Robert Musil

Gesammelte Werke


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stand nicht gut in der Pension. Er wohnte außerhalb und kam nur zum Speisen. Oft saß er mit ganz unbeteiligtem Gesicht, wenn alle andern über einen Scherz lachten. Und manchmal lächelte er, wenn er selbst irgend etwas gesagt hatte, und kein Mensch verstand, wo daran ein Witz gewesen sein sollte. Meistens lächelte er aber nur aus Liebenswürdigkeit und oft viel zu spät, was diese Leute für ein sicheres Zeichen von Dummheit hielten. Es gelang ihm nicht, in diesem untergeordneten Kreis auch nur jenes Mindestmaß von Achtung zu gewinnen, dessen Fehlen jedesmal eine fahrlässige Beleidigung ist. Frau Schirmer ließ nie die Mädchen bei ihm mit der Bedienung beginnen, und nie richtete sie ihr Wort an ihn; wenn ihn aber einer der andern ansprach, sahen ihn alle an, als warteten sie auf etwas sehr Komisches. Das geschah, trotzdem er sich höflich und keineswegs lächerlich benahm. Es war böser Zufall. Er hätte, um ihm auszuweichen, bloß ein andres Haus zu suchen brauchen; allein er kam ihm seltsam genug vor um zu bleiben. Er schlief unsicher und hatte oft in den Nächten die Empfindung von tastenden Augen, die wie ein Haufen Kerbtiere rings um ihn lebendig waren; mittags aber faßte ihn zuweilen ein plötzliches Abströmen seiner Gedanken, wie ein ungewisses Bild in diesem dunklen sich leerenden Trichter schien er seine Lage wiederzuerkennen und etwas wie Traum schlug in ihm auf, Abersinn, Schläfrigkeit, während er reglos spürte, wie unfreundlich man ihn betrachtete.

      Bloß Toronto erwies ihm von Anfang an ein kleines, wohlwollend lustiges Interesse. Er sagte: «Dieser Grauauge ist ja nicht sehr geweckt, aber er hat etwas Zuverlässiges.» Und vor ihm sagte er: «Grauauge, seien sie lebendiger!» Oder: «Was haben sie nur in ihrer Mappe, die sie immer ans Fenster legen; ich glaube gar, sie sind ein heimlicher Philosoph.» Und: «Grauauge, haben sie schon je eine Frau geliebt? Wie ist das für sie? Kommen sie doch einmal mit mir, wir wollen bummeln.» Grauauge aber hielt an sich, zwang sich mit Willen in einen gleichen Ton, errötete über das Ungeschick, das er dabei zeigte, und mußte deshalb darüber nachdenken, welche von diesen Frauen wohl Toronto’s Geliebte sein mochte, denn er fühlte wie einen fremden, in ihn noch nicht ganz hineinpassenden Reiz die Hingabe, die Toronto durch seinen Sieg über ihn in ihr erwecken mußte.

      Es war schon weit im Herbst, als Grauauge die Gesellschaft Eugenio Toronto’s zu suchen begann. Er wußte nicht warum; seine Nähe tat ihm unbestimmt wohl. Es regnete viel. Auf dem glänzenden Asphalt schwammen gelbe Blätter. Die Tage glitten neblig dahin und schon gegen fünf Uhr begannen sie leise zu zerrinnen. Um sechs Uhr zitterten die Lichter der Laternen feucht in langen Reihen. Frauen gingen mit höher gehobenen Röcken als sonst. Sie tauchten unmittelbar vor den Augen auf, so daß man erschrocken in die Kugel ihrer Ausdünstung geriet, und schon verflossen sie wieder in dem allgemeinen Geruch von feuchter Luft und unbekannten nassen Kleidern. Es war der erste Herbst, wo Grauauge nicht arbeitete; qualvoll in einer Weise, die er sich vordem nie vorgestellt hatte.

      Die einfachsten Überlegungen wuchsen zu einem Dickicht in die Quere, durch das es kaum ein Vorwärtskommen gab. Die Wahl eines Hutes oder eines Spaziergangs, die der Antwort auf eine Beleidigung, deren Siegergefühl ein davongehender Mensch auf der Straße mit sich nimmt, alles war überaus schwer und stockte lange nach. Grauauge erkannte erst jetzt, welche Verweichlichung in dem Wissen um eine Arbeit lag. Wie eine Seiltrommel ein Seil rollt sie das Leben gleichmäßig auf sich hinauf und richtet unerbittlich jedes herankommende Stück in die Linie ihres Zuges. Jetzt aber war er geistig ein Kridatar, ein Abgeworfener. Der jahrealte Glaube an seine Sendung war fort. Zufällig, in diesem Sommer, beim Lesen einer Zeitungsnachricht, war mit einemmal die Gewißheit emporgesprungen – listig hatte sie sich unterirdisch wohl schon längst angeschlichen gehabt es geht nicht, Du kannst es nicht.

      An der Sache schien ja alles unverändert. Seit den Tagen, wo der Wissenschaft große Erfolge zuzufallen begannen, hatten sich die Anstrengungen aller Lämmerlinge vervielfacht und heute ging die von ihnen aufgerührte Wolke von Ahnung, Verdächtigung des denkstarken Menschen, Anmaßung, Bedürfnis nach ungenauen Tröstungen, Seelenkuckucksheimen und allen Arten kostümierter Gefühle hoch über alle Köpfe. Die Phantasie war durch die Angst vor der Mathematik verdorben worden, eine Sache der Schwächlinge, und wo das Wissen aufhörte, fing heute die Oper an. Grauauge glaubte es wie in der ersten Stunde, wo seine Aufgabe vor ihm stand, einen Menschen mit vollständig umgeordneten Gefühlsvoraussetzungen zu begründen. Er hatte keinen Augenblick lang die Schwierigkeiten verkannt, aber wie ein Mensch, der weiß, daß er eines Tags mit einer fertigen Tat heraustreten wird, bereitete er sich auf sie vor; beweisen mußte er seinen zukünftigen Menschen, unwiderlegbar hatte er ihn machen wollen. Solche jahrelange Willenskraft war in ihm. Noch war es freilich nicht überall gediehen, dies oder jenes konnte man einwenden und allerdings war da überall auch schon ein Weg gewesen, ein Weg nämlich, neu – aber es ist ja gleich: es kam der Tag, wo ihm die Gewißheit einging, daß sein Vermögen doch nicht ausreiche, daß es ihm da und dort an Kleinigkeiten fehle, die er nie einbringen werde, gerade weil sie eigentlich in gar keinem innern Zusammenhang mit seiner Aufgabe standen, vielleicht an der Kraft alles zu lesen, an treuem Gedächtnis, an irgend etwas jener zufälligen persönlichen Zusammensetzung, die außer der Ideengewalt zu einem Menschen des großen Umsturzes nötig ist – und das Bewußtsein kam, diese Zeit wird gehen, über dich hinweggehen, alles wird auch ohne dich werden, was in deinem Hirn vereint war, wird sich irgendwann aus mehreren zusammenfinden und andere werden es tun.

      Mit diesem Augenblick begannen für ihn die moralischen Schwierigkeiten. Grauauges Wesen hatte sich in all der Zeit mit zweckmäßigster Anpassung seiner vermeintlichen Aufgabe untergeordnet gehabt und seine Eigenschaften blieben, seit dieses Lebendige aus ihnen herausgestorben war, sinnlos und löchrig schlecht aneinandergewachsen zurück. Die Eigenschaften aber, mit denen jeder Mensch für das gemeine zwecklose Leben ausgerüstet zu sein scheint, waren in ihm längst verkümmert. Er hatte keine Lust an Vergnügungen, keinen Stolz ein Charakter zu bleiben keine allgemeinen Interessen, jedes Geschick zu persönlicher Geltung und Freundschaft ging ihm ab, er erregte keine Sympathien und empfand keine. Ihm, der eine Schere war, die hindurchgehen hatte wollen, fehlte jedes der krausen Häkchen von Neigung und Abneigung, mit denen sonst die Natur die Menschen untereinander zu einem Gewebe verfilzt. Er fühlte, daß ihn nichts Wesentliches hinderte, zu stehlen, zu lügen oder sich dafür verachten zu lassen. Und wenn ihm auch dieses Bewußtsein allein nicht schon unangenehm war, litt er doch durch die Unbeschränktheit, die darin lag; denn vor Geschehnissen, wo jeder Mensch, der eine Theorie von sich besitzt, gewußt hätte, was sie verlangt, arbeitete er sich in einer Unordnung und Weite ab, die durch nichts vereinfacht wurde.

      Trotzdem mußte er ohne Zögern ein Mensch sein und sich in Reih und Glied ordnen. Er hatte oft in diesem feuchten, langen Herbst das Verlangen nach einer Geliebten; sie hätte es ihm erleichtert. Er überdachte manchmal die Frauen in der Pension. Aber wie konnte er, der selbst nichts war, nach einer Frau ausschauen? Nur die Bedürfnisse waren geblieben, die kräftige Verdauung, die Eßlust, die Geschlechtlichkeit; an seinem von innen klein gewordenen Körper hingen sie in den natürlichen Dimensionen des Mannes. Er schämte sich, wenn er sie befriedigen mußte. Und er litt unter der Vorstellung, das gar nicht verheimlichen zu können; er fühlte, daß alle Frauen es wußten, mit denen er täglich zusammenkam (wußten, daß er an sie dachte), sie verfolgten ihn deswegen. Ihn aber zog das zu ihnen, wie ein kleines Hündchen zu großen weiblichen Hunden. Seine Wesenlosigkeit wurde dadurch faßbarer und gewann wenigstens an einer Stelle den Anfang eines Umrisses. In seinem Unglück hob sich ein neuer Zusammenhang ab, dämmrig, unterwasserspiegelhaft; er war nicht zwischen diese Leute gesunken, sondern unter sie. Dieser Reiz war neu und heftig. Er erinnerte ihn plötzlich an den seiner ersten Lüge als Kind, mit einemmal war alles sonst Klare und Langweilige verhängt und sinnlich; und später an den seines ersten Gangs durch geduckte Gäßchen, zwischen Tag und Abend, Rauch stieg aus den Schornsteinen niedriger Häuser, eine Drehorgel spielte, Kinder wälzten sich auf dem übeldunstenden Pflaster, Soldaten handelten an den Türen; und in ihm öffnete sich eine große abenteuerliche Welt Die Sicherheit war in ihm, daß man hier irgend etwas Heimliches tun werde.

      Er kroch dem manchmal tastend nach und wurde gewahr, daß es an den Höhepunkt kam, wenn Toronto in der Nähe war. In der Pension oder ob sie hinter den Spiegelscheiben eines Kaffeehauses saßen und auf die Frauen paßten, die im Nebel, für einen Augenblick angeleuchtet, an dem Glas wie hinter den Wänden eines Aquariums vorbeiglitten. Toronto war zweiundzwanzig Jahre alt und nahm sie alle schon in der bloßen Möglichkeit für sich. Es war, obwohl es sich bloß um Gedanken handelte und auch