Robert Musil

Gesammelte Werke


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gespannt ist. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtigt. Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentümliche Schweben zwischen zuviel und zuwenig Fleiß kennen, die beide schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist. Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer überaus zugänglichen und reizvollen Weise zusammen, wozu noch die Anregungen kommen, die das Kampfspiel gewährt, das Überlisten, die Schwankungen zwischen den Gegnern, die Einschüchterung und die Siegesgewißheit, und so vieles andere, was man etwas geschwollen als Taktik und Strategie des Sports bezeichnet.

      Wie weitläufig wäre allein schon (obwohl sie gegeben werden kann) die Erklärung des Wunders, daß man auf die Entfernung des Anlaufs vorausbestimmen kann, mit welchem Fuß man abspringen wird! Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles, aber dazu möchte ich nun auch gerne wissen, wie viele Sportleute sich heute überhaupt herbeilassen würden, nach solchen Dingen zu fragen oder auf solche Fragen zu hören?! Sie haben es gar nicht nötig! Ich habe mir schon erlaubt, vom Triumph des Sports über die Natur zu erzählen, und entnehme nun noch seinen Triumph über die Kunst dem gleichen Vorfall, indem ich berichte, was weiter geschehen wird, wenn der letzte Baum des Wiener Praters Mitglied eines Sportvereins sein wird. Denn hier liegt bereits ein bemerkenswerter Vorschlag der Künstlerverbände vor, diese bloß vegetierenden Mitglieder zu Boden zu schlagen und, einstweilen wenigstens im Stadion, durch einen «Denkmalshain» zu ersetzen. «Künstlerische Durchorganisierung» nennt man das und begründet es mit den Worten: «Die Kunst soll diesmal nicht Ausstellungskunst sein, sondern im Dienste einer überwältigenden Idee stehn, nämlich der der Wiedergeburt des Leibes.» Nun, darüber ließe sich allerlei sagen. Die Not der bildenden Kunst ist groß, und das mag im Augenblick vieles rechtfertigen. Aber auch das Unvermögen, einen Akt zu bilden, den wir als unseren Ausdruck ansehen könnten, ist groß, und seit einem Menschenalter hat man darum die menschliche Plastik bald durch Walzen gezogen, bald unter Dampfhämmer gesetzt, aber ohne Erfolg, und wenn nun die Kunst, die uns einen Körper geben soll, nicht Schöneres und Tieferes findet als die Körper von athletischen Spezialisten oder überhaupt die von Athleten, so ist das zweifellos ein großer Triumph des Sports über den Geist.

      Auf solche Ideen wäre ich bei meinen naiven körperlichen Anstrengungen seinerzeit gewiß niemals verfallen. Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nächsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwünscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefährlich! Aber wozu noch länger vom Geist des Sportmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausübung, sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war so lange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten. Jahrhundertelang haben sich Leute als Schnell-und Dauerläufer, Springer und Reiter sehen lassen, aber sie sind «Gaukler» geblieben, weil ihre Zuschauerschaft nicht sportlich «durchorganisiert» gewesen ist. Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Fußball und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausübenden ersparen. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehörden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen. Sofern man nicht an der Sache verdient, gibt man ihr eben nach. Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt. Man weiß eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes Gut nennt.

      Wie ungerecht nur, daß man in diese Kultur noch nicht die Jongleure, überhaupt die Varieté- und Zirkuskünstler einbezogen hat, und vor allem: welches moralische Problem des kommenden Sportzeitalters liegt in der Vermählung von Erwerbssinn und körperlicher Geschicklichkeit bei den Taschendieben!

      Blech reden

[11. Oktober 1931]

      «Blech reden» ist ein mit Genie erfundenes Wort. Es enthält: das Glänzende, das nicht Gold ist; den durchdringend unangenehmen Klang; das Lebhafte; das Auswalzbare. Würde man «Blech schreiben» sagen, wie viele wichtige zeitgenössische Erscheinungen ließen sich damit erklären! Aber der Gebrauch dieses Wortes ist in Abnahme begriffen. Irgendwann wird es wie «Aar» und «hehr» sein. Spätere Schriftstellergenerationen werden dann in Festreden sagen: «Die Väter haben Blech geschrieben», und ein ungläubiger Schauer der Ehrfurcht wird die Zuhörer ergreifen.

      Warum kann die Sprache solche vollendeten Bildungen nicht festhalten? Wie man für alles Häßliche ein schmeichelhaftes Wort hat, nennt man dieses Sterben das Leben der Sprache. Also warum lebt die Sprache? Sie ist dabei doppelt so umständlich und lang geworden, als sie es vor einigen Jahrhunderten war, ohne dementsprechend an Ausdrucksfähigkeit zu gewinnen. Wir lassen die Artikel weg, wir lassen Zeitworte weg, wir lassen die Bedeutung weg; wir treten ihr vorne auf den Kopf und hinten auf den Schwanz, aber es nutzt nichts mehr, sie wird immer länger. Wir fühlen deutlich, daß sie immer häßlicher wird, ohne es ändern zu können. Es gibt da etwas, das wir beklagen, aber offenbar trotzdem unausgesetzt tun. Wenn irgend etwas ein Hundeleben heißen darf, so ist es das der Sprache!

      Ich weiß nicht viel davon, aber man hat sich mit dieser Frage ernst und wissenschaftlich beschäftigt, und das, was dabei herauskommt, dürfte Entwicklungsgesetze heißen. Wo immer man sonst Gesetze nicht einhält, wird man eingesperrt; wenn man ein bestehendes Gesetz der Sprache verletzt, scheint einem dagegen die Ehre zu widerfahren, daß man ein Entwicklungsgesetz begründet: das ist der Unterschied, und er ist nicht unerheblich. Ich habe unlängst eine Hundeausstellung besucht, und dabei sind mir einige ihrer Teilnehmer aufgefallen, die verblüffend genau der Vorstellung entsprachen, die ich mir zeitlebens von dem Begriff «Köter» gemacht habe. In Österreich nennt man so etwas, das vorn wie ein Windhund aussieht und hinten wie ein Dackel, rechts wie ein Bulldogg und links wie ein Terrier, eine «Promenadenmischung». Ich habe mich erkundigt; es war wirklich eine Promenadenmischung; aber mit Stolz erzählte man mir, daß man sie vor einigen Hundegenerationen fixiert habe, und seither heißt sie, wenn ich nicht irre, Österreichischer Blendling, hat viele Preise bekommen und sieht aus wie ein umsichtig genormtes Chaos. Von solcher Rasse ist entwicklungsgesetzlich auch die menschliche, und namentlich die deutsche Sprache. Die Sprache der Kanzleien, der Zeitungen, der Studenten, der Gauner, der benachbarten Völker, der katholischen Kirche und des Römischen Imperiums haben im Guten wie im Schlechten ihre Spuren darin hinterlassen, und wenn man schon gegen das Gute nichts einwenden darf, warum tut man es dann nicht wenigstens gegen das Böse? Die berühmten Entwicklungsgesetze sagen uns leider, daß man es gegen das Böse am wenigsten tut. Aber auch die Sprachgewohnheiten sind Gewohnheiten; und warum nimmt man also mit besonderer Vorliebe schlechte Gewohnheiten an? Da mündet die Sprache, die dem Menschen aus dem Mund kommt, wieder in ihn und fährt von ihrer Ausgangsstellung einwärts bis an Herz und Nieren.

      Denn die Vorliebe für schlechte Gewohnheiten ist ein bestimmter Grad des Vertrauens in die Aufgaben der Menschheit. Man nimmt sie an, weil der, der sie hat, das große Wort führt. Weil er imponiert. Weil sie Mode sind. Weil man sie täglich sieht und hört. Weil sie bequem