorne. «Pornographien», erläuterte T. bedeutungsvoll. «Solch ein Schwein!» sagte Frau Medinger; «Du wirst sehn, wir bekommen es seinetwegen noch mit der Polizei zu tun.» Als Grauauge seine Bücher verkauft und seine Manuskripte verbrannt hatte, waren diese Blätter das einzige, was er behielt; in der Tat nicht wegen ihres Kunstwerts, sondern wegen ihrer Geschlechtlichkeit und das hatte seine Gründe. «Na,» meinte Toronto, «so was kommt doch mal vor; ich müßte ihn doch wirklich einmal kennen lernen … Wenn ich bloß mehr Zeit hätte», fügte er seufzend hinzu. Und er klopfte seine Geliebte beruhigend hinter die Hüften, blätterte allgemach weiter und versuchte ihr den Arm um die Mitte zu legen. Sie stieß ärgerlich seine Hand weg und so standen sie eine halbe Stunde lang nebeneinander und sahen (eingehend) Grauauges Zeichnungen an.
Grauauge kam dem Wunsch ihn kennen zu lernen zuvor. Es war schon weit im Herbst, es regnete viel, auf dem glänzenden Asphalt schwammen gelbe Blätter. Die Tage glitten neblig dahin und schon gegen fünf Uhr begannen sie leise zu zerrinnen. Um sechs Uhr zitterten die Lichter der Laternen feucht in langen Reihen. Frauen gingen mit höher gehobenen Röcken als sonst. Sie tauchten unmittelbar vor den Augen auf, so daß man erschrocken in die Kugel ihrer Ausdünstung geriet, und schon verflossen sie wieder in dem allgemeinen Geruch von feuchter Luft und unbekannten nassen Kleidern. Es war der erste Herbst, wo Grauauge nicht arbeitete; er quälte ihn.
Einmal nachmittags klopfte er kurz und trat bei Frau Medinger ein. «Würden sie und ihr Gemahl gestatten –» «Ich habe keinen Gemahl,» unterbrach ihn Frau Medinger. «Würden Sie gestatten,» sagte Grauauge, «daß ich manchmal ihre Gesellschaft suche; ich fühle mich allein.» «Aber was machen sie dann den ganzen Tag?» forschte Frau Medinger kühl, «Haben sie keine Freunde?» «Nein keine», antwortete Grauauge. Aber dann spürte er plötzlich die leise Wollust, dieser Frau, die ihn bestimmt nicht verstehen konnte, von sich zu erzählen und er fuhr fort: «Ich bin gezwungen, nichts zu tun als zu leben. Das ist gar nicht so leicht. Denn sehen sie, die Wahl eines Huts zum Beispiel, – ich meine, ich will mir einen Hut kaufen, – oder ein Spaziergang. Wohin soll man gehn? Man kann natürlich überall hingehn; aber das ist es ja gerade. Oder sie gehn nun wirklich und irgendein Mensch stößt sie, entschuldigt sich nicht und beschimpft sie: wie sollen sie ihm antworten. Er trägt ein Siegergefühl über sie davon, wenn sie es nicht rasch tun, einfach weg. Gerade mit Menschen ist es sehr schwer ….»
Frau Medinger blickte ihn geringschätzig an und er brach mit einemmal hart ab. «Ich war früher der bestimmteste Mensch, den sie sich denken können.» Dann setzte er entschuldigend hinzu. «Sie werden das gewiß albern finden. Sie wollen gewiß nicht erst eigens leben, sondern immer irgend etwas Deutliches und leben um es zu erreichen ganz ohne es zu merken. Wem aber die innere Bestimmtheit abhanden gekommen ist, der hat ein zarteres Gewissen …»
Er lächelte gezwungen; es sah aus, als tue er es, weil er bestimmt erwartete, daß Frau Medinger lächeln werde. Als sie ernst blieb, wurde er verlegen und fing ohne Besinnen wieder zu sprechen an. «Eine Aufgabe natürlich vereinfacht das Leben. Gerade so wie ein Charakter. Ich meine, ein Charakter ist, wer in ganz bedeutungslosen Fragen weiß, was er zu tun hat. Vielleicht ist das nur Übung, Gewohnheit, – meinen Sie nicht? Ich aber, wissen sie, habe früher viel gearbeitet. Und darin liegt eine ungeheure Verweichlichung. Wie eine Seiltrommel ein Seil rollt so eine innere Aufgabe das Leben auf sich herauf und richtet unerbittlich jedes heran kommende Stück in die Linie ihres Zugs. Man hat eine Theorie von sich; jetzt aber wächst alles regellos zu einem Dickicht in die Quere.»
«Warum jetzt?» fragte Frau Medinger.
«Weil man ohne Theorie von sich – ohne eine Vorstellung was man zu sein glaubt – ganz seinen Trieben überlassen ist und – nämlich ohne Theorie von sich hat man auch keine ausgeprägten Triebe. Man fühlt, diese kurzen Tage sind wie verhangene Kammern, aber .., was soll man tun ..?»
Frau Medinger dachte plötzlich an die Stiche, die er verwahrte – er sprach das Wort Triebe so seltsam aus – sie sah ihn ruhig und mißbilligend an. Sie fühlte unklar, daß dieser Mensch etwas von ihr wollte und ihr Dasein damit noch mehr beschweren würde. Grauauge blickte ihr geradeaus in die unfreundlichen Augen und fühlte sich leise davon erregt. Er dachte an den Tag, wo er bereits entschlossen gewesen war, sich zu töten. Er stand abends im Dunkel des Hauseingangs, sein Körper war von den Aufregungen des Entschlusses erweicht, draußen surrte die Straße; widerstandslos zog sie ihn hinaus. Grob und heiter war sie, stieß ihn und trieb ihn. Mit der Gebrechlichkeit des geistig zerarbeiteten Menschen und dem Bewußtsein, das Recht darauf verloren zu haben, ging er mit. Der Reiz war neu und heftig; es war abenteuerlich, so zu leben. Seine Auserwähltheit war zu Ende, kleine Notwendigkeiten, Nebenfähigkeiten, die ein solches Werk fordert, fehlten. Noch zitterte in ihm die fast dämonische Plötzlichkeit, mit der der Glaube an seine Sendung zusammengebrochen war. Es sollte nichts von ihm bleiben, kein Werk, kein Freund, kein Erfolg, der Geruch und Lärm ringsum sog ihn an wie weiches Fließpapier einen Tropfen, in der Stille der gegeneinander brüllenden Kräfte der Straße verschwand er wie in einem Haus, wo ihn niemand kannte. Eine unbestimmte Vorstellung von versagten Handlungen, die jetzt nichts mehr in ihm beaufsichtigen würde, verführte ihn, noch eine Weile unterwasserspiegelhaftgleitend zu leben.
Frau Medinger nahm sich zusammen und sagte: Vielleicht sollten sie nicht so in den Tag hineinschlafen, das ist nicht nur häßlich, sondern auch ungesund. Dann sah sie ihn erstaunt an, weil er lange nicht antwortete.
Als Toronto kam, erzählte sie, daß der Zimmermensch viel und sonderbar spreche u. wiederholte ihm alles. Als sie der Bitte erwähnte, die Grauauge hergeführt hatte, meinte Toronto «Ich werde ihn auffordern es wird dich zerstreuen.» Er war auf den blassen Menschen, den er schon ein paar mal auf der Treppe gesehen hatte nicht eifersüchtig. Aber Frau Medinger, die durch seine Gleichgültigkeit gekränkt wurde, rief jetzt: «Es ist etwas nicht in Ordnung mit dem; das könnte ein Lustmörder sein gib acht – aber das ist dir ja egal.» Er mußte sie erst besänftigen. Als er bei Grauauge eintrat, traf er ihn in der Dämmerung. Grauauge machte kein Licht; «vom Sehen kennen wir uns ja schon» sagte er. Toronto fühlte sich verpflichtet, etwas Aufklärendes zu erwähnen «Wir sind schon sehr lange miteinander befreundet