Robert Musil

Gesammelte Werke


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sein, sagt er sich, er muß der Umfassende bleiben. In Amsterdam zu Hause wie in Rom, niemand ernst nehmend, alles vernichtend. Vorbild von Romanen, nicht Romane schreibend, in einem kleinen Erlebnis mehr als eine Generation von Dichtern, stets sich dessen bewußt. Poseur. Warum Poseur? Betrügt sich um alles. Und handelt doch scheinbar richtig. Wieder die Breite, die fehlt. Er wird kleinlich hinterhältig, weil sie ihm fehlt und weil er mit Gewalt sein Ziel spielen will. Könnte er es in Wirklichkeit überhaupt erreichen? Er ist kaum anzugreifen, so haarscharf geht er am Rechten vorbei.

      … Zum Schluß haben Marsilius u. A. das Bedürfnis für einige Zeit voneinander befreit zu sein. Und wie M. zum erstenmal das südliche Meer vor sich hat, atmet er weit auf, er fühlt wie er über A. hinauswächst, indem er zu sich selbst findet. Dasselbe fühlt aber A. unter dem feuchten, über die Ebene heraufkommenden Himmel Hollands. – Recht haben nur Sonne, Wind und Regen.

      Gesichtspunkt

      Das Problem Eberle-Marsilius usw. hängt zusammen mit der Schwierigkeit letzter Begründungen von Werten. Worüber ich mit All. anläßlich Kochalskis sprach. Dieser Mensch hat Erfolg, wird verwöhnt, behauptet jedenfalls beim Spiel intensive Empfindungen zu haben und in anderen zu erzeugen. Ich sagte, diese Empfindungen seien nichts wert. Warum? Weil zum wertvoll-Emotionalen immer die Verflechtung mit Intellektuellem gehöre. Wie aber, wenn er sehr abgestufte, mannigfaltige Gefühle hat, sie hat, ohne darüber reden zu können? Es ist also auch hier die Frage, wieviel die Gefühle geistig stummer Menschen wert sind.

      [Ein luetischer Dichter]

[Ohne Titel – 1907/08?]

      Ein luetischer Dichter fühlt die Paralyse sich ihm nähern. Seine Frau, mit der ihn einstens feinste Dinge verbanden, begann eben von ihm sich abzuwenden, wie feinste Dinge eben vergehn …

      Einer, dem eine Gehirn od Herzerkrankung droht u der sich nicht schonen darf.

      Der Hausarzt: es kommt, unvermeidlich, aber wir können ihm sein Leben verlängern, Aufregungen ersparen, ihn über seinen Zustand täuschen

      Er: Ich fühle mich so stark, Einfälle überströmen mich, ich habe Angst, daß ich wahnsinnig werde. Daß ich es weiß u davon spreche, nicht wahr, das hat nichts dagegen zu bedeuten. Nur eines hält mich, mein Denken geht nicht ins Extreme, eine Philosophie der mittleren Linie, es ist alles so einfach, ich begreife nicht, wie man es nicht sehen kann (Indiv. – Egoism usw. vielleicht in unbewußtem u doch causalem Zusammenhang mit seinem häuslichen Problem)

      Aber wenn ich krank werde, ich will nach Österreich, dort sind die Menschen weicher, sonst nichts. Nicht wahr die hütende [?] Wittwe des Großen ist mir unsympathisch, sorge, daß ich gut gehalten werde, wenn ich nicht vorher kann, und nimm Dein Leben auf – Der Freund: ich will nicht teilen. Schließlich seine Schuld (ein Guter wird bös, gedrängt von sich)

      Der Frau wird durch die Krankheit das Problem erschwert .. Schließlich (in Concurrenz von: man muß ihn über sich bestimmen lassen und von: ich will freien Weg) sagt sie ihm seinen Zustand. Auf das Ausbruch, lichter Moment, Gift – Sie mit allen Fasern noch einmal an ihm hängend, höchste Steigerung u sinkt dann dem Freund in die Arme, (owohl auch der Arzt anwesend wäre)

      Verknüpfen eventuell mit Problem der Wahl zwischen zwei Menschen wie A u ich – Imponderabilien. Einst warst Du mir lieber, aber ich weiß nicht, nichts hat sich geändert nur ein Unwägbares strömt – von einem zum andern, .. von Dir fort

      Letzte Aufrichtigkeiten. Es gibt keine größere Tragik als Kranksein u sterben.

      Der Unproductive: Ich kann für Dich mehr sein als er (der Productive)

      Der Doktor macht ein ärgerliches Gesicht, sieht dann auf den Toten und wird von freundlicheren Gedanken erfüllt.

      P. A. und die Tänzerin

[Um 1908]

      Eine Dame in der vierten Reihe konnte das Ende eines Privatgesprächs nicht finden. Ein junger Herr hinter ihr neigte sich ungeduldig vor und zurück, der Abwechslung wegen dann auch von links nach rechts. Aber die Tänzerin, die aus den Büchern des «P. A.» vorlas, hatte schon zwölfmal das Wort edel ausgesprochen und achtmal das Wort exzeptionell, als die Dame noch etwas Wichtiges zu sagen wußte und erst dann verstummte. Danach war einen Augenblick Stille; dann stieg langsam wieder eine Unaufmerksamkeit an die Oberfläche. Selbst jener junge Herr, der mit dem liebenswürdigsten Gesicht zugehört hatte, wurde ärgerlich. Vorlesen kann sie nicht, dachte er. Dann: Sie ehrt Peter Altenberg mit einem feierlichen Hochdeutsch wie ein Dienstmädel, das ein nobles Verhältnis hat. Wie ein Dienstmädel? –: wie ein bescheidenes, gütiges Dienstmädchen, würde P. A. sagen. Na ja.

      Dann jedoch tanzte sie. Und gewiß gab sie auch da nicht eine Kritik der reinen Vernunft mit den Beinen und nicht die Fußnoten von Diels zu den fragmentis veterorum stoicorum und ihre Schenkel waren nicht Klärbottiche dunkelster Seelengewißheiten wie die der Duncan. Sie tanzte vielmehr Variété; sie hatte prächtige Gewänder, liebliche Bewegungen und schöne Beine. Ihre Beine kamen manchmal aus den Gewändern hervor wie Artisten hinter dem Vorhang am Ende des Zeltes. Herzklopfen. Ein verschollener Geruch. Gelöste Haare, grüner Samt, Goldborten. Am stärksten aber doch der Geruch, der Geruch. Wenn man die Truhe mit den Winterkleidern Mamas und der Schwestern öffnete, stieg er auch dort, zugleich mit der Dunkelheit, die die Augen blendete, auf. Fortlaufen mußte man, sich hineinlegen, etwas rauben, ein kleiner Stallpage sein wollen oder wie ein brüllender Gorilla mit schlenkernden Armen auf diesen Geruch losgehn, der unwirklich zurückwich. Dann erst unterschied man die bekannten gutmütigen Rüschen und Röcke, Schweißblätter und Rauchwerk.

      Hier bekamen die Gedanken des Herrn eine philosophische Ausbauchung. Sehnsucht? Wie war es? Ich habe mich manchmal nach einem Glas Wasser gesehnt, wenn ich mich aber am tiefsten nach einer Geliebten sehnte, wollte ich keine wirkliche. Ich sah nicht plötzlich ein neues Ziel, ich sah überhaupt kein Ziel, aber ich wurde von einer stärkeren, herrlicheren, fremden Art der Erwartung durchströmt wie ein leeres leuchtendes Zimmer und man glaubt, es muß etwas eintreten. Man fühlt eine Wunderbarkeit des Empfangens, zu der es nichts Wirkliches gibt, das man empfangen könnte …. Die Tänzerin lockte seine Erinnerungen wie leises heißes Lampensummen langsam in seinen Gliedern empor. Die mit dem Geruch und dem Herzklopfen stammte von einem Zirkus in der Stadt Steyr in Oberösterreich. Er war damals ein kleiner Bub und konnte nicht begreifen, daß solche Wandermenschen ein gewöhnliches Familienleben führen; und wenn die Honoratioren der Stadt manchmal auf der Straße den Gruß der Direktorsleute erwiderten und sogar mit ihnen stehen blieben, freute er sich über ihr Unverständnis. Er aber hatte inzwischen das Unvorstellbare angebohrt; hinten in die Bretterverschalung des Zirkus schnitt er heimlich ein Loch und erst als es dann in den Stall statt in die Garderobe sehen ließ, versagte sein Mut und er traute sich nicht ein zweites zu machen. Jedoch spürte er nun eine Höhle im Stadtwald auf und dort saß er wirklich, dachte an die wunderschöne Blanche, die währenddessen unten in der Stadt mit gelösten Haaren, in grünem Samt auf ihrem Schimmel für den Abend ihre Sprünge probte, und hielt finster ein Rehkrickel in der Tasche bereit für alles, was kommen konnte.

      Die nächste Erinnerung jedoch war schon aus einem Restaurant in einer mittelgroßen Stadt, das Kasino hieß. Es gehörte zum Variété, hatte kleine Räume, die in weiß und gold gehalten waren, mit roten Teppichen. Habitués, Gewohnte, speisten dort zu Abend, still, freundlich, bald fortgehend. Aber daß sie bis zuletzt ruhig und ritterlich blieben und noch an der Schwelle Zeit zu einem liebenswürdigen Lächeln für ihre Begleiterin fanden, war für ihn das, was ihn allwöchentlich in dieses kleine Kasino führte, wo er sein ganzes Taschengeld für ein gut aussehendes Souper ausgab, das er allein verzehrte. Wie macht man das? Ich möchte dich: Sängerin, Tänzerin, Reifenspringerin … Du weißt schon wie und wozu. Aber höre, ich will dir nur ja keine Liebeserklärung machen, ich will mir gar nichts vergeben; ich weiß ja, wie ihr seid; haben will ich dich,.. mit der geringsten Indirektheit, denn du bist wunderschön, dunkel … Aber glaub nur nicht, daß ich nicht weiß, wie du zu haben bist: man zahlt ein Souper, verspricht einen Schmuck und sagt: allons; – allons sagt man und du weißt schon. – Und nur so wird deine Schönheit für einen überlegen Genießenden zu dem herrlichen Abgrund, der sie ist. Aber wie kann man liebenswürdig lächeln, ohne plötzlich vor Verliebtheit zu weihen und dich zu bitten, daß du trotz allem nur ja gut …