auch beobachtet – sieht man solche Frauen mit ihren kleinen Jungen und wenn es Not hat und es eben sein muß, halten sie ihrem Bübchen das Zipfelchen über die Gosse und sehen einen an, wenn man vorübergeht, mit einem so guten sachlichen Gesicht, – so meine ich» «Eine Kinderfrau, mein Herr?» fragte Toronto gekränkt. «Aber nein, eine wundervolle. Empfinden sie das denn nicht?» Toronto wußte nicht, ob er beleidigt sein sollte; die Worte ärgerten ihn, aber der Ton war der ehrlicher Bewunderung. Und es erging ihm seltsam; es schien ihm mit einemmal gesagt worden zu sein, was er an Frau Medinger besaß. In seine erschlaffende Liebe strömte in diesem Augenblick etwas Frisches, Unbekanntes ein, wie sich die Empfindung einer Umarmung einmal gesteigert hatte, als er sie zufällig in einem Spiegel sah. Und auch der Fremde schien ergriffen zu sein. Seine Stimme war verschleiert zärtlich bewegt. Es war eine Berührung zwischen diesen beiden Menschen. Unmittelbar wie zwischen Knaben bei jung neugierigen Geständnissen. Toronto riß sich auf. «Ach» sagte er lärmend «wirklich, sie sollten ein wenig mehr Gesellschaft suchen.» «Ich werde mich ja freuen,» sagte Grauauge, «wenn sie mir manchmal das Vergnügen der ihren schenken.»
Es stand trotzdem schlecht zwischen Toronto und Frau Medinger. Der seltsame Eindruck, den T empfangen hatte, wirkte nicht lange. Sie sahen sich in der nächsten Zeit recht selten. Ihr Verhältnis hatte seine natürliche Dauer überlebt, seit ihren Körpern u. Gewohnheiten die Neuheit fehlte, die bei den ersten Entdeckungen wie ein Schlag aufs Auge alles in Feuer hüllt(e). Nach langen Pausen des Ausbleibens und unausgesprochener Feindseligkeit stürzten sie sich aus schlechtem Gewissen in zu grobe Zärtlichkeiten, die im ganzen Leib ein flaues Gefühl hinterließen. Um den endlosen verlegenen Gesprächen über die Zeit, wo sie einander wirklich geliebt hatten, zu entgehen, sprachen sie oft über Grauauge und teilten einander ihre Beobachtungen mit. So wurde dieser ihnen beiden wenig sympathische Mensch ohne daß sie es wollten zum Mittelpunkt ihrer Beziehung. «Was ist das für ein Mann!» sagte Frau Medinger, «Keinen Beruf, nie heiter, nie frisch …!» «Es muß ganz angenehm sein, keinen Beruf zu haben.» sagte Toronto. «Er ist verliebt in Dich», meinte Toronto gönnerhaft. «Der würde mir fehlen,» antwortete Frau Medinger «er schnüffelt immer nur herum.» «Was er nur mit den Klagen will, daß er ein abgeworfener, nutzloser, demütiger Mensch sei?» meinte Toronto manchmal «er sagt mir geradezu, daß er mich bewundert. Er muß ein Schicksal gehabt haben.» «Gott, er ist bloß so kläglich,» entschied Frau Medinger. Sie sagten einander nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit wäre gewesen, daß Frau Medinger in Grauaugens Nähe jetzt von einer eigentümlichen Unruhe belästigt wurde (Pferd – geheimnisvoll mit besorgt. [?] Reiterlast). Er hatte bemerkt, daß sie wenig Phantasie besaß; er hatte schon öfters durchblicken lassen, daß es mit Torontos Treue nicht recht bestellt sei. «Was hat nur Eugenio,» fragte sie oft, «er treibt sich herum?» Und jedesmal antwortete Grauauge: «Es gibt im letzten Quartal viel in einer Bank zu tun» und nahm, was er sagte, mit einem Achselzucken zurück. – Toronto hatte ihn gebeten, seiner Geliebten manchmal Gesellschaft zu leisten, sie waren Freunde geworden. Er ist ein guter Mensch, sagte G., er hat mich gebeten, ihnen Gesellschaft zu leisten; er denkt an sie, auch wenn er ein wenig leichtsinnig ist Aber sie fühlte, wenn der Junge ging, kam das graue Weibergefängnis der Jahre und daß sie durch ein neues Verhältnis noch einmal daraus entrinnen könnte, daran dachte sie nicht. Sie hätte sich auch geschämt. Dieses eine gehörte zu ihrem Unglück, es war Rache, Ehrlichkeit, nicht ohne inneren Kampf selbst genommene Genugtuung für versagtes Glück; ein zweites wäre in ihren Augen Unmoral gewesen. Grauauge redete ihr oft zu «Heiraten sie ihn.» «Aber was denken sie,» antwortete sie aufrichtig. «Heiraten? er ist so jung.» «Und wenn sie ihn nicht einmal heiraten möchten», bohrte Grauauge weiter «was wollen sie denn?! Bedenken Sie nie, daß das eigentlich Schande ist?» «Schande,» braust Fr. M. auf «es ist nicht sündhaft, wenn eine Frau liebt, die nie etwas vom Leben gehabt hat!» «Nicht so,» lenkte dann Grauauge ein «ich meinte bloß, sie denken doch manchmal über ihr Leben nach, wie sie als Mädchen bei den Eltern waren u. später alles wurde und da muß das doch einen Sinn ergeben, eine Linie, ein Ziel, nicht?» Er legte nicht viel Bedeutung in das was er sprach, es erfüllte ihn bloß mit einem trüb [?] Wohlbehagen (Wohlsein), diese lächerliche kleine Tragödie immer wieder in Bewegung zu halten.
In das einfache Zuendegehn, das Frau Medinger, wenn es einmal hätte sein müssen, wohl begriffen und ertragen hätte, kam durch ihn etwas Beklemmendes, Unübersehbares, als ob man es noch nicht für genug halten dürfte, wenn man unglücklich war. Er nahm ihr die ruhige Gedankenlosigkeit, die das Bewußtsein zu leiden stillend am Grunde trägt. Und sie rächte sich dafür in ihrer Weise an Grauauge. Sie behandelte ihn verächtlich; sie saßen gewöhnlich in dem Zimmer, wo er sie zuerst gesehen hatte, manchmal auch in dem kleinen Kabinet nebenan, wo ihr Schreibtisch stand und die Bilder ihrer Eltern, Torontos und sogar noch eine Photographie ihres Mannes an der Wand hingen und häufig ließ sie Grauauge allein sitzen, ging aus und ein, als wäre er nicht da, traf in der Küche Anordnungen, zählte im Nebenzimmer die Wäsche oder suchte mit einem Packen Flicken in der Hand Nadel und Scheere. Ohne daß sie es wollte, strömte ihre Feindseligkeit eine Vertrautheit aus, wie ein Zwist in der Familie. Grauauge sah in diesen Wochen die solide etwas derbe Wäsche, die sie trug, er kannte ihre Kleider und ihre Schuhe und die sanfte breite Mulde, die nach ihr auf dem Kanapee zurückblieb. Er kannte ihre Bekannten und das wenige an Gedanken, das sie in Worten fertig zum täglichen Gebrauch hatte. Er war von ihr erfüllt und ein Duft ihrer sinnlichen Alltäglichkeit hing überall in ihm wie in den Portieren eines lang bewohnten Zimmers. Und daß er sie nicht zu unterhalten vermochte, daß jedes Wort von ihm für sie langweilig war und verächtlich, gab ihm ein Gefühl: Er vertrieb ihr die Zeit; statt der Zeit saß er da, die Minuten konnten nicht mehr wie in die leere Fläche eines Wasserbeckens tropfen. Er liebte sie.
Er saß oft mit Toronto stundenlang hinter den unverhangenen Scheiben irgend eines Kaffeehauses und sie paßten auf die Frauen, die – im Nebel für einen Augenblick angeleuchtet – an dem Glas wie hinter den Scheiben eines Aquariums vorbeiglitten. Es war eine stumpfe, verlaufene Sinnlichkeit. Toronto nahm sie alle schon in der bloßen Möglichkeit für sich und Grauauge war das angenehm zu fühlen. Die heftige Männlichkeit des jungen Menschen schnitt schon seine Wünsche vom Leben ab. Es ging ihm mit Toronto wie bei Frau Medinger. Und plötzlich erschien ihm während irgend einer Sekunde alles in Ordnung. Willenskraft glühte in ihm. Die Leute um ihn schmolzen ein. Er hatte nichts mit ihnen gemeinsam. Ihm, der die Schere war, die hindurchgehen sollte, fehlten die Häkchen und Kräuselungen, mit denen sonst die Natur die Menschen untereinander zu einem Gewebe verfilzt. Er fühlte gehoben, daß er nichts diesen Leuten Faßbares besaß, das sie hindern konnte, ihn zu verachten. Er sagte zuweilen plötzlich irgendetwas wie: «wo das Wissen aufhört, fängt heute die Oper an» oder «das Gefühl ist durch die Angst vor dem Denken verdorben worden …» und ein unverständlicher Druck rüttelte von innen an diesen nur ihm verständlichen Sätzen.
Toronto sah ihn dann fragend verständnislos an, aber plötzlich erinnert u. eine kleine alltägliche Kummerfalte saß zwischen seinen Augen. «Ach» seufzte er, «ich bin ein schrecklich verurteilenswerter Mensch. Sie ist so gut; ich bin für sie Italien, Rom, wissen sie, der Süden. Und sie hat so viel gelitten. Sie verstehen das, Grauauge? Eine Frau wie sie und ein Mann ohne Phantasie, ohne Ideale, ohne Feuer! Aber wissen sie, wir Italiener haben solch ein unbezähmbares Temperament; ich bin schlecht, ich bin zu jung, ich habe noch keinen Charakter …»
Die Wirklichkeit stürzte über Grauauge zusammen. Er starrte bestürzt Toronto an; ihre Augen liefen eine Weile wieder miteinander hinter den Frauen her. Sie gehörten alle zu Toronto, sein Witz aber war für sie witzlos, seine Vernunft gering, seine Eigenschaften sinnlos, – er war aus der Gemeinschaft der Geistigen ausgeschlossen und in der der gewöhnlichen untauglich. Er dachte ängstlich an Frau Medinger; er konnte sie sich bis in die kleinsten durch den gleichmütig täglichen Gebrauch erzeugten Falten hinein vorstellen, aber er war nicht imstande sich als ihren Geliebten zu denken, wenn Toronto ging. Und plötzlich brach er zusammen. Ein kindliches Handfaßgefühl für Toronto beschlich ihn, er empfand fast Freundschaft für ihn. Er betäubte ihn strahlend mit seiner Nähe wie mit einer gemeinen Halbtrunkenheit. Seine eigene Sinnlichkeit schlüpfte ihm in die Tasche um mitgetragen zu werden. Er fühlte seine Unterlegenheit, eine bittere gemeine Trunkenheit und einen leisen, schaudernden Haß wie vor frischem rohen Fleisch
Das