Robert Musil

Gesammelte Werke


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gegen das Gute: wir haben uns die Vorstellung geschaffen, daß der Himmel fleischlos, alkoholfrei, für Nichtraucher und unendlich weit von uns entfernt sei. Wir fühlen uns erst, wenn wir uns recht schlecht aufführen, einigermaßen sicher, daß wir uns nicht geziert betragen. Wir leiden unter der Unbegreiflichkeit, daß wir irgendwann das, was wir nicht tun mögen, das Gute genannt haben, und halten uns nicht für berufen, es weiter darin zu bringen, als seither unbedingt nötig ist. Woher es kommt, daß wir uns sicherer fühlen, wenn wir uns nicht zu hoch erheben, ist gewiß sehr schwer zu erklären; sagen wir doch sogar, daß die Lügen kurze Beine haben, um zu rechtfertigen, daß wir sie lieben!

      Jedenfalls ist es beim Sprechen und Schreiben so, daß wir eine starke Abneigung gegen seine Tugendlehre, die Grammatik, fühlen. Dabei ist aber noch besonders zu erwähnen, daß wir gar nicht wissen, wie wir den rechten Widerstand gegen diesen Fehler leisten könnten, noch, warum wir ihn leisten sollen. Wir gebrauchen unsere Sprache so wie der Tausendfuß seine Füße, über die er nicht einen Augenblick nachdenken darf, wenn ihn nicht auf der Stelle der Schlag rühren soll. Der Sinn der Worte bleibt uns glücklicherweise verschlossen. Wir sprechen alle so wie der Versammlungsredner, der sagt: «Aber wenn wir diese Basis betrachten», oder: «Wir lassen uns den Horizont, auf dem wir stehen, nicht zerreißen!» Man versteht ihn recht gut, auch wenn er nicht weiß, was er redet. Wie er das macht, das ist seine Sache, und davon haben wahrscheinlich wieder die Grammatiker keine Ahnung. Offenbar besteht das Grundphänomen der Sprache darin, daß einer eilig auf etwas aufmerksam machen will, das er weiß oder fühlt, wofür ihm nun das komplizierteste System von Tasten und Hebeln zur Verfügung steht, das je einen Menschen unsicher gemacht hat; es ist ähnlich rätselhaft wie ein Klavier, aber wenn einer mit der Faust in ein Klavier haut, so wissen wir sofort ungefähr, was er meint, auch ohne nachsehen zu müssen, wohin er gezielt hat.

      Man darf also nicht glauben, daß etwas richtig gesagt werden müsse, damit es richtig verstanden werden könne; und darauf beruht das Geheimnis der lebendigen Sprache. Fürchterlich ist es, wenn man zum Gegenteil gezwungen wird, und nur schlechte Schriftsteller nötigen den Leser, auf jedes ihrer Worte acht zu haben. Er bemerkt dann sofort, daß er in achtzig von hundert Fällen nicht die geringste Ahnung hat, warum gerade diese Worte dastehen, und findet eine solche Ausdrucksweise mit Recht unklar. Besonders lästig sind dabei die kleinen Worte und die Wahl ihres Platzes. Ein guter Schriftsteller aber wird es immer verstehn, so zu schreiben, daß man alle seine Worte verstellen könnte, und auch durch ähnliche ersetzen, ohne daß sich der Sinn ändert: das erleichtert die Aufmerksamkeit und entspricht dem modernen Prinzip, Ersatzteile herzustellen, die überall erhältlich sein müssen.

      Kunst und Moral des Crawlens

[Juni 1932]

      Lieber Ferdi, Sie scheinen ja trotz Ihrer neunzehn Jahre noch ein Anfänger zu sein, weil Sie mich fragen, ob Crawlen eine Kunst oder eine Wissenschaft sei. Ich habe schon von vierzehnjährigen Knaben die entschiedene Erklärung empfangen, daß es eine Wissenschaft ist, und Siebzehnjährige zeigten sich fest überzeugt, eine Kunst auszuüben. Zweifeln ist nicht zeitgemäß. Aber ich will Ihre Frage, so gut ich es vermag, beantworten und so gescheit, daß Sie es mit den berühmtesten Hydrocephalen sollen aufnehmen können:

      Das Paradoxon des Crawlens heißt: a<c und b<d, und trotzdem a + b>c + d. (Falls Sie sich gegen das Erlernen der Mathematik ablehnend verhalten haben sollten: < bedeutet kleiner als, > größer als.) In Worten: Du schwimmst mit den Beinen allein oder mit den Armen allein in der Art der Crawlbewegung schlechter als in der gewöhnlichen, trotzdem mit Armen und Beinen zusammen viel schneller.

      Woher kommt das? Welche physikalischen oder physiologischen Vorgänge erzeugen diesen Bewegungswiderspruch? Ich gestehe Ihnen meine ursprüngliche Hoffnung, in der Beantwortung dieser Zwischenfrage die Grundlage für unser Streben nach der Entscheidung Kunst oder Wissenschaft zu finden. Man kann ja in der «Geschichte» des Schwimmens auf den ersten Blick eine steigende Stufenleiter der Schwierigkeit wahrnehmen, und zwar so, daß in den aufeinander folgenden Schwimmarten nicht etwa das Erlernen, wohl aber merkwürdigerweise das Begreifen des Erlernten schwerer wird. Das gewöhnliche Brustschwimmen ist in seinem Grundtypus ein ganz verständiges Sich-einen-Weg-durchs-Wasser-Bahnen, nicht viel anders, als man es durch jede andre Menge täte. Das Spanische Schwimmen, das darauf folgte, war ihm in der Beinarbeit ähnlich, und auch der raumgreifende, schnellere, trotzdem die Atmung schonendere, Durchzug der Arme kam dem Verständnis entgegen. (Sie wissen? Diese Armbewegung war der des Crawlens ähnlich, nur griff sie weiter vor, kam flacher ans Wasser und wurde nicht nur gegen den Körper, sondern auch noch an ihm vorbei durchgezogen.) Aber schon der gerissene Beinschluß bei beiden Arten, gar die Schere, die man manchmal sah (Beinschluß mit leichter Kreuzung), das Walzen vieler guter «Spanier», das Strecken oder weiche Durchhängen des Körpers waren in ihrer Wirkung hydrodynamische Geheimnisse. Vollends nun beim Crawlen kommt man mit der einfachen Mechanik der schiefen Ebene nicht mehr aus. Da müßte man wohl Stromlinien, Wirbel, Druckgefälle, Gleitwiderstände und andere Plagen der Theorie der Bewegung eines festen Körpers in Flüssigkeiten aus dem Schiffs-, Turbinen-und Flugzeugbau heranziehn, um erst am Ende auf den naheliegenden Gedanken zu kommen, daß der Körper, mit dem man es zu tun habe, gar kein fester, sondern ein elastischer und in sich veränderlich bewegter sei. Immerhin sollte es auf diese Weise möglich sein, wenigstens im Rohen ein Bild der physikalischen Verhältnisse zu gewinnen, die den Auf-und Vortrieb bei den verschiedenen Techniken des Schwimmens zustandebringen, und schon das würde genügen, um der Ausbildung dieses Sports gewisse Richtungen zu weisen, abgesehen davon, daß eine solche Untersuchung an sich nicht ganz ohne Reiz wäre.

      Nicht weniger wäre auch von einer biomechanischen, auf die Möglichkeiten des Körperbaus gegründeten, Betrachtungsweise zu erwarten, die das Schwimmen des Menschen mit dem der Tiere vergleicht. Wir sind im Wasser Vierfüßler. Die natürlichen Versuche eines «Nichtschwimmers», sich über Wasser zu halten, haben bekanntlich große Ähnlichkeit mit dem Schwimmen des Hundes, noch größere mit dem des Affen, soweit ich mich nach ein paar Beobachtungen an dieses erinnern kann. Geht man davon aus, so erscheint das Crawlen als eine Rückkehr zur Natur ein abgefeimtes Nichtschwimmen, das allerdings auch mit allerhand Bewegungselementen versetzt ist, die dem Körper von Robben, Seehunden und südlicheren Meisterschwimmern abgeguckt sind; und dazwischen, aber abseits von dieser geraden Entwicklungslinie, wäre dann wohl erst das Brustschwimmen einzuordnen, als der ursprüngliche Versuch, besser zu schwimmen, als es einem von Natur gegeben ist, der sich scheinbar nach irgendwelchen rudernden Wassertieren, Käfern, Kröten oder ähnlichen, gerichtet hat.

      Ich glaube, daß solche Untersuchungen recht fesselnd sein könnten, und auch in dem Wunsch, Ihnen ein Gefallen zu erweisen, da Sie doch nun einmal Ihren Sport «ernst» nehmen wollen, habe ich mich bemüht, physikalische und biologische Literatur darüber aufzutreiben. Ich will nicht behaupten, daß es keine solche gibt, da ich nicht genug Zeit hatte, alle Möglichkeiten zu erschöpfen, aber das eine kann ich Ihnen melden, daß in der größten technischen Bibliothek Deutschlands bei Benutzung der Kataloge und aller üblichen bibliographischen Hilfsmittel keine einzige solche Behandlung unseres Gegenstands nachzuweisen war.

      Demnach scheint Crawlen also doch noch keine Wissenschaft zu sein.

      Das ist sehr bitter, denn dadurch rückt es in den Bereich der Kunst und der Persönlichkeit. Wahrhaftig haben Sie mich ja auch gleich gefragt, was es bedeute, daß das Crawlen nach einem Stil geübt werde, genau so wie die Kunst, und worauf ein solches Phänomen wie Stil überhaupt hinauskomme. Sie werden natürlich selbst beobachtet haben, daß alle Arten des Crawlens, wie es nicht anders sein kann, gewisse Eigentümlichkeiten gemeinsam haben, so die im allgemeinen flache Lage des Körpers, die weiche Streckung des Beins, die gestielt-blattartige und fliegenklappenähnliche Mitbewegung des Fußes; auseinander gehen dagegen die Meinungen zum Beispiel über die Zahl und Skandierung der Fußschläge im Verhältnis zum Armtempo, über den Weg des Arms, über den Grad der Körperstreckung und vor allem über das Zusammenwirken dieser Einzelheiten. Muß man durch irgendwelche Umstände mehrmals den Lehrer wechseln, so gerät man unweigerlich in die Gefahr des Ertrinkens. So zeigt sich der Stil. Ungefähr ebenso klar wird er sich Ihnen zeigen, wenn Sie Gelegenheit haben, ihn an berühmten Schwimmern zu beobachten: Jeder macht jedes in seiner Weise. Betrachten Sie die Figuren, so finden Sie alle Arten von ihnen auch innerhalb der gleichen «Strecke»,